Paul Back

Paul Back
Wien
Österreich
Datum des Interviews: Juli 2002 Name des Interviewers: Tanja Eckstein

Paul Back ist gerade 76 Jahre alt geworden und ich bewundere seine Begeisterung am Leben, seine Neugier auf alles, was ihn interessiert und das ist ein wirklich breites Spektrum.

Er liebt die Musik verschiedenster Völker, Länder und Kontinente, ist an Politik und Geschichte genauso interessiert wie an Kunst und Architektur, bewundert Altes und Modernes,

bereist mit echter Leidenschaft Großstädte ebenso wie ländliche Gebiete, liebt es im Kaffeehaus zu sitzen und zu plaudern, Filme anzusehen und Menschen kennen zu lernen.

Manchmal wird einem unheimlich, wenn er erzählt, welche Entfernungen er an einem einzigen Tag zurücklegt: 
zweimal Floridsdorf [21. Bezirk], wo er mit seiner Frau Jutta lebt, in die Innenstadt und zurück; manch wesentlich Jüngerer würde davor zurückschrecken.

Paul Back arbeitet einmal in der Woche für einige Stunden im Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes und es war ein Vergnügen, ihn zu interviewen.

  • Meine Familiengeschichte

Meine Familie mütterlicherseits stammt aus Zalozce [heute: Ukraine], einem kleinen Ort in Galizien, der sich am Rande der Habsburger Monarchie in der Nähe der bekannteren Städte Kolomea und Brody befindet. Über meine Urgroßeltern weiß ich so gut wie gar nichts, aber die Eltern meiner Großmutter Pessie Feder, Tochter des Leib und der Dobrisch Mühlgrom, die am 16. September 1872 geboren wurde, dürften auch aus dem Ort Zalozce gewesen sein, in dem damals sicherlich viele Juden lebten.

Möglicherweise hätte ich mehr in Erfahrung bringen können, wenn ich mich rechzeitig dafür interessiert hätte. Aber nun ist es ein bisschen spät. Ich weiß nur noch etwas über meine Großeltern.

Mein Großvater hieß Salomon Feder. Er starb 1918 in Wien an der Spanischen Grippe und ich habe ihn nie kennen gelernt. Aber es existiert ein Familienfoto aus Zalozce und ich weiß einiges aus Erzählungen über ihn. Er war kein streng religiöser, sondern eher ein traditioneller Mensch, trug immer eine Kipa [religiöse Kopfbedeckung], hatte aber keine Pejes [Schläfenlocken].

Aus Erzählungen der Familie weiß ich, dass er mehrere Sprachen sprach und, obwohl er ein Waisenkind war, oder auch vielleicht gerade deshalb, in jüngeren Jahren viel gereist war. Er war zum Beispiel auch im Heiligen Land Palästina.

Der erlernte Beruf meines Großvaters war Uhrmacher, aber meine Großeltern besaßen ein Büchergeschäft, in dem man auch Schulbedarf und Schreibwaren kaufen konnte. In Zalozce war er ein sehr angesehener Mann. Er war Abgeordneter des Dorfes in der Kreisstadt und leitete die Krankenkassa. Der Pfarrer und der Lehrer waren oft Gäste der Großeltern, und sie spielten Karten miteinander.

Meine Großmutter hat fünfzehn Kinder geboren, davon blieben zehn am Leben. Woran die fünf Kinder gestorben sind, weiß ich nicht; wahrscheinlich an den damaligen hygienischen Verhältnissen. Alle Kinder wurden traditionell erzogen. Ich glaube, sie führten kein besonders armseliges Leben, aber ich denke, mit so vielen Kindern konnte man sicher nicht reich werden.

Meine Tante Lea, die Älteste der Geschwister, wurde 1896 geboren. Interessanterweise scheint auf dem Geburtsschein meiner Tante Lea auch der Name der Hebamme auf, sie hieß Sabine Feder. Mir wurde versichert, dass keinerlei verwandtschaftliche Beziehungen zu der Hebamme bestanden, was ich aber anzweifle. In Zalozce wurden geboren: Meine Tanten Regina und Rosa, mein Onkel Izchak, meine Mutter Maria - jüdisch Miriam -, meine Onkel Simon, Hermann und Leon.

In Galizien lebten nicht nur Juden und Polen, es gab auch viele Ukrainer, die man damals Ruthenen nannte, es war ein richtiges Völkergemisch. Meine Mutter konnte ein bisschen polnisch sprechen und kannte auch ein paar ruthenische Lieder.

Sie und ihre Geschwister sind auf eine allgemeine Schule gegangen. Zuhause sprach man eher deutsch, es war aber sicherlich ein deutsch mit jiddischen Ausdrücken. Die deutsche Sprache und Kultur stand aber eindeutig im Vordergrund. Es ist bezeichnend für viele Juden, die in Polen oder Galizien nicht im orthodoxen Milieu verhaftet waren, dass sie eher der deutschen beziehungsweise der österreichischen Kultur nahe standen.

Infolgedessen hatte meine Familie dann auch keine größeren Schwierigkeiten, als sie später nach Wien kam. Bei einigen meiner Onkel und Tanten konnte man hören, dass sie nicht in Wien geboren waren, aber bei den Jüngeren, wie bei meiner Mutter, glaube ich kaum, dass man da etwas heraus hören konnte.

Als 1914 der 1.Weltkrieg ausbrach, veränderte sich das Leben der Juden in dieser Region. Der Krieg war verheerend, persönlich und für die ganze Gegend. Der Kriegsschauplatz wechselte einige Male. Einmal waren die russischen Truppen im Vormarsch, dann waren die Kosaken da, und ein anderes Mal das österreichisch-ungarische Heer.

Es ging hin und her, bis meine Familie 1916 die Flucht antrat. Mein Großvater Salomon hatte in Wien eine Schwester, sie hieß Mina Blaustein. Sie wohnte in der Oberen Donaustrasse Nummer 9, hatte zwei Kinder, Irma und Eduard. An den Ehemann der Mina kann ich mich überhaupt nicht erinnern, aber ich weiß, dass Irma und Eduard, nach dem Einmarsch der Deutschen in Österreich, nach Südamerika geflohen sind.

Meine Großeltern und ihre acht Kinder verließen 1916 ihre Heimat und kamen 1917 in Wien an. Während der Flucht, die ein Jahr dauerte, wurde 1916 meine Tante Klara geboren. Meine Tante Berta kam 1918 bereits in Wien auf die Welt. Es war sehr schwer in Wien mit den vielen Kindern, und eigentlich waren sie mittellos.

Die Wohnung meiner Großeltern war in einem Zinshaus im 20. Bezirk, in der Perinetgasse 2. Die Perinetgasse ist eine sehr kurze Gasse, zwei Häuser stehen auf der rechten Seite und zwei Häuser auf der linken Seite der Gasse, die zum Gaußplatz und zum Augarten führt. Das war die erste Unterkunft meiner Großmutter und die letzte. Allerdings lebte sie ihre allerletzte Zeit in Wien, vor ihrer Deportation, im 2. Bezirk, in der Hollandstrasse 12.

Das Haus in der Perinetgasse wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts erbaut, also war es vielleicht zwanzig Jahre alt, als meine Großeltern mit ihren neun Kindern dort einzogen. Viele Wohnungen waren damals Einzimmerwohnungen, auch diese Wohnung war eine Zimmer-Küche-Kabinett- Wohnung ohne sanitäre Einrichtungen; Wasser und Toilette befanden sich am Gang. Möglicherweise wurden sie und ihre Kinder von karitativen Einrichtungen unterstützt. Es gab Organisationen in Wien, die über das Schlimmste hinweghalfen.

Mein Großvater starb 1918, ein Jahr, nachdem sie in Wien angekommen waren, an der Spanischen Grippe. Er wurde eines der Opfer der Epidemie, die 1918 und 1919 weltweit ungefähr 40 Millionen Menschen tötete.

Die älteren Kinder, Lea und meine Mutter, und die, die um die Jahrhundertwende geboren worden waren, waren schon fast erwachsen und verließen bald das Haus, heirateten und gründeten eigene Familien. Sie lebten nicht weit entfernt von der Wohnung ihrer Mutter. Es blieben noch sechs Kinder zu Hause und so hat sich die Familie schlecht und recht über Wasser gehalten. Die Kinder sind, sobald sie konnten, arbeiten gegangen und haben ihre Mutter unterstützt.

Meine Großmutter bemühte sich nach dem Tod des Großvaters weiterhin einen traditionellen Haushalt zu führen. Das war nicht immer leicht, weil sich das schon durch die physischen Gegebenheiten in einer so kleinen Wohnung mit vielen Kindern schwer aufrechterhalten lässt.

Sie versuchte milchiges und fleischiges [Dies geht auf die Bestimmung zurück: 'Du sollst das Böcklein nicht in der Milch seiner Mutter zubereiten.'] auseinander zu halten, obwohl das nicht einfach war, weil man getrenntes Geschirr und Besteck braucht. Trotzdem es ihr nicht gelang, den Haushalt hundertprozentig koscher zu führen, kam aber Schweinefleisch sicher nicht ins Haus!

Den Schabbat gestaltete sie feierlich. Es wurden Kerzen auf Leuchtern entzündet, es kam immer eine Challe [jüdische Festbrot in Zopfform], ein Schabbatbrot, auf den Tisch. Es roch auch anders, ein ganz besonderer Geruch war das.

Diese kleine Wohnung wurde geschrubbt und auf Hochglanz gebracht, das wurde all die Jahre beibehalten. Einmal im Jahr, zu den hohen Feiertagen, zu Rosch Haschanah [Jüdisches Neujahr] und zu Jom Kippur [jüdische Versöhnungstag; wichtigste Feiertag der Juden] ging meine Großmutter in den Tempel in der Klucky Gasse, aber sonst nicht. Die älteren Geschwister meiner Mutter lebten auch traditionell, die jüngeren kaum noch. Meine Mutter Miriam war genau in der Mitte.

Die Jüngeren sagten nichts gegen die Religion, denn vor ihrer Mutter hatten sie großen Respekt, aber sie machten sich eben nichts mehr daraus. Zum Beispiel fasteten am Jom Kippur die älteren Geschwister mit meiner Großmutter. Die jüngeren Geschwister, die nicht mehr traditionell lebten, versammelten sich im Kabinett und aßen heimlich. Ich habe das selber gesehen, und ich weiß, dass auch die Großmutter das wusste, die Augen davor aber großzügig verschloss.

Meine Großmutter blieb nach dem Tod des Großvaters allein, obwohl sie noch nicht alt war, als er starb. Es gab ja auch keine Gelegenheiten für sie, einen neuen Partner zu finden. In einem Städtchen wäre es vielleicht anders gewesen, da hätte man sicher schon irgendeinen Schadchen, einem Heiratsvermittler, geschickt, und es hätte sich sicher auch ein Mann für meine Großmutter gefunden. Um ihre Kinder zu ernähren, hat meine Großmutter auf der Nähmaschine Gedärme für Würste genäht. Plastik gab es ja noch nicht.

Lea, die älteste Schwester meiner Mutter, oder Lona, wie sie später genannt wurde, heiratete bald einen jungen Mann, den Heinrich Seliger, der in der Kultusgemeinde arbeitete und verantwortlich für den Tempel in Währing, im 18. Bezirk, war.

Sie hatten einen Sohn, den Friedrich, Fritz genannt und wohnten in Ottakring [16. Bezirk] in einem gutbürgerlichen Haus und lebten in gutem Einvernehmen mit den anderen Hausbewohnern. Sie lebten sehr traditionell mit streng koscherem Haushalt und engen Beziehungen zu jüdischen Einrichtungen. Lona wurde von der Familie scherzhaft die Rebbezin [Frau des Rabbiners] genannt.

Der Kantor der jüdischen Gemeinde ging bei ihnen ein und aus. Die Nachbarn haben das akzeptiert, und sie haben einen sehr guten Umgang miteinander gepflegt. Fritz flüchtete 1938 nach Palästina und trat dort der britischen Armee bei.

Mein Onkel Heinrich arbeitete ab 1938 im sozialen Bereich und schickte ab Ende des Jahres 1941 Pakete an Menschen, die nach Theresienstadt deportiert worden waren. Sie überlebten die Nazijahre in Wien, mussten sich aber eine Zeit lang verstecken.

Nach dem Krieg emigrierte die Schwester meiner Mutter, die Lona, nach Israel, wo ihr Sohn Fritz lebte. Ihr Mann Heinrich blieb noch ein Jahr in Wien und folgte ihr dann nach. Lona führte ein kleines Lokal in dem Dorf Sichron Yaakow. Das war ein größeres Dorf, heute ist es eine Kleinstadt.

Nach dem Tod ihres Mannes, der sich in Israel nie zu Hause gefühlt hatte, lebte sie in Pardess Channah auf dem Grundstück entfernter Verwandter in einem kleinen Haus und hatte ein gutes Leben dort. Sie starb 1978.

Meine Tante Regina heiratete den Herrn Leser Tocker. Sie wohnten ganz in der Nähe meiner Großmutter in einer kleinen Wohnung bei der Brigittenauer Brücke. Sie hatten zwei Kinder, Friedrich, Fredi genannt, in Israel heißt er Schlomo, und Kurt, den jüngeren Sohn. Fredi ging in das jüdische Chajes- Gymnasium im 20. Bezirk, in der Staudingergasse.

Sie lebten in sehr bescheidenen Verhältnissen. Leser Tocker arbeitete mit seinen Brüdern, die ein Lederwarengeschäft mit Lederverarbeitung am Gaußplatz hatten. Er war aber nicht Teilhaber, sondern die ganzen Jahre hindurch nur ein Angestellter seiner Brüder.

Mit meiner Tante Regina und ihren Kindern war ich einige Male auf Sommerfrische in der Nähe von Klosterneuburg. Wir haben dort auf einem Bauernhof mit einem schönen Garten gewohnt. Auch Fritz, der Sohn meiner Tante Lea, war manchmal dabei. Vergangenes Jahr war ich mit Fred, der heute Schlomo heißt, dort. Das war eine schöne Erinnerung.

Tante Regina und ihre Familie flüchteten 1939 auf illegalem Weg die Donau herunter nach Palästina. Dort lebten auch sie in Sichron Yaakow. Leser fand in einer Weinkellerei Arbeit. Viele Jahre hindurch hat er in dieser Weinkellerei gearbeitet, Tante Regina hat als Köchin in einer großen Pension gearbeitet. Die Söhne leben noch in Israel, waren vor nicht all zu langer Zeit in Wien und gingen den Spuren ihrer Familie nach. Der ältere Sohn wurde kürzlich von der Stadt Wien eingeladen.

Meine Tante Rosa lernte in den 1920er Jahren einen amerikanischen Touristen kennen, er hieß Morris Vogel. Er war halb blind nach Wien gekommen, um sich behandeln zu lassen. Im Jahre 1930 oder 1931 zog sie mit ihm in die Vereinigten Staaten. Er war eigentlich zu keiner geregelten Arbeit fähig und ich weiß nicht, wovon er in den Vereinigten Staaten lebte.

Tante Rosa war sehr tatkräftig. Sie verrichtete unzählige Arbeiten, sie war auch eine sehr witzige Person, und sie verlor trotz ihres schwierigen Lebens niemals ihren Humor und ihren Mutterwitz.

Wenn es sein musste, hat sie auch gesungen, professionell, bei Hochzeiten. Es gab im Staate New York einen Ort, wo die Juden hingefahren sind auf Sommerfrische. Dort ist sie in Hotels aufgetreten, hat gesungen oder hat Witze erzählt. So schlug sie sich recht und schlecht durchs Leben. Sie hat uns nach dem Krieg oft in Israel besucht.

Ihr Sohn Norman war Zahntechniker und Musiker und hatte jahrelang eine Band. Er lebt jetzt in Miami. Ich kenne ihn nicht, er hatte zu keinem von meiner Familie Kontakt.

Onkel Izchak hatte den Beruf des Uhrmachers erlernt und hatte in Wien einen kleinen Laden in der Kaiserstrasse mit Uhren und Schmuck. Seine Frau Zilli, geborene Türkisch, und er haben im 9. Bezirk gewohnt. Sie hatten eine Tochter Ruth, die in meinem Alter ist. Im Jahre 1939 flüchteten sie nach Australien.

Zuerst lebten sie am Land und Izu arbeitete als Landarbeiter. Dann gingen sie nach Sydney und der Onkel eröffnete einen kleinen Laden mit Uhren, Schmuck und elektrischen Geräten. Als mein Onkel Simon nach Sydney kam, arbeiteten sie gemeinsam in dem Geschäft.

Ruth habe ich in Australien getroffen, aber in Wien war sie nie wieder. Sie hat einen Sohn und eine Tochter, Graham und Robyn. Robyn hat Medizin studiert und war oft auf Kongressen in Wien. Jetzt beschäftigt sie sich mit Komplementärmedizin.

Mein Onkel Simon war gelernter Elektriker und besaß in Wien ein Radio- und Elektrikgeschäft. Er hatte keine Kinder. Ihm und seiner nichtjüdischen Frau Kitty ist die Flucht nach Shanghai gelungen. Als die Japaner Shanghai bombardierten, hat er einen Splitter abbekommen. Nach Kriegsende ging er nach Australien.

Kitty und er ließen sich nach dem Krieg scheiden und sie ging nach Melbourne. Er hat noch einmal geheiratet und arbeitete dann mit Izu gemeinsam in dessen Geschäft für Schmuck und Elektrogeräte. Er ist jetzt über neunzig Jahre alt und lebt mit seiner zweiten Frau in der Nähe von Sydney in einem Häuschen. Sie haben nicht allzu viel Kontakt mit dem Rest der Familie.

Mein Onkel Hermann wurde am 20. Oktober 1906 geboren. Er war Goldschmied. Er hat in den 1930er Jahren die Toni, die am 30.März 1910 geboren war, geheiratet. Ich kann mich an die Hochzeit nicht erinnern, aber ich besitze ein Hochzeitsfoto.

An Hochzeitsfeiern innerhalb der Familie kann ich mich überhaupt nicht erinnern. Sie waren mit einem illegalen Transport 1 nach Eretz Israel auf der Donau Richtung Donaumündung unterwegs. Der Transport blieb dann aber in Jugoslawien stecken, und sie wurden ermordet.

Wir erhielten 1940 vom Onkel Hermann und der Tante Toni noch eine Postkarte, auf der sie schrieben: 'Meine Lieben! Wir haben Euren Brief erhalten und mit viel Freude gelesen. Derzeit sind wir in der glücklichen Lage Euch mitteilen zu können, dass wir bereits den ersten Tag unterwegs zu Euch sind.

Mit Gottes Hilfe und etwas Glück hoffen wir in einigen Wochen bei Euch zu sein. Wenn uns noch der Herrgott helfen würde, dass unsere Angehörigen die Hölle verlassen könnten, so würden wir restlos glücklich sein. Was macht Pauli und warum hat der tepperte Maxl [Anm: Paul Back´s Stiefvater Max] nicht dazugeschrieben? Doch werde ich mir diese Antwort persönlich holen. Wenn Du willst Maxl, so kannst Du Dich um eine Beschäftigung für mich umsehen. Viele Grüße und Küsse an Euch alle Von Euerem Hermann Bin sehr nervös und habe Reisefieber Grüße und Küsse Eure Toni'

Mein Onkel Leon, er wurde Lonek genannt, war Keramiker. Er arbeitete in der bekannten Firma Goldscheider, einer Keramik- und Porzellanmanufaktur in Wien. Die Goldscheiders waren eine jüdische Familie, die nach dem Einmarsch der Deutschen in Österreich in die USA geflohen ist und dort wieder einen Betrieb gegründet haben.

Nachfahren dieser Familie leben noch heute in den USA. Lonek ist nach dem 'Anschluss' nach Schweden geflohen. Er besaß dort eine Modellgießerei für Bildhauer. Er war auch künstlerisch tätig und hat selber modelliert, aber seine Hauptarbeit war die Modellgießerei.

Er heiratete Elfi Wachsmann, die Enkelin des österreichischen Operettenkomponisten Komponisten Leo Fall 2. Sie haben keine Kinder. Onkel Leon war ein sehr lebenslustiger, fröhlicher und witziger Mensch und seine Frau trauert noch heute um ihn. Jedes Jahr kommt sie im Mai für einige Tage nach Wien zum Spargelessen oder zu Ehrungen ihres Großvaters.

Meine Tante Klara wurde 1916 geboren. Sie arbeitete in einer Schneiderei, lebte bei meiner Großmutter und heiratete 1938 Karl Hillebrand in der Absicht, mit ihm nach Palästina zu fahren, um dort in einem Kibbutz zu leben. Sie war Zionistin und im Haschomer Hatzair 3 aktiv.

Klara ging mit dem Karl nach Palästina, sie lebten in einem Kibbutz, ein Mädchen kam 1940 oder 1941 zur Welt, die Ofira, aber sie blieben nicht zusammen. Klara ließ sich von Karl scheiden und zog nach Sichron Yaakow, wo bereits meine Tante Regina lebte und nachher noch meine Tante Lona dazu kam. Sie lebte dort mit ihrer Tochter und lernte ihren späteren Mann Arpad Green kennen.

Onkel Arpad war ein Elektriker. Er kam aus Brünn, war ein arbeitsamer Mann, und schimpfte immer auf die 'Gesellschaft der Bauern', wie er die Gründerväter des Ortes, die aus Rumänien im19. Jahrhundert nach Palästina gekommen waren, nannte. Diese waren nämlich schreckliche Geizhälse und blieben ihm immer Geld schuldig, so dass er fast umsonst für sie arbeiten musste.

Im Jahre 1956 verließ die Familie Israel und ging nach Australien. Dort wurden die Töchter Josefa und Nitza geboren. Arpad arbeitete als Elektriker auf einer Werft. Klara arbeitete zuerst in einer Schneiderei, dann aber wurde sie Hausfrau. Beide leben heute in Sydney in einem Elternheim.

Ofira ist verheiratet mit Peter Singer aus Wien. Sie besaßen eine kleine Stoffdruckerei in der sie Etiketten für Kleidung herstellten. Das sind diese Schildchen, auf denen steht, woraus das Kleidungsstück besteht und wie man es waschen soll. Sie haben zwei Kinder.

Josefa ist mit John verheiratet, der im australischen Fernsehen arbeitete. Sie haben einen Sohn, Alexander. Josefa und John schreiben derzeit ein Buch über Chinas heilige Berge. Sie waren in den 1970er Jahren in Wien. Nitza ist mit Max Siano aus Rumänien verheiratet. Er arbeitet als Selbständiger in der Modebranche und Nitza arbeitet für die Bankbeamten Gewerkschaft. Sie haben keine Kinder und sie besuchten Wien in den 80er Jahren.

Meine jüngste Tante ist Berta. Sie heiratete noch vor ihrer Flucht vor den Nazis Fred Steiner, über den ich nichts Näheres weiß. Gemeinsam flohen sie nach Frankreich, und von Frankreich gelangten sie in die USA. Er wurde sofort in die US-Armee eingezogen, und nach dem Krieg zogen sie nach Kalifornien.

Sie konvertierten zum Christentum. Ich glaube, zur anglikanischen Kirche. Ihr Mann verließ sie und sie blieb mit zwei Kindern, Susan und Robert, allein. Sie arbeitete dann viele Jahre als Arzthelferin und brachte die Familie, so gut es ging, durch. Sie heiratete noch einmal, einen Amerikaner namens Nanke, und ließ sich dann später wieder scheiden. Bertas Sohn Robert war Bäcker und starb vor einigen Jahren bei einem Motorradunfall in den USA.

Heute lebt Tante Berta mit ihrer Tochter Susan in London. Susan arbeitete mehrere Jahre in Südafrika, und zwar in kirchlicher Mission im sozialen Bereich. Als sie nach London ging und dort begann, als Journalistin zu arbeiten, war sie bereits krank. Sie leidet unter einer ganz seltenen Krankheit. Es gab schon Jahre, in denen sie nur im Bett liegen konnte.

Während der Krankheit entwickelt sich eine Muskelschwäche. Trotzdem ist sie weiter als Journalistin tätig und schreibt für eine kirchliche Zeitung. Beide waren einige Male in Wien, Berta auch auf Einladung des Jewish Welcome Service 4.

Meine Mutter Miriam wurde im März 1902 in Zalozce geboren. Sie machte sich später um mehrere Jahre jünger. Warum sie das tat, entzieht sich meiner Kenntnis, meines Erachtens jedoch ist das Jahr 1902 das richtige.

Meine Mutter wurde von der Familie und Freunden Miriandl oder Mali genannt, warum weiß ich nicht, denn sie hieß ja nicht Amalie, aber sie war eben die Mali. Sie heiratete meinen Vater Leo Hochbaum, der Bankbeamter war, am 10. März 1926 im 18. Bezirk, in der Schopenhauergasse.

Leo Hochbaum war am 31.März 1903 in Bielitz [heute: Bielsko-Bia?a in Polen] geboren. Sein Vater hieß Salomon Hochbaum und seine Mutter Ester. Sie war eine geborene Marek. Nach der Heirat zogen meine Eltern in eine Wohnung nach Erdberg, das ist im 3. Wiener Gemeindebezirk.

  • Meine Kindheit

Ich wurde am 10. Juli 1926 geboren.

Meine Mutter war ein sehr lebenslustiger Mensch. Sie hatte Freundinnen und Bekannte und ging oft aus und ich nehme an, dass sie in irgendeiner Gesellschaft meinen Vater kennen gelernt hat. Die Gegend, in der wir lebten, war eher proletarisch. Arbeiter und Handwerker lebten dort, auch Juden, aber eher wenige. Seltsamerweise habe ich außer einem Foto von meinem Vater kaum irgendwelche Erinnerungen.

Auch an seine Familie habe ich keine Erinnerungen. Mein Vater hatte eine Schwester in Polen, Selma hieß sie. Die war niemals in Wien, zumindest nicht zu meiner Zeit, es wurden auch keinerlei Kontakte gepflegt, zumindest weiß ich nicht davon. Ich kann mich nur erinnern, dass ein Onkel erwähnt wurde, den ich einmal getroffen habe, der war bei der Bundesbahn. Er hieß Onkel Julius und lebte in Wien. Ich glaube, er war ein Onkel meines Vaters.

Mein Vater war ein ruhiger und sensibler Mensch, war aber dem Spiel verfallen, hat sich kaum zu Hause aufgehalten und sich viel zu wenig mit seiner Familie beschäftigt. Vielleicht sorgte er für die Familie, ich weiß es nicht. So ist kein Zufall, dass sich meine Mutter im Jahre 1936, nach zehn Jahren Ehe, scheiden ließ. Nachdem wir Österreich verlassen hatten, habe ich nie wieder etwas von ihm gehört und auch nicht in Erfahrung bringen können, wo er ermordet wurde.

Meine Familie ging wahrscheinlich oft in die Oper, denn meine Mutter liebte Opern und Operetten und kannte viele Opernarien auswendig.

Meine Mutter hatte einen ziemlich großen Bekanntenkreis. Da waren die verschiedenartigsten Leute und da war auch die jüdische Familie Back, die im Haus nebenan gewohnt hat.

Die Familie war aus der Slowakei, aus Nitra, aber Max Back, der ein guter Freund meiner Mutter wurde, war am 3. Dezember 1905 bereits in Wien geboren. Sie ging sehr oft mit ihm aus und dann kümmerten sich seine Schwestern um mich. Langsam nahm er die Stelle meines leiblichen Vaters ein: er war sehr oft bei uns und ging mit uns gemeinsam aus. So führte ich trotz der Scheidung meiner Eltern ein sehr behütetes Leben.

Es war die Zeit eines Baubooms. In der Nähe wurden neue Häuser gebaut, gleich um die Ecke entstand ein sehr großer Gemeindebau, der Rabenhof, der erst vor wenigen Jahren saniert worden ist. Mein zukünftiger Vater Max Back hatte drei Schwestern, Hermine, Marie - genannt Mizzi - und Herta und einen Bruder Arpad.

Hermine war Büroangestellte bei der Transportfirma Schenker in Wien und heiratete Siegfried Samuel. Siegfried war Beamter, zuerst in Wien und später auch in Haifa. Sie gingen Anfang der 1930ger Jahre als Zionisten nach Palästina und hatten eine Tochter Naomi. Hermine war nie mehr in Wien und starb in den frühen 1970er Jahren.

Herta heiratete einen nichtjüdischen Offizier und lebte mit ihm in Salzburg, wo er stationiert war. 1938 ließ er sich von ihr scheiden. Sie überlebte das KZ Ebensee, lernte in einem DP-Lager 5 einen jüdischen Griechen aus Saloniki, einen Konditor, der seine ganze Familie verloren hatte, kennen, und emigrierte mit ihm 1949 nach Haifa. Ihr Mann starb sehr früh und danach heiratete sie in Haifa einen Wiener, den Fritz Weiner. Herta starb in den frühen 1980er Jahren, war aber vorher noch einmal in Wien.

Mizzi Back blieb in Wien bei der Mutter Regina Back, beide wurden 1942 deportiert und ermordet. Den Bruder Arpad Back, der 1909 geboren wurde, habe ich nie kennen gelernt. Er wohnte nicht zu Hause und es wurde nicht über ihn gesprochen. Ich weiß aber, dass er beim Versuch, über die Donau nach Palästina zu flüchten, ermordet wurde.

Wir zogen in Wien einige Male um und die Volksschule besuchte ich in der Strohgasse, im 3. Bezirk. Ich nehme an, dass mehrere jüdische Kinder in meine Klasse gingen, aber ich kann mich nur an einen Namen erinnern, Menasse hieß der Junge. An Antisemitismus in dieser Zeit kann ich mich nicht erinnern. Ich war nicht besonders schlecht in der Schule, ging aber nicht besonders gern hin.

Ich war kein Straßenkind, sondern ein richtiges Familienkind. In der näheren Umgebung gab es Möglichkeiten zur Unterhaltung, es gab Restaurants und Gasthäuser mit volkstümlichen Veranstaltungen und wenn es irgendwie ging, nahm mich meine Mutter mit. Die Geschwister meiner Mutter und ihre Familien pflegten immer engen Kontakt miteinander.

Wir trafen uns oft und unternahmen viele Ausflüge in die Umgebung Wiens, vor allem in den Wienerwald. Meine Spielkameraden gehörten auch fast alle zur Familie, das war der Fredi - der Kurti war noch zu klein - die Ruthi, und der Fritzl. Wir haben die Verwandten oft besucht. Manche, wie Tante Lea, Tante Rosa, Tante Regina und Onkel Izu haben streng koscher gelebt, manche weniger streng, meine Mutter gar nicht. Die hat sich um nichts geschert.

Ein einschneidendes Erlebnis war der Bürgerkrieg im Jahr 1934 6, obwohl es mir damals nicht so bewusst war. Unser Freund, der Max Back, war bis 1934 bei der Wiener Polizei und außerdem war er im Schutzbund 7 organisiert. Zur Zeit des Bürgerkriegs war Max Back sehr beansprucht, musste auch eine Zeit lang untertauchen und verlor letztendlich seinen Job. Man hörte ja überall, dass Kämpfe waren, und auch Leute aus unserem Bekanntenkreis waren involviert.

Wie viele andere auch wurde Max Back 1934 arbeitslos, bekam aber Arbeit in der zionistischen Organisation Hechalutz. Er fuhr mit jungen Leuten in die Umgebung Wiens und betreute Gruppen von Jugendlichen, die sich auf die Alijah nach Eretz Israel [jüdische Einwanderung nach Palästina] vorbereiteten.

Diese Kurse nannte man Hachschara' [Tauglichmachung' für ein Leben in Palästina/Israel], und sie waren Voraussetzung für die landwirtschaftliche Arbeit in Palästina, entweder in einen Kibbutz oder in anderen Bereichen. Diese Tätigkeit des Max Back hat uns später geholfen, noch ein Einreisevisum nach Palästina zu bekommen.

Meine Mutter hatte eine winzige Parfümerie im zweiten Bezirk gemietet, in der Lilienbrunngasse, und dort hielt ich mich oft nach der Schule auf. Da war ein kleiner Verkaufsraum, in dem ich immer hockte. Zur Schule ging ich damals in die Sperlgasse.

Anscheinend ging diese Parfümerie nicht besonders gut, denn nach einiger Zeit gab meine Mutter sie wieder auf und arbeitete in der Firma Goldscheider, der Keramik- und Porzellanmanufaktur, in der ihr Bruder Leon schon seit Jahren arbeitete. Dort blieb sie bis zum Einmarsch der Nazis.

Nachdem mein Vater aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen war, zog meine Mutter mit mir in die Perinetgasse, zu meiner Großmutter. In dieser Einzimmer-Kabinett-Wohnung wohnten außer meiner Großmutter zu dieser Zeit noch drei Geschwister meiner Mutter, Tante Berta, Tante Klara und Onkel Leon.

Ich war damals zehn Jahre alt und wurde dann auch gleich ins Unterbergergymnasium in der Unterbergergasse im 20. Bezirk, nahe dem Augarten, eingeschult. In meiner Klasse gab es viele jüdische Schüler, aber ich erinnere mich nur an den Namen Kaplan.

Ich spielte Fußball im Rahmen der Schule, einmal in der Woche ging ich ins Vindobona-Kino in der Wallensteinstrasse und sah mir Wildwestfilme und dergleichen an. Ansonsten war ich mit meiner Familie zusammen. Ich war in keiner Jugendorganisation. Deren Platz nahmen für mich die Familientreffen ein. Eine Freundin meiner Mutter, die Mizzi, hatte einen Schrebergarten, in dem sie sich sehr oft aufhielt, und meine Mutter ging mit mir häufig zur Mizzi.

Der Kontakt meiner Mutter zum Max Back blieb weiterhin aufrecht. Meinen Vater sah ich selten, bis sich seine Spuren ganz verliefen. Das ist sehr bedauerlich, aber was man heute weiß, kann man nicht auf damals projizieren.

Meine Großmutter war das Zentrum der Familie. Sie hatte viel zu bewältigen und immer alle Hände voll zu tun. Sie war wahrscheinlich durch ihr schweres Leben hart geworden, war nicht sehr zärtlich, und sie durfte ja auch niemanden bevorzugen; sie hat ihre Gefühle nicht gezeigt.

Sie war eine eher spröde Person, aber gerade das hat imponiert, sonst hätte sie sich nicht durchsetzten können bei so vielen Kindern. Wir lebten dort, und trotz der beengten Verhältnisse waren wir glücklich. Die religiösen Tanten und Onkel und die nichtreligiösen Tanten und Onkel verstanden sich sehr gut. Dem Thema Religion ging man einfach aus dem Weg und klammerte es aus. So lebten wir bis zum Einmarsch der Nazis friedlich miteinander bei meiner Großmutter.

  • Während des Krieges

Am 12. März 1938 sah ich Flugzeuge, jede Menge Flugzeuge, richtige Staffeln, die den Himmel verdunkelten.

Erstens wollten die Nazis ihre Macht demonstrieren und zweitens hatten sie wirklich Sachen zu transportieren, um sich hier breit zu machen. Da sah man schon die Leute in Uniformen und Jungen in HJ-Hemden herumlaufen. Das waren Österreicher, die Deutschen waren noch nicht in Wien.

Sie sind ja nicht schnurstracks nach Wien gekommen, denn sie wurden zuerst aufgehalten von den Menschen, die ihnen am Weg zugejubelt haben. Als erstes hat sich die Wehrmacht bei den Wienern mit Essen angebiedert, mit Gulaschkanonen am Heldenplatz.

Die Wohnung meiner Großmutter wurde zu einer Art familiäres Nachrichtenzentrum. Die Familie verfolgte die Situation ständig und zuerst brach keine Panik aus. Erst viel später wurden sie unruhig, als Maßnahmen gegen Juden verlautbart wurden oder als Aktionen gestartet wurden wie Straßenwäschereien, Belästigungen und Anpöbelungen.

Man hörte, da hat einer einen Tritt bekommen, da wurde jemand angegriffen oder jemand weggebracht, aber da machte man sich wahrscheinlich auch noch Illusionen. Man wusste, dass es arg ist, aber wusste nicht, wie arg es werden würde.

Eine der wenigen Maßnahmen, die mir unter die Haut gegangen sind, weil sie mich direkt betroffen haben, waren die Schilder auf den Parkbänken, auf denen stand 'Nur für Arier' oder 'Nicht für Juden'. Ich bin oft spazieren gegangen mit meiner Mutter oder mit meinen Cousins, und wir haben die Parks benutzt und dort gespielt. Auf einmal durften wir nicht mehr auf den Bänken sitzen.

Ich war von den Uniformen sehr beeindruckt und bin schon als Kind oft, noch vor den Nazis, zum Kriegsministerium am Stubenring gelaufen, weil es dort einmal in der Woche eine Wachablöse mit Zapfenstreich gab. Diese Marschmusik hatte ich gern, das hat mir gefallen. Als die Deutschen einmarschierten, war das schon etwas bedrohlich, aber da waren Uniformierte, die mit Musikcorps herumzogen, das hat mich sehr beeindruckt und mir gefallen, da bin ich begeistert hinterhergelaufen.

Die Hachschara-Kurse mussten aufgegeben werden. Max Back hat sich dann anderweitig in der Kultusgemeinde betätigt und auch er wurde eines Tages attackiert und geschlagen. Ich glaube, das geschah in der Seitenstettengasse vor dem Tempel.

Es gab damals genug Leute, die mit Vergnügen herum gewütet haben. Gleich um die Ecke der Wohnung meiner Großmutter gab es Bethäuser, aber mir ist nicht bekannt, dass es dort zu ernsten Übergriffen gekommen wäre. Die HJ 8 und der BDM 9 sind aber in der Gegend herumgeschwirrt.

In der Schule gab es Veränderungen, es kamen neue Lehrer. Ein Sudetendeutscher, eigentlich der einzige Nazi, der mir in Erinnerung ist, hat Geographie unterrichtet und kein Hehl daraus gemacht, dass er Nazi ist. Nicht, dass er uns attackiert oder persönlich angegriffen hätte, er hat nur kein Hehl aus seiner Ideologie gemacht. Der hat gleich die neuen Landkarten aufgehängt. Aber es gab auch andere Lehrer! Unser Mathematiklehrer hat uns immer Mut zugesprochen und gesagt, dass dieser Spuk nicht lange dauern wird.

Den hatten wir vorher schon, das war der Herr Rotter, er ist nachher verschwunden. Wir sind aber nachher auch verschwunden, wir sind getrennt worden von den übrigen Schülern, wir mussten in so genannte 'Israelitische Klassen', da gibt es heute ein eigenes Buch über die in der Schule in der Unterbergergasse. Mein Name ist auch darunter, ich konnte meine Zeugnisse sehen.

Es gibt heutzutage sehr engagierte Lehrer, die sich um diese Zeit kümmern und auch Ausstellungen betreuen. In meiner Schule kann man eine beeindruckende Ausstellung über die jüdischen Schüler dieser Schule in der Nazizeit sehen. Sie haben alle ehemaligen jüdischen Schüler aus der ganzen Welt eingeladen, die noch zu finden waren! Zuerst gab es diese 'Israelitischen Klassen', dann plötzlich gab es diese Klassen nicht mehr, und es gab 'Judenschulen'.

Die jüdischen Schüler wurden in ganz wenigen Schulen konzentriert. Ich war eine Zeit lang in so einer Schule. Gelernt habe ich dort nichts, denn wir waren ja schon mit einem Fuß weg und dachten nur noch an das Wegfahren. Wer konnte, versuchte aus Österreich herauszukommen. Man wusste, dass man nicht bleiben konnte, schon nach den ersten Verhaftungen wusste man das. Dann hörte man nur noch: 'Der wurde verhaftet und der wurde verhaftet und geschlagen' und man hörte das Wort 'Konzentrationslager'! Wer konnte, verließ das Land. Da dachte natürlich in der Schule kaum mehr einer an Lernen, Noten und Zeugnisse.

In unserer Familie gab es dann zwei Hochzeiten. Tante Klara heiratete den Hillebrand und ist bald danach mit ihm nach Palästina, nach Eretz Israel, geflohen. Tante Berta heiratete den Steiner. Beide sind auf illegalem Weg nach Frankreich gelangt, irgendwann gefasst worden, sind noch einmal nach Frankreich und von dort aus nach Amerika geflüchtet.

Für Palästina benötigten wir ein Zertifikat. Damals tauchten plötzlich solche Begriffe auf. Zum Beispiel benötigte man, wenn man nach Amerika wollte, nicht ein Visum, sondern ein Affidavit. Da tauchten Begriffe auf, die man vorher nie gehört hatte und auch später nicht mehr.

Diese Affidavits waren Garantien gegenüber dem Staat, dass der Geflohene finanziell abgesichert war. Es musste von einer Person eine bestimmte Summe hinterlegt werden oder auf alle Fälle bewiesen werden, dass für den Immigranten aufgekommen wird.

Diese Papiere zu besorgen war sehr zeitaufwendig und deshalb auch der Grund dafür, dass weniger beweglichen oder älteren Leuten die Flucht oft nicht mehr gelang. Sie sagten den jüngeren: 'Fahrt ihr derweil, wir kommen dann nach.' Und dann ist nichts mehr gegangen! Alles hing von diesem Affidavit ab, Tod oder Leben! Wir besaßen ein Radio, denn die Familie war ja sehr musikalisch. Das Zuhören hat uns noch niedergeschlagener gemacht - wegen der Siegesmeldungen und dem großspurigen Gerede der Deutschen.

Meine Mutter hat keine andere Möglichkeit für uns gesehen als die Emigration, und deshalb an einem Umschulungskurs zur Friseuse teilgenommen. Von diesen Kursen gab es verschiedene, und sie waren extra dafür eingerichtet, Menschen in Berufe einzuschulen, die es erleichtern sollten, in dem neuen Land Arbeit zu finden. Sie hat aber später nie den Beruf ausgeübt.

Am 27. Juni 1938 vermählte sich meine Mutter mit Max Back im Rabbinat in der Seitenstettengasse. Etwas später bekamen wir - aufgrund der Arbeit von Max für die Kultusgemeinde - Zertifikate für die Einreise nach Palästina.

Tante Klara war schon weg und Tante Berta ebenfalls. Ich weiß nicht, ob der Onkel Lonek schon weg war, möglicherweise war er gerade im Begriff wegzugehen. Er konnte jedenfalls nach Schweden ausreisen. Nach der Heirat meiner Mutter sind wir noch für einige Monate in eine nicht weit entfernt gelegene Wohnung, ich glaube, am Wallensteinplatz, gezogen. Meine frisch vermählte Mutter wollte wahrscheinlich mit Max Back allein sein.

Im März 1939 konnten wir dann endgültig weg. Die letzte Zeit in Wien war sehr unangenehm, sehr bedrohlich. Es wurden vielen Juden Sachen weggenommen, uns nicht, denn wir hatten nichts, was man uns hätte wegnehmen können. Das habe ich alles verdrängt, nicht mehr darüber gesprochen. Meine Eltern haben wahrscheinlich darüber gesprochen, als sie in Israel mit 'Jeckes' [Anm: Bezeichnung in Israel für deutsche Juden] oder Wienern zusammen waren.

Meine Großmutter sollte in die USA fahren. Tante Rosa, die dort lebte, sollte dafür sorgen. Das hat nicht funktioniert. Aus heutiger Sicht, wenn man die Lage richtig gesehen hätte, hätte man mehr für die Großmutter getan.

Die britische Mandatsmacht in Palästina wollte es sich nicht mit der arabischen Welt anlegen. Es gab das so genannte 'Weißbuch', das in den 1930er Jahren beschlossen wurde. Auf Druck arabischer Organisationen war die Einreise für Juden nach Palästina sehr beschränkt und es gab große Schwierigkeiten. Bald nachdem wir nach Palästina fuhren, gab es überhaupt keine Möglichkeiten mehr, auf legalem Weg dorthin zu gelangen.

So gab es damals die 'Aliah Alef', die legale Einreise nach Palästina, und die 'Aliah Beth', die illegale, die mit großen Gefahren verbunden war. Es gab Organisation, die diese organisierten. Wien oder Österreich verließen die Palästina-Emigranten legal oder halblegal, nämlich mit Duldung der "mitnaschenden" Behörden. Es gab Organisationen, die von den Nazibehörden aufgestellt wurden und auf diese Weise viel Geld kassierten. Von der englischen Seite her waren diese Transporte aber illegal.

Wir fuhren vom Südbahnhof über Venedig nach Süditalien, nach Bari. Das war eine herrliche Reise. Von Bari ist mir bis heute eine wunderschöne Palmenallee in herrlicher Erinnerung. Die fremden Gerüche, die neuen Eindrücke; für mich war das ein Abenteuer, genauso wie die neuen Uniformen in Wien ein Abenteuer waren.

In Bari bestiegen wir einen Truppentransporter, der italienische Soldaten nach Abessinien, dem heutigen Äthiopien, brachte und nicht für Zivilpersonen gebaut war, aber den Hafen in Haifa anlief. Das Schiff war überfüllt mit Flüchtenden, und wir waren in Kojen im Schiffsbauch untergebracht.

Wir waren einige Tage unterwegs, es war sehr eng, und davon, die Schiffsreise zu genießen, konnte nicht die Rede sein. Auf dem Schiff gab es eine italienische Crew, die zu uns sehr nett war. Meistens war mir von der Schiffsfahrt schlecht. Aber ich habe auch auf dem Schiff gegessen. Das war italienisches Essen: Spagetti, Reis und viele Tomaten - alles war fremd für uns damals. Vorbei war es mit den geliebten Wiener Schnitzerln!

Der einzige richtige Hafen in Palästina war Haifa. Es gab noch von früheren Zeiten den Hafen in Jaffa, aber nicht für Personenschiffe. Vom Schiff kamen wir zuerst in ein Übergangslager, Machane Olim, Neueinwandererlager, hieß das.

Es war noch zugleich ein Lager der britischen Armee und ein Teil davon war das Machane Olim. Vom Hafen sind wir dahin gebracht worden. Wir fuhren auf Lastwagen und neben uns wurden Orangen - die Ernte dürfte noch im vollen Gange gewesen sein - in Packhäuser transportiert. Ein Geruch, unauslöschlich, das war der erste Eindruck! Es war im März, also die schönste Zeit des Jahres. All diese neuen Gerüche, es hat schon in Italien angefangen, aber dort waren sie noch stärker.

Im Lager waren wir in Baracken untergebracht, aber nicht für lange. Hermine Samuel, die jüngere Schwester vom Max Back, die in den frühen 1930er Jahren nach Palästina ausgewandert war, hatte uns ausfindig gemacht und uns mit ihrer Erfahrung geholfen. Sie hat uns eine kleine Wohnung besorgt, die wir uns leisten konnten. Ich weiß aber nicht, woher wir das Geld genommen haben.

Es gibt heute in Israel viele Obst und Gemüsesorten, die es damals noch nicht gab. Orangen hatte man aber jede Menge zur Verfügung, die wurden nicht stückweise und nicht kiloweise, sondern gleich Sackweise gekauft. Das war wirklich das billigste. Die Küche war eher eine einfache Küche. Wir hatten dann Hühner und dadurch Eier und mein Vater, der Max Back, hatte auch Karnickel. Ich kann mich aber nicht erinnern, dass wir jemals ein Karnickel gegessen hätten.

Da meine Eltern noch nicht wussten, wie es weiter gehen soll, hatte ich die Möglichkeit, einige Zeit in einem Dorf bei Bauern zu leben. Das Dorf war ein Moschaw [Prinzip: keine Beschäftigung von außenstehenden Hilfskräften, gegenseitige Hilfe und Kooperation beim Absatz der Produkte sowie beim Erwerb von Produktionsmitteln] namens Nahalal. Es war kreisrund angelegt, in der Mitte stand ein großer Wasserbehälter und ein Turm. Auf diesem Turm wurde Wache gehalten.

Im Ort lebten viele Prominente des späteren Israels, zum Beispiel die Familie von Moshe Dayan 10. Die alteingesessenen Bauern waren hauptsächlich Russen. Es gab auch eine Gruppe Jugendliche aus Wien, die zusammengehörten und dort ihr eigenes Leben lebten.

Sie waren älter als ich, ich war manchmal bei ihnen, weil ich keine Beziehung zur Familie des Bauern hatte, bei dem ich wohnte. Ich musste viel arbeiten, das war für mich eine neue Erfahrung. Letztendlich war es ganz gut, man gewinnt Einblicke und lernt, etwas in der Hand zu halten.

In diesem Ort gab es auch eine kleine, sehr bescheidene Synagoge. Für meine Bar Mitzwah bereitete ich mich dort vor, es gab sogar einen Religiösen da, der mir half und mir zur Seite stand. Zu meiner Bar Mitzwah kam meine Mutter angereist, sie hatte mir auch etwas Süßes mitgebracht, aber das war es auch schon. In dem Moschaw blieb ich einige Monate und dann ging ich zurück nach Haifa.

Viele bekamen damals Arbeit beim britischen Militär, auch ich habe später für das Militär gearbeitet. Mein Vater hatte bei einer Einrichtung der Britischen Navy als Schneider Arbeit bekommen, denn er war gelernter Schneider. Er verdiente dort nicht viel, aber es ging einigermaßen. Später wurde er Hilfspolizist bei den Engländern.

Diese Truppe wurde zum Schutz jüdischer Siedlungen eingesetzt und arbeitete vor der Gründung des Staates Israel mit jüdischen Selbstverteidigungstruppen offiziell zusammen. Die Uniformen stammten aus der Zeit der türkischen Herrschaft und wurden von Arabern wie Juden getragen.

Wir zogen in eine andere Wohnung, hinauf auf den Berg, in den Vorort von Haifa, der Neveh Sha'anan hieß. Die Wohnung war in einem sehr interessanten Haus, das nicht mehr existiert. Es gehörte einem Araber, der es im Stil der Häuser der reichen Araber, der Großgrundbesitzer oder Effendis, gebaut hatte.

Es hatte eine zentrale Halle, von der aus kleine Räume abgingen. Die Halle war nicht bewohnt, aber die kleinen Räume ringsum waren von je einer Familie bewohnt. Das war wie eine riesige Gemeinschaftswohnung. Wir hatten dann noch außer diesem Zimmer, das zum Festhaus gehörte, die Küche und eine Toilette; Wasser war auch da.

Ich schlief in der Küche. Unsere Nachbarn waren Deutsche, ein Pole und ein Rumäne. Ich ging in eine Grundschule bis zu meinem fünfzehnten Lebensjahr, ich musste ja auch erst einmal die Sprache erlernen. In meiner Klasse war ich der einzige Neuankömmling, aber die Kinder und Lehrer haben es mir leicht gemacht, und dadurch habe ich auch gut gelernt. Wien war für mich vorbei und vergessen. Da waren so viele neue Eindrücke, die auf mich eingestürmt sind, neue Sprache, neue Gerüche, alles war neu.

Meine Eltern sind oft tanzen gegangen. In unserer Wohngegend gab es einen kleinen Platz, wo ein bis zwei Mal in der Woche Schallplatten aufgelegt wurden. Die Leute trafen sich und tanzten und man konnte auch dabei sitzen. Es wurde nach Schlagern getanzt, die aus England kamen und damals modern waren, aber auch Tango wurde getanzt. Es kamen auch Engländer, um sich zu vergnügen. Wir Kinder schauten immer neugierig zu.

Die Männer trugen zu der Zeit hauptsächlich Khakikleidung, kurze Hosen, lange Hosen, Hemden, alles aus Khakistoff. Das hatte nicht unbedingt etwas mit Militär zu tun, es war einfach sehr verbreitet. Die Gesellschaft war ganz auf die Kibbutzbewegung ausgerichtet. Der Kibbutz war das ethische Vorbild und das drückte sich auch in der Kleidung aus.

Aber der Krieg kam auch zu uns nach Palästina. Italienische Flugzeuge kamen bis nach Haifa, wurden auch dort abgeschossen. Irgendwie spürte man den Krieg, General Rommel 11 war ja relativ nahe.

Nach der Schule habe ich eine Zeitlang bei einem Elektriker gearbeitet, einem Jecke. Die Jeckes haben sich sehr viel mit Briefmarken sammeln beschäftigt, der ist stundenlang bei seinen Briefmarkenkumpels gewesen, das war ganz eigenartig. Es gab viele solche, gerade unter den Jeckes! Diese Hobbys hatten sie wahrscheinlich schon in Deutschland gepflegt, sie waren auch die großen Konzertbesucher.

In der britischen Armee habe ich dann einige Jahre als Elektriker in den Kfz-Werkstätten gearbeitet. Das wurde später auch mein Beruf. Ich kam dort in Kontakt mit Menschen, die mir auch politisch zusagten, weil ich schon als Kind viele Bücher gelesen hatte, zum Beispiel Jack London und Maxim Gorki.

Solche Gestalten wie in diesen Büchern tauchten auf einmal bei meinem Arbeitsplatz auf. Ich wurde ein politisch sehr bewusster Mensch und Mitglied der Kommunistischen Jugendbewegung in Israel, der Brit ha Noar ha Kommunisti. Meine Eltern waren darüber gar nicht entzückt, aber das konnte mich davon nicht abhalten. 

  • Nach dem Krieg

In den Jahren 1945/46 gab es schon eine Bewegung für die Gründung des selbständigen Staates Israel. In erster Linie begann es mit Aktionen und Demonstrationen für die freie Einwanderung. Der Druck war besonders groß nach dem Krieg, als man das ganze Ausmaß der Vernichtung erfuhr und viele Juden das Land erreichen wollten, aber zurückgeschickt wurden, weil die Engländer die freie Einwanderung begrenzen wollten.

Es gab eigentlich schon einen Staat im Staat mit jüdischen Institutionen, man nannte es 'Medina baderech', das bedeutet übersetzt 'Ein Staat im Werden'. Aber man wollte einen vollständig selbständigen jüdischen Staat. Als die Engländer wussten, dass ihre Tage gezählt sind, gebärdeten sie sich immer wilder mit Verhaftungen, Schiessereien, Hausdurchsuchungen.

Als der Staat Israel gegründet wurde, befand ich mich bereits in der israelischen Geisterarmee, weil wir schon eingezogen und organisiert waren, noch bevor es den Staat gab und noch bevor es die Armee gab. Als der Staat 1948 gegründet wurde, waren wir schon mitten im Krieg. Die arabische Bevölkerung war nicht entzückt, aber sie hatte große Schwierigkeiten, sich zu organisieren.

Ich hatte Kontakt zu Arabern, weil ich von 1946-1948 in einer Ölgesellschaft, die in Haifa Werkstätten hatte, gearbeitet habe. Da waren auch Araber angestellt. Ich war dort auch im Betriebsrat zusammen mit arabischen Kollegen. Es gab welche, die den Propagandaaufrufen seitens der arabischen Führung folgten und im Mai 1948, nach Gründung des Staates Israel, flüchteten.

Viele flohen Hals über Kopf. Wir sind in Wohnungen gekommen, wo das warme Essen noch auf dem Tisch stand. Die damals geflüchtet und nicht wieder zurückgekommen sind, sind heute noch Flüchtlinge. Oder sie sind keine Flüchtlinge mehr, aber reden noch immer von ihrer Heimat Haifa.

Gut, ich kann verstehen, ein Mensch hängt seinen Kinderträumen nach, seinen Erinnerungen. Es war eine Tragödie, und so nennen die Araber das ja auch: eine Katastrophe. Ich weiß nicht, wie der Staat Israel ausgesehen hätte, wenn alle geblieben wären.

Wir wussten nichts über die Großmutter, die in Wien geblieben war. Nach dem Krieg erfuhren wir ihr Schicksal. Sie wurde aus der Wohnung geworfen, in der sie 20 Jahre ihres Lebens verbracht hatte. Sie lebte dann in einer dieser Sammelwohnungen im 2. Wiener Gemeindebezirk, und von dort aus wurde sie zuerst nach Theresienstadt und dann nach Treblinka deportiert und dort ermordet.

Ich kann ich mich nicht erinnern, dass wir jemals darüber gesprochen hätten, nach Österreich zurück zu gehen. Man sprach vielleicht darüber, wie das Leben in Wien war, dass man in den Prater gegangen ist, oder was man gesehen hatte oder mit wem man zusammen gekommen war. Das waren Geschichten oder Anekdoten über das Leben damals in Wien.

Zwischen Eltern und Kindern gab es bei vielen Emigranten eine große Sprachbarriere. Auch meine Eltern haben nur ein sehr elementares Hebräisch gesprochen, und auch dieses kaum richtig angewendet. Sie haben sich hauptsächlich im Kreise ihrer sprachlichen Möglichkeiten bewegt, in einem Freundeskreis aus Menschen, die Deutsch sprachen. Sie haben all die Jahre hindurch im eigenen Saft geschmort.

Etwas besser wurde es durch mich, aber nicht sehr, weil ich ja Deutsch konnte und mit ihnen auch Deutsch sprach. Aber durch meinen Bruder Yoram, der am 27. Januar 1940 geboren wurde, wurde ihr Wortschatz reicher. Man blieb natürlich trotzdem bei der deutschen Sprache, tauschte unter sich deutsche Literatur und deutsche Zeitungen. Auch die österreichische Küche, die ist geblieben. Meine Mutter kochte faschierte Laberln, briet Schnitzel, auch von Kamelfleisch, machte Palatschinken und Knödel.

Mein Vater Max Back starb 1957 an Angina pectoris. Er hat sehr viel geraucht und sein Leben war nicht einfach.

Nach dem Militärdienst habe ich in einer Buchhandlung in Haifa zu arbeiten begonnen. Diese verkaufte unter Anderem sowjetische Literatur, ein Gebiet, das mich schon immer interessiert hatte. In der Buchhandlung habe ich fünfzehn Jahre lang gearbeitet. Zwischen 1963 bis 1966, immer für etwa ein halbes Jahr, war ich in der DDR.

Ich hielt mich insgesamt eineinhalb Jahre dort auf und lernte meine Frau in Berlin kennen. Ich war damals von der israelischen Kommunistischen Partei zu einem Lehrgang geschickt worden. Für mich war es das erste Mal nach Jahrzehnten, dass ich in Europa war. Wien war für mich nur eine blasse Erinnerung.

Ich habe dort nie verheimlicht, dass ich ein Jude aus Israel bin, habe es aber auch nicht wie eine Fahne vor mir her getragen. Wer es wissen wollte, konnte es wissen! Ich war nicht der Einzige aus Israel dort in der DDR, wir waren mehrere, und wir haben die Dinge in der DDR gesehen, wie sie waren und wollten auch nichts beschönigen. Ich habe in der DDR nicht alles vorbehaltlos gut geheißen, aber es war gerade eine Periode der relativen Offenheit, es gab kritische Ansätze.

Ich arbeitete sogar 1966 ein gutes halbes Jahr lang in der russischen Buchhandlung 'Das internationale Buch'. Die Buchhandlung lag im Zentrum Ostberlins, nahe des Grenzübergangs zu dem damaligen Westberlin Checkpoint Charly. In die Buchhandlung kamen Kunden, die an russischen Büchern und Schallplatten interessiert waren.

Meine Frau Jutta und ich heirateten in Ostberlin, im Rathaus Köpenick. Dann mussten wir noch ein Jahr warten, bis sie zu mir nach Israel durfte. Im August 1967 kam Jutta. Meine Mutter war Anfang März 1967 gestorben und konnte meine Frau nicht mehr kennen lernen.

Jutta kam nach Israel, als der 'Sechs-Tage-Krieg' 12 1967 zu Ende war, aber noch Kriegszustand herrschte. Sie kam auf dem Flughafen an, als völlige Dunkelheit herrschte. Ich war noch beim Militär, der Mann einer Arbeitskollegin holte sie vom Flughafen ab.

Wir etablierten uns dann, sie lernte die Verwandten kennen, integrierte sich, lernte die Sprache. Im Jahre 1968 entfernte ich mich von meiner ursprünglichen politischen Bewegung im verstärkten Maße. Es gab nationale und internationale Gründe dafür:

Die Einstellung der Sowjetunion zu Israel im Jahre 1967 während des Krieges, auch die Einstellung der Sowjetunion zu den Bestrebungen in der Tschechoslowakei, ein etwas liberaleres demokratisches Leben zu führen. Diese und noch verschiedene andere Gründe, haben mich und eine ganz Reihe anderer Leute bewogen, der kommunistischen Bewegung Ade zu sagen.

Nach dem 'Sechs-Tage-Krieg' gab es immer wieder kriegsähnliche Situationen. Es gab den jahrelangen Zermürbungskrieg zwischen Israel und Ägypten, der jeden Bürger betraf, weil man jedes Jahr seinen Reservedienst bei der Armee verrichten musste.

1973 unternahm Ägypten den Versuch, den Suezkanal zu stürmen und die Sinai-Halbinsel, inklusive den Gaza-Streifen zurückzuerobern. Dieser 'Jom Kippur-Krieg' 13 überraschte das ganze Land vollständig. Man war darauf absolut nicht gefasst, der israelische Geheimdienst und insbesondere der militärische Geheimdienst haben total versagt.

Persönlich betraf es mich, da ich, aufgewühlt durch den Ausbruch des Krieges ausgerechnet in der friedlichen Feiertagsatmosphäre eines Jom Kippur meiner Frau sagte: 'Jetzt hör mal gut zu, ich bin schon so alt geworden, ich möchte, dass dieser Krieg mein letzter Krieg in Israel gewesen ist.'

1975 ergab sich dann eine Möglichkeit, weil ich durch Kontakte mit einer Buchhandlung in Wien die Möglichkeit sah, eine Arbeit zu bekommen.

Es fiel uns wahrlich nicht leicht. Meine Kindheit, meine Jugend, einen guten Teil meines Lebens, auch meinen Bruder Yoram und Familie, Bekannte und Freunde ließ ich hinter mir. Jutta fiel es auch nicht leicht. Sie war acht Jahre in Israel, die hatten es ihr angetan. Sie fand sich zurecht, sie hatte sich sehr wohl gefühlt und aus wirtschaftlichen Erwägungen sind wir ja auch nicht weg.

Ich bekam nicht automatisch die österreichische Staatsbürgerschaft. Die Tatsache, dass ich in Wien geboren bin, verhalf mir nicht automatisch zur Erlangung der Staatsbürgerschaft. Es ist ja bekannt, dass es damals, 1938, den Staat Österreich nicht mehr gegeben hatte und so konnte man die Hände in Unschuld waschen.

Es gab das Heimatrecht wahrscheinlich, ich hatte keines. Von meinem Vater, das heißt vom Back, existierte ein Heimatschein, aber ich war ja nicht sein leiblicher Sohn. Ich konnte aber ganz gut fünf Jahre lang ohne österreichische Staatsbürgerschaft leben und mit der Staatsbürgerschaft, die ich im Jahre 1980 erhielt, war dieses Kapitel abgeschlossen.

Ich habe nie bereut, nach Wien gegangen zu sein. Die Entwicklungen in Israel haben bestätigt, dass ich leider im Recht mit meiner Annahme war. Hier in Österreich sehe ich mich als Mensch, der Stellung nehmen muss, sei es zu antidemokratischen Maßnahmen, sei es zu gefährlichen Entwicklungen wie Rechtsradikalismus oder Neonazismus, und dazu habe ich nicht immer nur Meinungen gehabt, sondern habe mich aktiv an der Bekämpfung beteiligt.

Mein Sohn Robert wurde am 8. Juli 1977 geboren. Er besucht die Tourismusschule, fährt nicht oft, aber gern seine Verwandten in Israel besuchen. Engen Kontakt haben wir zu meinem Bruder Yoram und seiner Familie. Yoram ist Techniker am berühmten Technion in Haifa, er malt, er taucht und arbeitet künstlerisch mit Metall. In letzter Zeit interessiert er sich verstärkt für die Familiengeschichte. Mindestens ein bis zweimal im Jahr kommt er uns in Wien besuchen.

Er hat drei Kinder, Mor arbeitet in Tel Aviv in der Gastronomie, die Tochter Merav arbeitet in einem Büro und der Jüngste, Avidan, studiert Psychologie. Meine Frau und ich besitzen noch unsere Wohnung in Haifa, wir fahren einmal im Jahr nach Israel, aber ich sehe die Entwicklung des Landes sehr kritisch. Trotzdem ist und bleibt Israel meine Heimat.

  • Glossar:

1 Kladovo

Kladovo ist ein serbisches Dorf an der Donau. Der 'Kladovo- Transport' ist der [misslungene] Versuch, über 1000 Juden von Bratislava aus über die Donau nach Palästina zu bringen und so zu retten. Das Schiff erreichte Kladovo und die Flüchtlinge blieben dort stecken. Nur etwa 200 Jugendlichen gelang es wenige Tage vor dem Überfall auf Jugoslawien [April 1941], nach Palästina zu entkommen.

2 Fall, Leo

geboren: 1873 in Olmütz [Olomouc, Tschechische Republik], gestorben 16. 9. 1925 Wien, Komponist, Meister der jüngeren Wiener Operette.

3 Haschomer Hatzair [hebr

: 'Der junge Wächter']: Erste Zionistische Jugendorganisation, entstand 1916 in Wien durch den Zusammenschluss von zwei jüdischen Jugendverbänden. Hauptziel war die Auswanderung nach Palästina und die Gründung von Kibutzim. Aus den in Palästina aktiven Gruppen entstand 1936 die Sozialistische Liga, die sich 1948 mit der Achdut Haawoda zur Mapam [Vereinigte Arbeiterpartei] zusammenschloss.

4 Jewish Welcome Service

Im Jahre 1980 wurde auf Initiative des damaligen Bürgermeisters Leopold Gratz und Stadtrats Heinz Nittel gemeinsam mit Leon Zelman das Jewish Welcome Service Vienna gegründet, mit dem Ziel die Präsenz einer lebendigen jüdischen Gemeinde nach der Shoah zu dokumentieren.

Das Jewish Welcome Service Vienna sieht seine Hauptaufgaben in der internationalen Öffentlichkeitsarbeit für die jüdische Kultur in Österreich. Im Sinne der weltoffenen Tradition Wiens und des Judentums sollen Brücken für die Zukunft geschlagen werden, um Vorurteile abzubauen und zum besseren Verständnis zwischen Juden und Nichtjuden beizutragen.

5 DP-Lager waren Einrichtungen zur vorübergehenden Unterbringung so genannter 'Displaced Persons' nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Deutschland, Österreich und Italien

Als 'Displaced Persons' galten Menschen, die in Folge des Zweiten Weltkriegs aus ihrer Heimat geflohen, verschleppt oder vertrieben worden waren, z. B. Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter, Konzentrationslagerhäftlinge und Osteuropäer, die vor der sowjetischen Armee geflüchtet waren.

6 Bürgerkrieg in Österreich [Februarkämpfe 1934]

Die Gegensätze zwischen den Sozialdemokraten und den Christlichsozialen bzw. der Regierung führten im Februar 1934 zum Bürgerkrieg in Österreich. Die Februarkämpfe brachen in Linz aus und breiteten sich nach Wien aus. Der unorganisierte Aufstand forderte mehr als 300 Tote und 700 Verwundete [auf beiden Seiten]. Außerdem führte er zum Verbot der Sozialdemokratischen Partei und der Gewerkschaften sowie die Ausrufung 1934 des Ständestaats.

7 Republikanischer Schutzbund

1923/24 gebildete paramilitärische Organisation; sollte für die Sozialdemokraten ein Ersatz für das von den Christlich-sozialen beherrschte Bundesheer sein und war später das Pendant zur christlich-sozialen Heimwehr; wurde 1933 von der Regierung Dollfuß aufgelöst, blieb aber illegal bestehen.

Nach der Niederlage im Bürgerkrieg wurden viele Mitglieder verhaftet, einige flüchteten in die ?SR und in die Sowjetunion, wo unter Stalin viele umkamen, manche kämpften im Spanischen Bürgerkrieg in den Internationalen Brigaden.

8 HJ

Hitler-Jugend, Nazi-Jugendorganisation für Jungen

9 BDM

Bund Deutscher Mädel, Nazi-Jugendorganisation für Mädchen

10 Dayan, Moshe

Israelischer General und Politiker [1915-1981]. Als Außenminister Israels führte er die Verhandlungen in Camp David.

11 Rommel, Erwin [1891 - 1944]

Seit 1942 Generalfeldmarschall; während des 2. Weltkrieges befehligte er unter anderem die deutschen Truppen in Nordafrika; verübte 1944 Selbstmord.

12 Sechstagekrieg

Dauerte vom 5. Juni bis zum 10. Juni 1967. Die Kriegsgegner waren Israel und die arabischen Nachbarstaaten Ägypten, Jordanien und Syrien. Israel eroberte den Gazastreifen, die Sinai- Halbinsel, die Golanhöhen und das Westjordanland.

13 Jom-Kippur-Krieg [1973]

der vierte israelisch-arabische Krieg; begann mit einem Überraschungsangriff Ägyptens und Syriens am Jom-Kippur auf den Sinai und die Golan-Höhen, die Israel im Sechstagekrieg erobert hatte. Zunächst rückte die ägyptische und syrische Armee vor, danach wendete sich das Kriegsglück.

Nach der zweiten Kriegswoche waren die Syrier vollständig aus den Golanhöhen abgedrängt worden. Im Sinai hatten die Israelis den Suezkanal überschritten und eine ägyptische Armee abgeschnitten, bevor der Waffenstillstand in Effekt trat.