Johanna Tausig

Johanna Tausig auf einer Feier

Johanna Tausig
Wien
Österreich
Datum des Interviews: August 2004 
Name des Interviewers: Tanja Eckstein

Frau Tausig, von ihren Freunden liebevoll Hansi genannt, ist 84 Jahre alt und erstaunlich mobil. Es war nicht leicht, sie zu Hause zu erreichen, denn mehrere Tage in der Woche ist sie in der Stadt unterwegs. Dort trifft sie ihre Freundinnen jeden Mittwoch zu Museums- und Ausstellungsbesuchen. Die Gruppe umfasst zehn bis fünfzehn Personen - alle politisch Links - teilweise sind das noch Freundinnen aus der Emigrationszeit in England. Nach jedem Ausstellungsbesuch gehen sie zusammen Mittagessen und diskutieren immer wieder über heutige Politik und die Rätsel der Geschichte. Frau Tausig hat außerdem zwei Konzert-Abonnements, ein Abonnement fürs Englische Theater, und sie spielt mit einer Gruppe regelmäßig Karten. Eine enge, liebevolle Beziehung hat sie zu ihrem Sohn, der Schwiegertochter und dem bereits erwachsenen Enkel. Sie ist eine wunderbare Erzählerin und nachdem unsere erste Sitzung sieben Stunden dauert, bin ich müde und erschöpft; sie hingegen ist noch frisch. Wenige Tage später sitzen wir wieder beisammen, und sie erzählt ihre Lebensgeschichte weiter.

Johanna Tausig ist im April 2015 gestorben.

Meine Familiengeschichte
Meine Kindheit
Der Einmarsch der Deutschen
Mein Bruder
Meine Emigrationszeit in England
Rückkehr nach Wien
Glossar

Meine Familiengeschichte

Mein Großvater väterlicherseits, Max Pick, jüdisch Mordechei, wurde 1841 geboren. Die Großmutter Johanna, geborene Lerchenfeld, wurde 1851 geboren. Beide habe ich nicht kennen gelernt. Sie kamen Ende des 19. Jahrhunderts aus der ungarischen Stadt Közseg mit ihren Söhnen Geza und Jenö nach Wien. Der Großvater war Kolonialwarenhändler. Sie wohnten in Wien in der Heinzelmanngasse, im 20. Bezirk. Mein Vater, Emil Pick, jüdisch Schlomo, wurde am 29. Mai 1888 in Wien geboren. Zehn Jahre später, 1898, starb sein Vater. Meine Großmutter Johanna starb 1911. Vor kurzem erfuhr ich, dass die Großeltern auf dem Zentralfriedhof beerdigt wurden. Auf den Fotos, die ich von ihnen besitze, machen sie einen gutbürgerlichen Eindruck. Ich würde denken, sie kamen aus dem bürgerlichen Milieu.

Onkel Geza wurde am 16. Januar 1882 in Szecseny, der damaligen Österreich- Ungarischen Monarchie, geboren. Er war mit Charlotte, die 1886 in Rudnik [heute Polen] geboren wurde, verheiratet. Sie hatten zwei Töchter: Luzie, die 1910 und Edith, die 1911 in Wien geboren wurde. Die Familie wohnte in der Diehlgasse, im 5. Bezirk. Die Ehe wurde geschieden, ich glaube, weil Onkel Geza ein Spieler war. Er starb bereits 1929, nachdem er noch kurze Zeit bei uns wohnte, in einem Krankenhaus. Charlotte wurde im Januar 1942 nach Riga deportiert und ermordet. Edith war mit Dr. Egon Hofbauer verheiratet. Ihnen gelang 1938 die Flucht nach Frankreich und über die Pyrenäen weiter nach Spanien. Nach dem Krieg gingen sie nach New York und handelten dort sehr erfolgreich mit Fahrradteilen. Sie haben eine Tochter Cary Fox, die in New York eine erfolgreiche Logopädin ist und die zwei Söhne hat. Ein Sohn, John Hofbauer, ist ein sehr erfolgreicher Augenarzt in Beverly Hills. Edith starb 2003 in New York.

Luzie war mit dem Psychiater Heinz Winnik verheiratet, der in Rumänien geboren war und in Wien Medizin studiert hatte. Sie flohen 1938 nach Rumänien und überlebten dort den Holocaust. Heinz arbeitete nach dem Krieg als Arzt in einer psychiatrischen Klinik. Ungefähr 1947 verließen sie das kommunistische Rumänien, weil sie sich durch die Russen bedroht fühlten und emigrierten nach Palästina. Giora wurde geboren und Heinz übernahm die psychiatrische Abteilung eines Krankenhauses in Jerusalem. Er lehrte auch an der Universität. Giora wurde ein sehr erfolgreicher Kinderarzt in New York. Nach dem Tod ihres Mannes, Heinz starb vor ungefähr 10 Jahren in Jerusalem, übersiedelte Luzie zu ihrem Sohn nach New York. Luzie ist jetzt 94 Jahre alt. Sie kommt jedes Jahr nach Wien, und auch dieses Jahr hat sie sich wieder angekündigt.

Onkel Jenö war mit Irma verheiratet. Ihr Sohn Fritz wurde 1923 geboren. Jenö war Prokurist in einer Teppichfirma. Sie wohnten im 7. Bezirk, in der Zieglergasse, in einer großen, schönen Wohnung. Wir besuchten sie regelmäßig, und jedes Mal steckte mir Onkel Jenö Taschengeld zu. Tante Irma war eine nervöse Frau und Fritz war ein nervöses und kränkliches Kind, das seine Mutter oft zur Kur nach Kaltenleutgeben begleitete. Allen gelang die Flucht nach Brasilien, wo Fritz aber noch sehr jung in Rio starb. Als Tante Irma starb, heiratete Onkel Jenö Tante Irmas Schwester.

Mein Vater besuchte in Wien die Bürgerschule und vielleicht die Handelsschule, aber das weiß ich nicht genau.

Mein Großvater mütterlicherseits hieß Berthold Medak. Er wurde 1851 geboren und lebte mit der Großmutter Regine, geborene Strach, die 1850 geboren wurde, in Slavkov u Brna [heute Tschechien]. Der deutsche Name der Stadt ist Austerlitz. Die Großeltern heirateten 1877. Das weiß ich deshalb, weil wir 1927 die goldene Hochzeit der Großeltern feierten, und ich bestimmt drei- oder viermal ein Gedicht aufsagen musste, denn immer wenn neue Gäste kamen hieß es: 'Hansi, sag noch einmal das Gedicht!' Wann die Familie nach Wien übersiedelte, weiß ich nicht, aber alle sieben Kinder wurden in Slavkov u Brna geboren. Es gab auch eine Verwandte meiner Großmutter in Wien. Sie hieß Kati Strach, war entweder die nicht verheiratete Schwester oder die Schwägerin meiner Großmutter. Sie hat mich immer zur Begrüßung schmerzhaft in die Wangen gekniffen.

Meine Großeltern waren für unsere heutigen Begriffe unvorstellbar arm. Die Wohnung im 18. Bezirk, in der Semperstraße 59, bestand aus einer Küche und einem Kabinett. Klo und Wasser waren am Gang. In dieser Wohnung lebten sie mit ihren sieben Kindern. Wie das funktionierte, kann ich mir überhaupt nicht vorstellen. Zwei schliefen immer in einem Bett zusammen und es gab Aufstellbetten für die Küche. Erst als die älteren Kinder in der Lehre waren, bekamen die Großeltern die Nachbarwohnung dazu. Das war auch eine Zimmer-Küche -Wohnung, aber es war schon eine große Erleichterung. Als meine Cousine Helen einmal aus San Francisco in Wien zu Besuch war, wollten wir uns die Wohnung noch einmal anschauen, weil wir uns nicht mehr vorstellen konnten, wie das Leben in dieser Wohnung räumlich überhaupt möglich war. Wir konnten uns nicht vorstellen, wo die alle geschlafen hatten. Aber dann trauten wir uns nicht anzuläuten. Also bleibt das ein ungelöstes Rätsel, wie das überhaupt funktionierte. Meine Mutter sagte einmal, dass sie ihr ganzes Leben lang, bis mein Vater starb, nie allein in einem Bett geschlafen hatte.

Mein Großvater war Pferdeknecht. Die Großeltern kamen sicher aus einem Dorf, weil meine Großmutter öfter von Kühen sprach und wenn jemand sagte, er habe viel zu tun, dann sagte sie: 'Was hast du zu tun, den Kühen den Schweif raufzubinden?' Solche Sprüche weisen doch eher auf ein ländliches Ambiente hin.

Im Dorf war mein Großvater wahrscheinlich Fuhrwerker. Das weiß ich nicht genau, aber in Wien arbeitete er bei der städtischen Straßenbahn. Seine frühe Pensionierung fiel mit der Umstellung der Pferdebahn auf die Dampftramway zusammen. Da wurde er nicht mehr gebraucht. Wir haben uns das ausgerechnet, weil die Familie immer sagte: Großvater ist schon 20 Jahre in Pension.

Der Großvater war ein sehr religiöser Mann. Jeden Tag ging er in der Früh zu Fuß in die Schopenhauerstrasse in den Tempel, weil er als Schammes 1 im Tempel das Morgengebet vorbereitete. Ich war noch zu klein, aber meine Cousine Helen, die acht Jahre älter ist als ich und die diese Zeit bewusst miterlebte, erzählte mir das. Sie erzählte auch, dass er auf dem Weg zum Tempel immer beim Branntweiner einkehrte und sich ein Stamperl Schnaps genehmigte.

Wir gingen alle sehr häufig zu den Großeltern, sie wohnten nicht weit von uns entfernt. Zu mir war der Großvater sehr lieb und fand immer Beschäftigungen für mich, damit mir nicht langweilig wurde. Neben dem Küchenherd war das Holz zum Heizen des Herdes gestapelt, und das durfte ich zum Beispiel sortieren. Der Großvater stand stundenlang am Herd und rührte Powidl [Pflaumenmus], kochte das Essen und reparierte kaputte Reindln [Töpfe]. Ich war als Kind eine sehr schlechte Esserin. Ich erinnere mich an den Sederabend 2, dass mein Großvater, ich saß neben ihm, mir immer von dem Ganslfleisch ein bisschen auf meinen Teller legte. Das aß ich dann auch, und das werde ich nie vergessen. Er war Pfeifenraucher, saß auch oft auf seinem Stockerl [Schemel, Hocker] und hörte den anderen zu. Wenn er aber etwas sagen wollte, waren sofort alle still, denn er war eine Autorität. Meine Großmutter war auch sehr lieb zu mir, aber die Beziehung von Großmutter und Enkelkind war ganz anders als heute. Auch sie war eine Respektsperson, man widersprach ihr nicht, und sie mischte sich nicht ein. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich je ein Problem mit ihr hatte. Zu den hohen Feiertagen lieh sie sich immer den schwarzen Hut meiner Mutter aus. An jedem Feiertag wanderte der Hut von meiner Mutter zu meiner Großmutter.

Am Jom Kippur 3 besuchten meine Eltern, mein Bruder und ich die Großeltern immer im Tempel. Wir wünschten ihnen gut Jom Tov [Jom Tov: hebr.: Feiertag], verließen aber danach den Tempel wieder. An den hohen Feiertagen traf sich die ganze Familie, außer dem Onkel Siegfried, bei den Großeltern. Onkel Siegfried war zum katholischen Glauben übergetreten.

Onkel Siegfried war der älteste Bruder meiner Mutter und der einzige, der es zu etwas gebracht hatte. Er war selbstständig, hatte eine Maler- und Anstreicherfirma, lebte in Döbling, war mit Tante Maria verheiratet und Mitglied der Christlich-Sozialen Partei, dem Vorläufer der ÖVP. Er führte sogar die Kinder seiner Parteifreunde als Pate zur Firmung und finanzierte viel für die Partei. Er war ein Übereifriger, wie das oft bei Leuten ist, die übertreten. Aber er kümmerte sich auch um die Großeltern. Er kaufte ihnen zum Beispiel das erste Radio. Das war die Sensation in der Familie: Wir saßen alle drum herum und sahen das erste Mal im Leben ein Radio. Das Radio war ein Kopfhörer - mein Großvater und meine Großmutter pressten je ein Ohr daran - und ich weiß noch, dass der Großvater sagte: 'Regi, man hört!' Das wurde dann so ein Spruch in der Familie: Regi, man hört! Das war sehr aufregend! Als der Großvater gestorben war, hat Onkel Siegfried immer im Winter das gesamte Heizmaterial für die Großmutter gekauft.

Onkel und Tante haben in der Rudolfinergasse in einem Haus mit einem großen Garten gewohnt, in dem Nussbäume und Zwetschgenbäume standen. Wir besuchten sie oft. Sie waren sehr nett zu uns. Der Onkel war als junger Mann in Deutschland, warum, weiß ich nicht, aber ich glaube, er war auf der Walz. Dort hatte er einen unehelichen Sohn hinterlassen. Der Sohn wollte 1933 zur SS gehen, denn er wusste nicht, wer sein Vater war. Er musste einen Ariernachweis 4 erbringen, und da stellte sich heraus, dass sein Erzeuger mein Onkel Siegfried war. Daraufhin kam er nach Wien und sagte zu meinem Onkel: 'Da bin ich, du bist an allem Schuld und jetzt wirst du mich erhalten.' Sie richteten ihm im Haus ein Zimmer ein. Von dem Moment an, das war dann Familientratsch, tat der junge Mann nichts mehr. Als der Krieg begann, wurde er als Halbjude zur Organisation Todt 5 eingezogen und starb in Russland.

Meine Mutter war mit Onkel Siegfrieds Frau Maria befreundet. Wenn die Zwetschken [Pflaumen] reif waren, brachte meine Mutter immer sehr viele nach Haus und kochte sie ein. Nüsse bekamen wir auch immer geschenkt. Jede Woche lud die Tante meine Mutter ins Dianabad, ins Dampfbad, ein. Das war, nachdem mein Vater nicht mehr lebte. Onkel Siegfried überlebte den Holocaust in Wien - zum Teil mit Hilfe seiner Parteifreunde. Die letzten sechs Monate des Krieges wurde es sehr gefährlich für ihn, aber er konnte sich auf dem Dachboden seines Hauses verstecken. Als ich 1946 aus der Emigration aus England zurück nach Wien kam, war ich eine sehr aktive Kommunistin und Onkel Siegfried war weit rechts stehend bei der ÖVP. Ich besuchte ihn einmal, wir redeten und ich dachte: Ich bin froh, dass er überlebt hat, aber was habe ich eigentlich mit ihm gemein? Was tu ich bei dem? Das klingt heute idiotisch und unfassbar, aber so war es!

Nachdem mein Großvater 1929 gestorben war, ging meine Mutter fast täglich zu ihrer Mutter und blieb immer ein Weilchen bei ihr. Als ich etwas älter war, besuchte auch ich oft die Großmutter. Nach dem Tod des Großvaters ging sie nicht mehr in den Schopenhauer Tempel sondern in einen Saal im Restaurant 'Zum Auge Gottes' in der Nußdorfer Straße, der von der Kultusgemeinde zu den hohen Feiertagen angemietet wurde. Sie war schon alt, und alte Leute waren damals gebrechlicher als heute. 1935 starb die Großmutter.

Mein Onkel Alois Medak und seine Frau Rosa waren schon tot, als ich geboren wurde. Onkel Alois war von Beruf Posamentierer. Posamentierer fertigten Schnüre, Bänder, Borten, Kordeln zur Dekoration von Polstermöbeln, Vorhängen, Lampenschirmen, Uniformen, Trachtenmode und Hutschmuck an. Onkel Alois starb 1917 an den Folgen eines Lungenschusses im 1. Weltkrieg, Tante Rosa starb 1918 an der Spanischen Grippe. Sie hatten drei Kinder: Rudolf war 1909 geboren, Helene 1912 und Emanuel 1914. Den Rudolf nahmen nach dem Tod der Eltern meine Großeltern zu sich, Helene und Emanuel mussten ins jüdische Waisenhaus. Das Waisenhaus war in Döbling [19. Bezirk] bei der Hohen Warte. Sie waren nicht zusammen, es gab ein Buben- und ein Mädchenhaus. Mit dem Rudi hatte ich weniger Kontakt, er war zwölf Jahre älter als ich. Nach dem Abschluss der Pflichtschule machte er beim Onkel Siegfried im Malerbetrieb eine Lehre und wurde auch Maler. Er emigrierte ziemlich spät, wartete in London noch im Kitchener Camp 6, heiratete in London und bekam seine Tochter Susan. Ich traf ihn noch oft in London.

Helene wollte immer Krankenschwester werden, lernte aber nach ihrer Schulzeit drei Jahre in einer Schneiderei. Mit 18 Jahren besuchte sie die Krankenpflegeschule der Gemeinde Wien und wurde Krankenpflegerin. Sie bekam aber keinen Job, denn es waren schwere Zeiten damals. Onkel Hans Schreiber war Zahlkellner, so hieß das damals, Marqueur sogar, im Kaffee Astoria. Das Kaffee war im 9. Bezirk und sehr viele jüdische Ärzte verkehrten dort. Onkel Hans war der nichtjüdische Ehemann von Tante Klothilde, der Schwester meiner Mutter, die am 30. Dezember 1883 geboren wurde. Tante Klothilde war gelernte Schneiderin, hatte aber nach der Heirat mit Onkel Hans aufgehört zu arbeiten. Im Kaffeehaus knüpfte Onkel Hans den Kontakt für Helene mit dem Rothschild Spital, und sie bekam dort eine Stelle als Operationsschwester. Im Rothschild Spital lernte sie auch ihren späteren Mann, Dr. Herbert Kulka, der als Gynäkologe arbeitete, kennen. Herbert Kulka kam aus einer wohlhabenden jüdischen Familie. Die Familie wohnte in Wien in der Reichsratsstraße [1. Bezirk], mitten in der Stadt, in einer riesigen Wohnung. Im Jahre 1938, nach dem Einmarsch der Deutschen in Österreich, wurde Herbert in das KZ Dachau [Deutschland] deportiert. Seine alte Tante, die in London lebte, schickte für ihn ein Permit [Visum]. Er wurde aus Dachau mit der Auflage entlassen, binnen kurzer Zeit Österreich zu verlassen. Herbert flog sofort nach seiner Entlassung mit dem Flugzeug nach London. Ich holte ihn vom Flughafen ab, er war kahlgeschoren. Ich brachte ihn zu seiner Tante, denn Helene war zu dieser Zeit noch in Wien. Herbert war religiös, aber als er aus dem KZ entlassen wurde, war er noch religiöser geworden. In London sahen wir uns dann einige Male. Herbert und Helene verließen nach ungefähr einem Jahr England und gingen mit einem Affidavit 8 nach San Francisco, wo ihr Sohn David geboren wurde. In England hatte Herbert als Arzt nicht arbeiten dürfen, in Amerika wurde er ein sehr erfolgreicher Arzt. Ich besuchte Helen, nachdem ihr Mann 1964 gestorben war, jedes Jahr und die letzten Jahre ihres Lebens sogar zweimal im Jahr. David, der Sohn, ist Lehrer und in San Francisco mit einer katholischen Christin, die in Amerika eine Minderheit bilden, verheiratet. David ist bewusst jüdisch, auch Helen war sehr aktiv in der Synagoge.

Onkel Hans starb vor dem Holocaust, Tante Klothilde wurde im Alter von 59 Jahren, am 11. Januar 1942, nach Riga deportiert und ermordet.

Emanuel, das dritte Waisenkind, machte eine Lehre im Textilviertel am Kai am Salzgries bei der Firma 'Weiss und Grossmann'.

Theodor Schreiber war der Bruder meines Onkels Hans Schreiber. Er war der Gärtner am alten jüdischen Friedhof, der dem Währinger Park angeschlossen ist. Seit einhundert Jahren wird auf dem Friedhof niemand mehr beerdigt, und wir spielten oft als Kinder beim Onkel Theodor auf dem Friedhof, denn das war wie ein Park. Da waren wir mit meiner Mutter und mit Hans und Grete.

Tante Ella war eine Schwester meiner Mutter. Diese Geschichte ist sehr traurig, weil der Mann von Tante Ella, David Gang, ein Spieler war. Von Beruf war er Buchhalter, aber er war sieben Jahre arbeitslos. Das war eine sehr schlechte Ehe. Die Familie war schrecklich arm, um vieles ärmer als wir, und wir waren schon arm. Die Kinder, Grete wurde 1923 geboren und Hans 1925, aßen regelmäßig bei uns oder bei der Tante Klothilde. Tante Ella arbeitete als Hausschneiderin. Da verdiente sie fünf Schilling am Tag und das Essen. Sie ging in die Haushalte und nähte dort den ganzen Tag: Reparaturen, enger machen, kürzer machen, wenden, manchmal auch etwas Neues anfertigen. Ich weiß noch, dass Tante Ella einen Teil von dem Essen, dass sie in den Haushalten bekam, für die Kinder mit nach Hause nahm. Sie wohnten in einem Gemeindehaus im 18. Bezirk. Als Hitler einmarschierte, verteilten die deutschen Soldaten Essen aus Gulaschkanonen an die Bevölkerung. Da brachten ihnen die Leute aus dem Haus auch etwas zu essen mit. Alle wussten, dass sie Juden sind, und sie taten es trotzdem. Die Hausbewohner waren sehr solidarisch, aber sie konnten Tante Ella und Onkel David nicht retten.

Nach dem Krieg war ich mit Hans und Grete, wenn sie in Wien zu Besuch waren, noch einige Male im Haus. Wir unterhielten uns mit den Leuten. Es gab einen Sozialdemokraten, den wir noch von vor 1934 kannten. Es war sehr tragisch, denn sie versicherten uns wirklich glaubhaft, dass sie nicht helfen konnten. Tante Ella und Onkel David, beide waren Jahrgang 1892, wurden am 11. Januar 1942 nach Riga deportiert und ermordet.

Tante Henriette wurde am 14. Mai 1885 geboren. Sie war Buchhalterin und blieb unverheiratet. Als alle Kinder aus der elterlichen Wohnung ausgezogen waren - in der einen Wohnung blieb meine Großmutter mit dem Rudi - wohnten in der zweiten Wohnung, in der Semperstrasse 59, Henriette und ihre jüngste Schwester Olga. Tante Henriette war die Intellektuelle in der Familie. Sie war die Einzige, die Bücher hatte und viel las. Und sie sagte mir immer wieder, ich solle das oder das lesen. Vielleicht war sie doch keine Intellektuelle, aber sie stach eindeutig aus der Familie heraus - sie war anders. Sie hatte eine Freundin, eine Nichtjüdin, die im selben Haus wohnte. Meine Cousine machte einmal so eine Bemerkung, sie könne lesbisch gewesen sein. Aber niemand wusste es. Sie waren sehr viel beisammen und machten jeden Sonntag Ausflüge. Auch Tante Henriette wurde am 11. Januar 1942 nach Riga deportiert und ermordet. Sie war 57 Jahre alt. Tante Olga, die Hübscheste in der Familie, arbeitete in einer Blindenwerkstatt und schenkte mir oft, sie war sehr lieb, geflochtene Körbchen. 1929 starb sie an Leukämie.

Meine Mutter hieß Rosa Medak, ihr jüdischer Name war Rebekka. Sie wurde am 21. September 1886 in Slavkov u Brna geboren. Vor ihrer Hochzeit mit meinem Vater arbeitete sie als Posamentiererin in der Firma 'Bauer' und organisierte dort den ersten Streik der Posamentierer in Wien.

Ich nehme an, meine Eltern lernten sich 1911 im Arbeiterbildungsverein kennen. Ich besitze noch das alte Stammbuch meiner Mutter, da schrieb ihr mein Vater noch 'per Sie' folgenden Text hinein: Ich soll Ihnen in ihr Stammbuch schreiben Wie soll ich dies anders, als mit einem Wunsch verbinden: Ihr Leben verlaufe wie ein schöner Sommertag; herrlich, rein, wie ein klarer, schöner Sommerregen Angenehm, wie die kühlende Waldluft an einem heißen Mittag in der Natur. Das Glück strahle Ihnen rein, wie der wolkenlose Himmel Und feierlich, ruhig wie ein Sommerabend in den idyllisch ruhigen Gassen des Cottage [Anm.: Villenviertel im 18. Bezirk in Wien, in dem der Vater später auch oft vor seiner Arbeitszeit spazieren ging]. Zum Schlusse, bescheiden wie ich bin, wünsche ich noch, Sie mögen hie und da gedenken Ihres Freundes Emil Pick Wien, 22. Februar 1911

Meine Eltern heirateten am 11. Juni 1914 im 18. Bezirk, im Schopenhauer Tempel. Der Schopenhauer Tempel stand in der Schopenhauerstrasse Nummer 39. Herr Rabbiner Dr. Feuchtwang nahm die Trauung vor, Zeugen waren Berthold Medak, der Vater meiner Mutter und Geza Pick, der Bruder meines Vaters.

Meine Kindheit

Mein Bruder Walter, sein jüdischer Name war Mordechei, wurde am 24. Juli 1915 geboren. Ich war fünf Jahre jünger und kam am 11. Februar 1920 zur Welt.

Die erste Wohnung meiner Eltern befand sich im 20. Bezirk, in der Heinzelmanngasse. Aber das kann nicht sehr lang gewesen sein. Dann zogen sie in den 9. Bezirk, in die Canisiusgasse. Das war eine Zimmer-Küche- Kabinett-Wohnung. Da wohnten wir zu viert: meine Eltern, mein Bruder Walter, und eine Zeit lang im Kabinett die Tante Ella mit ihrem Mann David und ihrer Tochter Grete. Als Tante Ella mit dem Hans schwanger war, bekamen sie ihre Gemeindewohnung im 18. Bezirk. Ich kann mich an vieles erinnern, was sehr weit zurückliegt, aber nicht mehr so genau an das Zusammenleben mit Tante Ella und Onkel David.

Ich war eine sogenannte 'Zigeunerin', immer irgendwo bei irgendwem. Meine Mutter musste mich, wenn es Essen gab, jedes Mal suchen. Schüchtern war ich sicherlich nie. Nebenan war ein Schuster, bei dem saß ich stundenlang, unterhielt mich mit ihm und schaute ihm bei der Arbeit zu.

Meine Mutter war zu Hause, kümmerte sich um den Haushalt und die Kinder und hatte viele Bekannte. Alle Nachbarn waren willkommen. Einmal ließ sie sich die Haare zu einem Bubikopf schneiden, vorher hatte sie so einen Zopf zum Knödel gedreht auf dem Kopf. Als sie mit dem Bubikopf nach Haus kam, strömten alle Nachbarn in unsere Wohnung, um sie zu bestaunen: Frau Pick mit dem Bubikopf, das war sensationell!

Mein Vater arbeitete bei einer Hemdenerzeugung. Er lieferte Arbeit an Heimarbeiterinnen und sammelte sie wieder ein. Damals nannte man das Manipulant. Es wurde sehr viel mit Heimarbeiterinnen gearbeitet, manchmal nahm er mich mit, die Sachen abholen.

Ob es in dem Haus in der Canisiusgasse Juden gab, weiß ich nicht, aber ich glaube, wir waren die einzige jüdische Familie dort. Das spielte aber bei uns auch überhaupt keine Rolle, das hatte keine Bedeutung in meinen Kinderjahren. Das Jüdischsein hätte ich überhaupt nicht bemerkt, außer dass wir nie einen Weihnachtsbaum hatten. Zu Weihnachten bekam ich aber trotzdem immer irgendeine Kleinigkeit geschenkt. Aber es gab keinen Baum und natürlich keine Weihnachtsfeier. Einmal schenkte mir mein Vater zu Weihnachten eine Buchkassette mit drei Tierbüchern von Johann Ferch: 'Hansi, Purzel und der stumme Kamerad'. Das waren ein Pferd, ein Hund und Hansi war ein Vogel. Außerdem bekam ich jedes Jahr von der Firma 'Wasservogel und Liebermann', bei der Firma war mein Bruder Lehrling, und die Inhaberin der Firma kannten wir auch privat, das war die Frau Wasservogel, ein Paket. Der Herr Wasservogel war mit meinem Vater im 1. Weltkrieg zusammen, und er war gefallen. Es gibt ein Foto meines Vaters aus dem 1. Weltkrieg, das er immer zerreißen wollte, denn der 1.Weltkrieg war eine schreckliche Erfahrung für ihn. Die Firma 'Wasservogel und Liebermann' belieferte die Kinder der Polizei mit Weihnachtsgeschenken. Es gab Pakete mit Westerln und Socken und solchen Sachen. Und ich bekam auch jedes Jahr zu Weihnachten so ein Paket von der Frau Wasservogel. Aber was wirklich Besonderes war Weihnachten nicht. Auch das Essen war zu Weihnachten nicht anders als sonst. Aber es war sicher nicht dramatisch für mich, dass wir Weihnachten nicht feierten, denn sonst könnte ich mich daran erinnern. Ich hatte eine Freundin im Haus, die hatten einen Weihnachtsbaum. Da durfte ich immer ein Stückerl Schokolade vom Baum essen. Das war die Familie Böhm, aber wie meine Freundin hieß, weiß ich nicht mehr.

Geburtstage wurden sicher in irgendeiner Form gefeiert, aber eine Geburtstagstorte gab es nicht. Ich bekam vielleicht ein kleines Geschenk, etwas, das ich mir gewünscht hatte.

Meine Mutter ging immer zum Kutschka-Markt einkaufen. Der war ziemlich weit, aber der nächstgelegene Mark in der Nähe der Nußdorfer Straße. Zu essen gab es viel Gemüse, zum Beispiel Kohl mit Erdäpfeln, Spinat mit Erdäpfeln, Kraut, Karotten, oder Kochsalat mit Erbsen. Aber es gab auch Semmelknödeln mit Schwammerlsoße oder Mehlspeisen: Nudelauflauf, Nudeln mit Mohn, Mohnnudeln, Scheiterhaufen aus alten Semmeln. Fürs Wochenende kaufte meine Mutter 30 Deka Faschiertes und ich glaube, das reichte zwei Tage. Mein Vater bekam ein ganzes Fleischlaberl, alle anderen je ein halbes. Mich störte das nicht, weil ich eine besonders schlechte Esserin als Kind war. Genug zu essen gab es immer, gehungert hat keiner von uns.

Schon als Kleinkind ging ich in die Bücherei in der Marktgasse und sagte: 'Bitte ein Tierbuch!' Als Jugendliche las ich viele Bücher. Ich würde sagen, das ging quer durch den Gemüsegarten, alles was damals aktuell war: Franz Werfel 9, Stefan Zweig 10, Ernst Lothar 11.

Noch bevor ich in die Schule kam, im Alter von sechs Jahren, bezogen wir eine Gemeindewohnung, auch im 9. Bezirk, in der Latschkagasse 3-5, 4. Stiege Tür 13. Das waren zwei Zimmer mit Küche und Innentoilette. Das Wasser war in der Wohnung. Da kamen die Leute aus dem Haus in der Canisiusgasse und besuchten uns und bestaunten die Wohnung. Das war purer Luxus, die Toilette in der Wohnung und das Wasser nicht am Gang, sondern in der Wohnung. Das war sensationell, absolut sensationell! Obwohl die Wohnung, wenn ich an die Einrichtung denke, eher ärmlich war - es passte nichts zusammen - war die Wohnung herrlich groß mit Licht, Luft und Sonne. Das war enorm. Heute würde man sagen: Was soll das für ein Luxus sein, keine Zentralheizung, nicht einmal eine Dusche! Mein Bruder und ich schliefen in einem Zimmer und die Eltern im anderen. Tagsüber hielten wir uns immer in der Küche auf. In dem Zimmer, in dem ich mit meinem Bruder schlief, spielte ich auch, wenn die Kinder aus dem Haus mich besuchten. Bei mir war immer ein ganzes Rudel Kinder.

Meine Mutter wurde Hausvertrauensfrau auf unserer Stiege, mein Vater war Fürsorgerat. Mit den Leuten im Haus verstanden sich meine Eltern sehr gut. Mein Vater war sehr aktiv in der sozialdemokratischen Partei tätig. Jede Woche saßen in unserem Vorzimmer Leute, die zu ihm kamen und denen er mit Rat und Tat, oftmals weit über das Maß hinaus, zur Seite stand. Er besuchte auch die Menschen in ihren Wohnungen. Er war ein wirklicher Fürsorgerat.

Der Bekanntenkreis meiner Eltern bestand hauptsächlich aus den Genossen der Sozialdemokratischen Partei, aber ich glaube nicht, dass jemals irgendeiner von den Genossen bei uns privat zu Hause war. Ich kann mich auch nicht erinnern, dass meine Eltern jemals nur so zu Besuch, zum Kaffeetrinken, bei Genossen waren. Weder bei den jüdischen Sozialdemokraten noch bei den nichtjüdischen Genossen. Ihr Privatleben verbrachten meine Eltern eindeutig nur mit der Familie.

Mein Vater war, solange er Arbeit hatte, bis Mittag mit seiner Arbeit beschäftigt. Dann kam er für zwei Stunden nach Hause Mittag essen, das war damals üblich. Danach ging er wieder zur Arbeit. Fast jeden Abend verbrachte er in der Sektion oder im Schutzbund 12. Mein Vater war nämlich auch im Schutzbund.

Am Samstagvormittag wurde gearbeitet und Sonntag, wenn's halbwegs schön war, machten wir Ausflüge. Da waren dann auch die Tante Ella mit den Kindern und die Tante Klothilde dabei, oder nur die Kinder. Wir waren oft eine richtig große Gruppe, aber das war immer Familie. Wir waren große Wanderer. Damals, am Sonntag ging man auf Ausflug mit der Proviantdose. Alles Essen wurde im Rucksack mitgenommen. Als mein Vater arbeitslos war, gingen wir zu Fuß bis nach Grinzing und dann in den Wienerwald und wieder zurück, bis nach Hause. Wir waren nicht die Einzigen, die arm waren, viele hatten kein Geld. Nur zweimal waren wir auf Urlaub, einmal eine Woche in Kaltenleutgeben, ganz in der Nähe von Wien. Mein Vater hatte seine Arbeit noch nicht verloren, und ich war noch klein. Ein zweites Mal waren wir eine Woche in Grub auf einem Bauernhof, das ist bei Heiligenkreutz. Bei diesen Leuten waren wir dann oft auch auf einen Sonntagsausflug.

Eingeschult wurde ich in die Volksschule in der Viriotgasse. Das war eine Glöckel Schule 13. Unser Direktor, der Herr Srb, war Sozialdemokrat. Die Schule war für damalige Begriffe eine moderne Schule. Auch ausländische Delegationen besuchten die Schule. Das organisierte unser Herr Direktor. Ich erinnere mich noch an den Musikunterricht. Alle Kinder durften mitmachen, aber ich bin völlig unmusikalisch und da sagten sie immer zu mir, ich soll beiseite gehen. Meine Lehrerin war eine Christliche, aber da waren auch Lehrerinnen, die mein Vater aus der Sektion kannte, also Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei. Jedenfalls hatten wir ein angenehmes Klima in der Schule, es war sehr locker.

Einmal in der Woche ging ich zum jüdischen Religionsunterricht, der war nicht im selben Schulgebäude. Wir lernten die hebräischen Buchstaben und Geschichten aus der Bibel wurden uns erzählt. Meine Mutter war ein Freidenker, heute würde man sagen Agnostiker. Sie war in einem Verein und ihre Grundhaltung der jüdischen Religion gegenüber war folgende: Es ist alles schön und gut, aber ein Blödsinn und uninteressant, was vor 2000 Jahren aufgeschrieben und gesagt wurde. Es hat für unser heutiges Leben keine Bedeutung mehr. Und kein Schweinefleisch essen oder fasten ist Blödsinn, denn man soll froh sein, wenn man überhaupt etwas zu essen hat. Also diese Ansicht war natürlich auch frühzeitig in mich indoktriniert. Aber ich kann mich nicht erinnern, dass ich mich im Religionsunterricht störend verhalten habe oder dass mir etwas nicht gefallen hätte. Ich habe mir das angehört, aber ich habe daran keine Erinnerung. Ich weiß auch gar nicht mehr, wie der Religionslehrer aussah.

Die Bar Mitzwah 14 meines Bruders fand im Schopenhauer Tempel statt. Ich erinnere mich, wie ich mit meinen Großeltern und meinen Eltern im Tempel saß, die Burschen hereinmarschiert kamen und meine Mutter ganz entzückt sagte: 'Schau, der Walter ist der Letzte, aber der Größte!' Wahrscheinlich feierten wir dann bei den Großeltern in der Wohnung, aber daran erinnere ich mich nicht mehr.

Nach der Volkschule ging ich in die Hauptschule in der Galileigasse, die auch im 9. Bezirk war. In der Hauptschule war eindeutig eine absolute Teilung in der Klasse in Rote und Schwarze. Ich war natürlich Rädelsführerin der Roten und hatte immer den Mund offen. Antisemitismus erlebte ich nicht bewusst, da ging es um Rot und Schwarz und nicht um Jud und Christ. Jedenfalls nicht in meiner Wahrnehmung.

An Frau Intrata, meine Religionslehrerin in der Hauptschule, kann mich aber erinnern. Sie war eine glühende Zionistin, denn sie sprach immer von Israel als einem Land, wo Milch und Honig fließen. Sie war sicher noch jung, aber für uns war sie natürlich 'a Oide' ['eine Alte'].

Eine Zeitlang ging ich mit einem anderen Mädchen am Samstag in den Jugendgottesdienst. In der Rossau war eine kleine Synagoge und da trafen wir junge Leute, auch Buben. Mit Liesl Fellner, einem jüdischen Mädchen aus meiner Klasse, war ich befreundet. Sie gehörte auch zu den Roten, obwohl sie aus einer bürgerlichen Familie kam. Die wohnten in einer sehr schönen Wohnung, aber Geld hatten sie auch keines, denn der Vater war pleite. Ich traf die Liesl dann noch einmal in London. Die Zimmet war eine Jüdin, aber bei ihr war ich nie zu Hause, mit ihr war ich nicht befreundet. Dann gab es eine Luster, sie war offensichtlich eine polnische Jüdin.

Das klingt jetzt nicht besonders gut, aber das muss ich auch sagen: Wir waren Sozialdemokraten und es gab schon den Austrofaschismus 15 und die Heimwehr 16. Das habe ich alles bewusst erlebt, da war ich ja schon 13 und 14 Jahre alt. Aber wenn ich an ein Feindbild denke, dass wir zu Hause hatten, dann waren das die polnischen Juden. Vielleicht ist das völlig normal, dass die erste Emigration etwas gegen die zweite hat. Wir waren die 'Bodenständigen'. Die Ostjuden waren oft orthodoxe Juden und fielen durch ihre Kleidung und ihr Benehmen auf. Schau dir an, wie sie ausschauen! Und außerdem sind sie auch im Geschäftsleben unsauber. Die konnten nicht ordentlich deutsch sprechen und mit denen wollten wir nichts zu tun haben. Wir sind die 'Bodenständigen' und die machen alles kaputt. Die sind schuld am Antisemitismus. Diese Schtetl-Kultur, die wurde bei uns sehr verachtet. Ich glaube zu wissen, dass wir nicht die Einzigen waren, die so gedacht haben. Viele Wiener Juden, die sich assimiliert hatten, wollten mit den Ostjuden nichts zu tun haben. Sie waren an allem Schuld - eindeutig - so Leid mir das tut.

Als ich 1938 nach England kam, waren die deutschen Flüchtlinge schon zwei, drei Jahre vor uns da und die sagten: 'Um Gottes willen, jetzt kommen auch noch die Österreicher!' Sofort fiel mir unsere Einstellung gegenüber den Ostjuden ein. Da spürte ich am eigenen Leib diese vollkommene Ablehnung. Einmal hatte ich eine Halsentzündung und wurde zu einem deutschen Arzt geschickt. Ich war noch nicht lange in England und mein Englisch war noch nicht gut. Der Arzt verhielt sich mir gegenüber schrecklich arrogant - das war unfassbar! Ich spürte eine hundertprozentige Ablehnung, nur, dass er mich nicht rausgeschmissen hat. Das war typisch, das war kein Einzelfall.

Mein Bruder war fünf Jahre älter als ich. Meine Mutter sagte immer, er sei das komplette Gegenteil von mir. Was ich zu viel redete und immer noch rede, redete er zu wenig. Er besuchte fünf Jahre die Volksschule, drei Jahre die Mittelschule und begann mit einer Lehre im Textilviertel am Kai. Er bekam einen Lehrplatz bei der Firma 'Wasservogel und Liebermann' im 1. Bezirk und wurde nach der Lehre, es gab eine sechsmonatige Behaltepflicht, das war damals Gesetz, entlassen. Das war schon mitten in der Wirtschaftskrise. Er war dann kurzfristig arbeitslos und bekam dann eine Stelle als Volontär bei der Firma 'Bernhard Altmann'. Die Firma war damals sehr bekannt: gehobene Mittelklasse, Standard in Wirk- und Strickwaren. Dort arbeitete mein Bruder bis zu seiner Flucht in die Schweiz. Herr Altmann stellte meinem Bruder am 16. Juli 1938 folgendes Zeugnis aus: 'Ich bestätige hiermit, dass Herr Walter Pick vom 25. September 1933 bis 16. Juli 1938 in meinem Unternehmen beschäftigt war. Trotzdem er technische Strickkenntnisse besitzt, war er zumeist der Expeditions-Abteilung zugeteilt und da er sich vermöge seiner Intelligenz in allen Zweigen des Expeditionswesens wie: Verzollung, Versicherung, Transport durch Post, Eisenbahn, Schiff, Flugzeug weiters Zollvermerk etc. umfassende Kenntnisse erworben hat, war er in der Lage, in der Expedition nicht nur vorzügliche Dienste zu leisten, sondern sogar zeitweise (bei Urlaub oder Erkrankung seiner Vorgesetzten) der Abteilung vorzustehen. Ich kann Herrn Pick, der sich infolge seines schlichten, freundlichen und gefälligen Wesens sowohl bei seinen Vorgesetzten als auch bei der Kollegenschaft allgemeiner Wertschätzung erfreut auf das Beste empfehlen und bedauere, dass mich die geänderten Verhältnisse gezwungen haben, ihn zu kündigen. p. pa. Bernhard Altmann'

In der Firma gab es einen eigenen Sportverein, Walter spielte Fußball. Walter und unser Cousin Emanuel lernten in dieser Zeit Leo Wildmann, einen sehr gut aussehenden jungen Mann und Adolf Kinsbrunner kennen. Leo und Adolf arbeiteten auch in Textilfirmen am Kai. Alle waren Mitglieder im 'Zentralverband der kaufmännischen Angestellten Jugend'. Der Zentralverband war eine Unterorganisation der sozialdemokratischen Jugendorganisationen. Die vier waren gute Sportler und verbrachten dann regelmäßig ihre Freizeit miteinander. Sie fuhren Ski, schwammen, wanderten und waren Bergsteiger. Das war eigentlich üblich bei jungen Leuten, denn Reisen, so wie das heute normal ist, konnte sich damals kaum jemand leisten. Die Wochenenden verbrachte man im Wienerwald, Urlaube bestenfalls irgendwo in Österreich.

Eine feste Freundin hatte, glaube ich, keiner der vier. Aber ich glaube nicht, dass sie der Damenwelt absolut abhold waren. Einmal hatte mein Bruder Halsweh und schickte mich mit einem Zettel irgendwohin, weil er einen Treffpunkt mit einem Mädchen, einer Rothaarigen nicht einhalten konnte, und ich übergab den Zettel, um ihn zu entschuldigen. Ich war fünf Jahre jünger als er und natürlich schon ziemlich neugierig. Also Mädchen waren schon da, aber keine festen Bindungen.

In der Schule war ich keine Vorzugsschülerin. Das Gymnasium hätten wir uns nicht leisten können, denn das Schulgeld hätten wir nicht bezahlen können, aber ich wäre wahrscheinlich gar nicht mitgekommen. Weder besaß ich den Ehrgeiz noch war es eine Ehre, eine gute Schülerin zu sein, denn wir waren mit unseren 13 Jahren Revolutionäre. Wir waren jung und rissen kräftig unseren Mund auf. Ich war Mitglied der sozialdemokratischen 'Roten Falken' und wir hatten ein Lager im Wiener Wald. Die Pfadfinder, das waren die 'Schwarzen', waren unsere Feinde. Die Kommunisten gehörten nicht zu uns, von denen hatten wir uns abgegrenzt. Wir hatten unsere Lieder, zum Beispiel:

'Wir sind das Bauvolk der kommenden Welt. Wir sind der Sämann, die Saat und das Feld. Wir sind die Schnitter der kommenden Mahd. Wir sind die Zukunft und wir sind die Tat. So flieg´ du flammende, du rote Fahne, Voran dem Wege den wir zieh´n. Wir sind der Zukunft getreue Kämpfer. Wir sind die Arbeiter von Wien.'

Unser politisches Ziel war die Erhaltung des roten Wien 17. Aber dass das Rote Wien gefährdet war, ich glaube nicht, dass wir das mitbekamen. Erst in der englischen Emigration, wie da der eine oder andere mir begegnete, fiel mir auf, dass viele jüdische Kinder Mitglieder der 'Roten Falken' waren.

Ich bekam ganz zufällig sofort nach der Schule einen Job, das war im Oktober 1934. Mein Vater war zu dieser Zeit bereits arbeitslos. Er starb am 31. Dezember 1934, im Alter von 46 Jahren, an einem Herzinfarkt. Ich würde sagen, er starb an gebrochenem Herzen. Die Krise, die Arbeitslosigkeit und die Trostlosigkeit brachen ihm das Herz. Er verkraftete das Jahr 1934 18 nicht. Für ihn war es unfassbar, dass viele seiner Genossen sich während der Februarkämpfe die Heimwehruniform anzogen hatten. Das alles zusammen löste seinen Herzinfarkt aus und die Tatsache, dass er Bluthochdruck hatte und nie in seinem Leben bei einem Arzt war. Für meine Mutter war der Tod meines Vaters furchtbar. Meine Eltern hatten eine besonders gute Ehe geführt.

Als ich 16 Jahre alt war, ging ich mit meiner Schulkollegin Liesl, die ich in London wiedertraf, zum jüdischen Sportverein Maccabi turnen. Dort wurde viel über Israel geredet, aber das interessierte mich nicht. Ich dachte: Was mache ich in Israel? Liesls Bruder emigrierte nach dem Einmarsch der Deutschen nach Palästina.

Mein Chef in der Firma 'Krapfenbauer und Co', eigentlich hieß er Kohn, glaubte aber Krapfenbauer klinge besser, war der Ansicht, ich bräuchte in keine Berufsschule gehen, weil er mir alles, was für meine Arbeit wichtig sei, beibringen könne. Das war gegen das Arbeitsgesetz. Aber ich war froh, überhaupt eine Arbeit gefunden zu haben. Ich glaube, ich war die einzige in meiner Klasse, die Arbeit hatte. Es war bereits der Höhepunkt der Wirtschaftskrise.

Der Einmarsch der Deutschen

Nach dem Einmarsch der Deutschen, im März 1938 in Österreich, waren wir der Meinung, uns kann nichts passieren, wir besitzen ja nichts. Es ist unvorstellbar, aber meine Tante Ella, die ermordet wurde, sagte: 'Der Hitler hat schon recht, dass er den Reichen was wegnimmt. Nur schade, dass er etwas gegen die Juden hat!' Ihr Mann war sieben Jahre arbeitslos, und sie lebte jeden Tag von der Hand in den Mund. Aber es waren schon die ersten deutschen Emigranten in Wien. Trotzdem glaubten wir, obwohl wir ja Sozialdemokraten und politisch interessiert waren, es trifft nur die anderen. Wir glaubten alle in unserer Familie: wir sind arm, uns wird nichts geschehen. Die ersten Aktionen, die für uns sichtbar waren, waren die Arisierungen. Die Geschäfte wurden ausgeraubt und enteignet, die Wohnungen wurden den Besitzern einfach weggenommen. Das war das erste, was wir sahen. Die Erkenntnis, dass wir doch etwas damit zu tun haben, kam dann relativ rasch.

'Hinterher ist jeder ein Prophet' hat schon Nestroy 19 gesagt. Schon seit Jahrzehnten geht mir das immer wieder durch den Kopf: Wieso waren wir so blind, waren wir denn verblödet? Natürlich lasen wir Zeitungen und hörten Radio und hörten auch Geschichten, die Leute erzählten, und wir wussten schon, dass es Dachau [Anm.: KZ Dachau, Deutschland] gibt. Vielleicht war da so ein Verdrängungsmechanismus? Ich kann das bis heute nicht verstehen. Wir reagierten erst, als wir wirklich mit dem Rücken zur Wand standen, als uns die Wohnung gekündigt wurde und ich meine Arbeit verlor.

In der Firma war ein illegaler Nazi, das wussten wir alle. Der hatte einen Konflikt mit der jüdischen Möbelhandlung Weiss in Wien. Gegen den Möbelhändler führte er einen Prozess. Nach dem Prozess durfte er seine Rechnung in Raten begleichen. Am 12. März 1938, nach dem Einmarsch der Deutschen, war er drei Tage aus der Firma erst einmal abwesend. Dann kam er vollkommen heiser geschrieen zur Arbeit, und ich sagte bissig zu ihm: 'Na, hast du dir jetzt den Weiss - Juden geholt?' Er sagte nur: 'Nein, lass mich in Ruhe.' Er unternahm auch nichts gegen Herrn Weiss. Solche Leute gab es auch.

Die Firma, in der ich arbeitete, wurde arisiert, aber der neue Besitzer schob meine Kündigung bis zum allerletzten Termin hinaus. Während einer Betriebsversammlung saß ich allein im Büro. Ich kann mich erinnern, dass ich mich ausgeschlossen fühlte. Nicht, dass ich Sehnsucht gehabt hätte, zu den Nazis zu gehen, aber ich war auf einmal völlig isoliert. Ende Juli 1938 wurde ich entlassen.

Wir glaubten, das geht vorüber. Ich erinnere mich, dass wir überlegten, ob man nicht vielleicht statt nach England, denn davon hatten wir bereits gehört, in Wien bei einer reichen jüdischen Familie als Hausgehilfin arbeiten könnten.

Es wäre leicht zu erraten gewesen, dass wir nicht in der Wohnung bleiben können - in einer Gemeindewohnung! Es gab ja eine große Wohnungsnot, und die Leute warteten schon auf freiwerdende Wohnungen. Nur bei uns im Haus war ganz sicher niemand, der sagte: Die Picks sollen aus der Wohnung raus, weil mein Schwager ein SA-Mann ist und ein Anrecht auf die Wohnung hat. Wäre auf unserer Stiege oder irgendwo so einer gewesen, wahrscheinlich hätten wir es früher verstanden. Es wohnten Nazis auf unserer Stiege, aber es gab überhaupt keine persönlichen Aggressionen gegen uns.

Meine Tante Irma dagegen wurde zum Reiben des Gehsteiges geholt. Sie hatte ein Dienstmädchen, die war eine Nazisse, die hat geschaut, dass meine Tante zum Reiben geholt wird. Sie sah dann zu, wie meine Tante auf den Knien den Gehsteig putzte. Da waren schon sehr viele persönliche Bosheiten dabei.

Letztendlich flogen aber auch wir aus unserer Wohnung. Mein Bruder bat dann noch schriftlich um einen Aufschub, weil wir sowieso emigrieren wollten.

Mein Bruder

Die Juden Wiens suchten verzweifelt nach Möglichkeiten zu fliehen. Für ein junges Mädchen, ich war 18 Jahre alt, war es leichter als für ältere Menschen eine Stelle in England zu bekommen. Die Israelitische Kultusgemeinde organisierte sehr viel, aber ich kam durch die Freundin einer Freundin einer Freundin, die schon in England war, nach London. Ich bekam die Adresse einer Vermittlerin für Hausgehilfinnen. Das Büro befand sich ein wenig außerhalb Londons. Dieser Vermittlerin schrieb ich, dass ich einen Job suche, und sie verschaffte mir einen Job. Ich bekam ein Permit nach Wien geschickt, musste mich noch halbe Nächte bei den Behörden anstellen, um die Bestätigung zu bekommen, dass ich schuldenfrei bin. Das ging alles reibungslos, ich konnte Österreich verlassen.

Mein Bruder wartete noch auf meine Abreise. Wenige Tage später flüchtete er gemeinsam mit unserem Cousin Emanuel, seinem Freund Adolf Kinsbrunner und seinem Freund Leo Wildmann, nachts auf Schiern, über die Silvretta in die Schweiz. Sie nahmen ihre Skiausrüstung und taten so, als würden sie in den Urlaub fahren.

In der Schweiz, im Auffanglager in Diepoldsau, ging es ihnen gut. Es war ihnen sogar möglich, an Umschulungskursen teilzunehmen. Man konnte zum Beispiel praktische Berufe und die englische Sprache erlernen. Für ein kleines Taschengeld wurden sie an Bauern in der Umgebung 'ausgeliehen', die den Lohn ihrer Arbeit an das Lager zahlten. Mein Bruder und mein Cousin erzählten, die Schweizer hätten sich ihnen gegenüber sehr korrekt, aber auch sehr kleinlich verhalten. Sie hatten ein ganzes Jahr für einen Bauern gearbeitet - er war nett, verköstigte sie gut - aber nie hätte ihnen der Bauer einen einzigen Rappen oder auch nur eine einzige Zigarette geschenkt.

Leo hatte in Wien eine nichtjüdische Freundin, die Friseuse war. Aus irgendeinem Grund verließ sie vor 1938 Wien und ging nach Amerika. Sie schickte ihm in die Schweiz ein Affidavit und als Leo in Amerika angekommen war, organisierten sie zusammen Affidavits für die drei anderen. Der zweite, der die Schweiz verließ, war Adolf. Leon und Adolf waren zuerst in Chicago. Adolfs Mutter und seiner Schwester mit ihrem Mann, dem Arzt Dr. Kugler, gelang auch die Flucht nach Amerika.

Mein Bruder und mein Cousin bekamen ein Affidavit aus Knox, Indiana, da war eine große Textilfabrik. Der Inhaber dieser Firma schickte den beiden das Affidavit. Sie arbeiteten dort, bis sie in die US Army eintraten.

Mein Bruder besorgte sofort nach seiner Ankunft in Amerika für meine Mutter ein Affidavit. Meine Mutter kam buchstäblich mit dem letztmöglichen Schiff nach New York. Ich hatte verzweifelt versucht, für meine Mutter ein Permit zu besorgen, aber der Krieg brach am 1. September 1939 aus, und in dem Moment gab es keine Möglichkeit mehr: Die englische Botschaft in Wien wurde geschlossen.

Adolf Kinsbrunner, der sich in Amerika Ed Kinsey nannte, ging sehr bald zur Army. Er war der Einzige der vier, der sich zum Offizier ausbilden ließ. Die anderen drei, die alle in die Army eintraten, blieben Soldaten. Kinsey lernte seine Frau Susan, eine amerikanische Jüdin, in der Army kennen. Er machte einen ganz dicken Strich unter seine Vergangenheit und sprach kein Wort deutsch mehr. Seinen Kindern, Steven und Richard, verheimlichte er, dass Österreich einmal seine Heimat war. Ad hatte nach dem Krieg in San Francisco abgerüstet, und die Army bezahlte ihm eine Uhrmacherlehre. Das war eigentlich sein Traumberuf. Nach der Lehre eröffnete er in San Francisco ein Uhren- und Schmuckgeschäft. Erst als sein Sohn Steven eine Europatour unternehmen wollte, erzählte ihm Ed, dass er einmal Österreicher war. Steven wohnte dann einige Wochen bei mir, und wir sprachen viel über die Vergangenheit. Steven ist Lehrer und Richard ein Business Mann in einem großen Konzern. Steven hat eine sehr begabte Tochter, Lian, die mit einem Stipendium an einer jüdischen Universität Biochemie studierte. Richards Kinder müssten jetzt auf dem College sein. Dass ich sie das letzte Mal sah, ist lange her, aber wir schreiben uns Karten zu den Feiertagen.

Emanuel, der bei der Army als Gebirgs-Soldat eingesetzt wurde, kam zum Training an die Westküste. In Fort Knox war ein großes Ausbildungslager. Ad Kinsey, war auch im Westen, und da sind sich die zwei während der Ausbildung begegnet.

Nachdem er abgerüstet hatte, ging Emanuel nach San Francisco, wo bereits seine Schwester Helen mit ihrem Mann Herbert lebte und baute sich eine sehr gut funktionierende Kindermantelerzeugung auf. Emanuel heiratete nie, bekam keine Kinder, hatte aber eine katholische Lebensgefährtin. Er war sehr konservativ und verkehrte in konservativen katholischen Kreisen. Er starb 1993. Zu seiner Lebensgefährtin habe ich noch heute Kontakt.

Mein Bruder wurde 1944, während der Frankreichinvasion, verwundet. In einem Militärspital in der Nähe von London pflegte man ihn gesund, und mein Cousin Rudi und ich fuhren ihn besuchen. Ich hatte Walter sechs Jahre nicht gesehen. Rudi und ich fuhren mit einem Zug in den kleinen Ort. Am Bahnhof lief ich an meinem Bruder vorbei, ich erkannte ihn nicht mehr. Seine Haare waren deutlich weniger geworden, dafür hatte er an Gewicht zugelegt. Wir verbrachten dann auch einige Zeit in London miteinander.

Während des ganzen Krieges arbeitete meine Mutter in einer Textilfabrik. Sie machte dort Ausbesserungen - mehr oder weniger Hilfsarbeiten. Bis zu ihrem Lebensende wohnte sie mit meinem Bruder zusammen. Zuerst in Knox, Indiana und dann in Fall River.

Bernhard Altmann, der Arbeitgeber meines Bruders in Wien, emigrierte auch nach Fall River. Das ist eine relativ kleine, aber bekannte Textilstadt. Dort etablierte er sich und holte meinen Bruder zu sich. Als Altmann starb, er war schon sehr alt, arbeitete mein Bruder als Abteilungsleiter in einer anderen Textilfabrik. Auch mein Bruder heiratete nie, er kümmerte sich um unsere Mutter. Er hatte Freundinnen, aber er hatte kein Kind und nie eine eigene Familie. Die letzten drei Jahre seines Lebens, nachdem meine Mutter gestorben war, verbrachte er in San Francisco beim Emanuel und arbeitete in dessen Kindermantelerzeugungsfirma.

Meine Emigrationszeit in England

Ich kam als Hausangestellte zu einer jüdischen Familie mit einem Kleinkind. Sie waren nicht orthodox, aber sehr traditionell. Zu Pessach stellte die junge Frau einen Kerzenleuchter auf den Tisch, bestrich auf dem Brotbrett die Mazzes mit Butter und legte Schinken darauf. Ich sagte zu ihr in meinem noch schlechten Englisch, denn ich wusste das von meiner Großmutter: 'Erstens darf man das Brotbrett nicht verwenden, zweitens darf man Butter und Schinken nicht gleichzeitig essen und drittens, das dann auch noch auf Mazzes..... Ich verstehe nicht, wieso Sie so Pessach feiern, das stimmt hinten und vorn nicht.' Sie sagte: 'Ihr Europäer seid altmodisch, das ist vollkommen in Ordnung!' In England waren wir die Europeans, sie bezeichneten das Festland immer als Europe, also waren sie keine Europäer.

Ihre Schwiegermutter kam einmal in der Woche und sprach immer jiddisch mit mir, weil sie der Meinung war, das sei deutsch. Meine Großmutter hatte auch bestimmte jiddische Ausdrücke gebraucht, aber das war dann eher lustig gemeint. Aber die Schwiegermutter redete wirklich so. Erstens verstand ich nur jedes zehnte Wort und zweitens fand ich das durch meine Großmutter eher komisch und musste mein Lachen immer zurückhalten. Einmal erzählte sie, irgendjemand sei in Ohnmacht gefallen. Und sie sagte: ist gefallen in chalosches! Und ich musste laut lachen, weil wir sagten immer im Scherz: Oh ich fall um, ich fall in chalosches! Die Schwiegermutter war sehr böse auf mich, jemand fällt in Ohnmacht und ich lache. Sie waren aber sehr nett zu mir. Sie klärten von Anfang an, dass sie keine familiäre Beziehung wünschen, dass ich die Hausgehilfin sei. Ich habe auch in der Küche gegessen und nicht mit der Familie. Aber ich hatte nichts dagegen, denn ich war eh nicht sehr interessiert an Familienanschluss.

Als ich einmal mit dem Kinderwagen im Park auf einer Bank saß, saß neben mir auch eine junge Frau mit einem Kinderwagen, die mir über einen Klub in Hampsteadt erzählte. Das war Klari Kiss, die eine ziemlich bekannte Malerin wurde und die vor ein paar Jahren gestorben ist. Sie erzählte, da gäbe es einen Rudi Ekstein [Anm.: aus Wien emigrierter berühmter psychoanalytischer Pädagoge in den USA], der dort Vorträge hielte. Ich ging dorthin und Rudi Ekstein sagte zu uns, dass wir Hausgehilfinnen um Gottes willen nicht die Zeit vertun sollten, um über Poliermittel oder über Geschirr waschen zu reden, sondern die Freizeit nützen, um uns weiterzubilden, in Museen zu gehen und die Sprache anständig zu erlernen.

Das war sehr wichtig und richtig, und er half uns damit sehr. Ich kam aus einer armen Familie und es war darum für mich nicht so schwer, mit der neuen Situation zu recht zu kommen. Aber es waren Mädchen dort, die aus Haushalten kamen, die selber Personal hatten. Viele von denen waren völlig verstört. Rudi Ekstein arbeitete also damals schon ein bisschen als Psychologe, obwohl er sicher noch nicht einmal zu studieren begonnen hatte. Auf diesen Treffen befanden sich schon zwei oder drei von den späteren Leitern von 'Young Austria'20. Sie sagten, da gäbe es Heimabende, und nachdem Klari und ich einmal zu einem Heimabend gingen, waren wir schon dabei, beim 'Young Austria'.

Anfangs war es eher eine Freizeitgestaltung. Die erste Zeit hatte ich nur einmal die Woche am Nachmittag frei und während dieser Zeit bemühte ich mich darum, meine Verwandten aus Österreich herauszuholen. Mir gelang es, Hans und Grete nach England zu holen. Ich bemühte mich auch verzweifelt um meine Mutter und Tante Ella, die Mutter von Hans und Grete. Ich werde nie vergessen, dass mir eine englische Jüdin in London sagte, das gehe nicht, sie könne doch einer jüdischen Frau nicht sagen, sie solle sich hinknien und ihren Küchenboden waschen. Aber ich war damals noch zu jung und ahnte noch nicht, was passieren wird, um zu antworten: Es ist gescheiter, sie wäscht ihren Küchenboden, als sie stirbt. Dass es zum Krieg kommt, konnte ich mir vorstellen, Gaskammern nicht. Die Zeit war zu kurz. Ich kam im Oktober 1938 nach England und im September 1939 begann der Krieg. Tante Ella wurde ermordet. Grete war schon älter als sechzehn. Sie durfte aber noch nicht als Dienstmädchen arbeiten und bekam als 'mothers help' Arbeit. Es gab die Möglichkeit, Kinder herauszuholen, wenn jemand das Schulgeld für sie bezahlte. Ich erklärte mich sofort bereit, für Hans zu zahlen. Aber es ging sehr bürokratisch vor sich, meine freien Mittwoche waren dadurch okkupiert, es blieb mir nur noch jeder zweite Sonntag. Als Hans nach London kam, war er 13 Jahre alt und durfte kurze Zeit die Boarding School besuchen. Als er 14 Jahre alt wurde, musste er in einem Hotel an der Küste als Hausdiener arbeiten. Als der Krieg ausbrach, mussten alle Ausländer von der Küste weg und er kam nach London. Hans bekam in seiner Kindheit zu Hause in Wien zum Mittagessen nur Brot und Zwiebeln, verlor im Holocaust seine Eltern und wurde in England ein Geschäftsmann mit einem Haus mit Swimmingpool und allem, was man nur wünschen kann. Nie hat er seine Vergangenheit verleugnet. Wie es ihm heute geht und wie seine drei Kinder und sechs Enkelkinder aufwachsen durften, gönne ich ihm von ganzem Herzen. Er schaut sich immer das österreichische Fernsehen an und wenn der Haider im Fernsehen ist, ruft er mich an und schimpft mit mir. Und ich sage ihm immer wieder: 'Ich habe den Haider nicht gewählt, ich kann nichts dafür!' Seine Schwester Grete heiratete nach dem Krieg und baute sich mit ihrem Mann Tommy Tucker einen kleinen Betrieb auf. Sie handelten mit Büromaschinen, kauften alte Maschinen auf, reparierten sie und verkauften sie. Als die Computer aufkamen, handelte er auch mit Computern. Sie bekamen zwei Kinder: Vivian und Tony. Grete starb 1984 an Krebs. Ihr Mann Tommy kommt mich jedes Jahr in Wien besuchen.

Meine knappe Freizeit verbrachte ich also im 'Young Austria' Center, das war wirklich nur Freizeitgestaltung, denn ich dachte damals absolut nicht daran, zurück nach Österreich zu gehen.

Ich denke auch heute noch über meine damalige Situation nach, und ich unterhalte mich oft mit meinen Freundinnen darüber. Es war eine absolut ambivalente Situation; einerseits hatte ich echtes Heimweh, andererseits wollte ich möglichst rasch Englisch lernen und englisch werden. Ich wollte nie mehr zurück nach Wien. Das war die Situation in den ersten Monaten. Als mein Cousin Emanuel in San Francisco starb, fand ich in seinen Sachen 40 Jahre alte Briefe, die ich ihm in die Schweiz geschickt hatte und von denen ich nichts mehr wusste. Er schrieb mir Briefe auf Englisch, weil er in dem Lager in der Schweiz Englisch lernte, und ich schickte die Briefe verbessert zurück, obwohl ich ja selbst erst ungefähr vier oder fünf Monate in England war und mein Englisch bei Gott nicht das Oxford Englisch war. Aber ich verbesserte eifrig seine Briefe.

Englisch lernen war mein Ziel, und ich wollte auch nur mit englischen Burschen ausgehen. Einmal war ich mit meiner Cousine Grete, wir wohnten in derselben Strasse, denn eine Freundin meiner 'Gnädigen Frau' hatte Grete als 'mothers help' aufgenommen, zusammen in einem Klub. Unsere Dienstgeberinnen hatten organisiert, dass wir in einen jüdischen Jugendklub eingeladen wurden. Die Jugendlichen dort ignorierten uns aber total, so wurde ich überhaupt in meinem ganzen Leben noch nicht ignoriert. Sie sprachen kein Wort mit uns, obwohl wir ihnen vorgestellt wurden. Wir waren fremd, wir waren Hausgehilfinnen, und sie waren alle aus besserem Hause. Das werde ich nie vergessen. Meine Cousine war sehr hübsch, aber kein einziger Bursche forderte sie ein einziges Mal zum Tanzen auf. Wir saßen dort wie die 'Mauerblümchen', das war schrecklich unangenehm. Dann kam ein junger Rabbi und tanzte einmal mit Grete und einmal mit mir - sozusagen aus Barmherzigkeit! Das war so peinlich!

Meine Emigrationszeit dauerte acht Jahre. Von diesen acht Jahren war ich zweieinhalb Jahre im Haushalt, die meisten anderen waren nach einem oder eineinhalb Jahren schon woanders. Ich wartete wirklich die Zeit ab, bis man legal ein normales Arbeitspermit bekam. Es blieb wenig Zeit, mich zu agitieren, und dafür, dass ich so wenig Zeit hatte, ging es ziemlich rasch, dass sich meine ganze Lebensplanung änderte.

Der Hitler-Stalin-Pakt im August 1939, erlaubte der Sowjetunion ihren Einflussbereich auf das Baltikum, Ostpolen und Rumänien auszuweiten. Hitler und Stalin schlossen einen Nichtangriffspakt. Ich kann heute noch nicht verstehen, dass wir das geschluckt haben, das ist Wahnsinn! Der 2. Weltkrieg war am Anfang - laut kommunistischer Partei - ein ungerechter Krieg. Ich erzähl diese Geschichte immer wieder: Durch einen Nachtdienst war ich einmal verhindert, an einer Zellensitzung teilzunehmen. Das waren illegale Zellen, denn wir waren illegale Mitglieder in der Kommunistischen Partei. Als ich das nächste Mal zur Sitzung kam, war ich noch immer auf der Linie, dieser Krieg ist ein ungerechter Krieg, ein kapitalistischer Krieg. Aber in der Zwischenzeit hatte Stalin gesagt, es sei ein gerechter Krieg! Da hatte ich noch Glück, dass ich nicht aus der Partei ausgeschlossen wurde.

Natürlich frage ich mich heute: Wie konnte uns allen das passieren? Hatten wir unseren Intellekt ausgeschaltet? Ich weiß nicht, ob irgendjemand von uns je etwas hinterfragte. Wir waren freiwillig dort, wer nicht wollte, brauchte ja nicht mehr kommen. Aber natürlich, wir waren wir eine politische Familie. Die verlässt man, noch dazu in solchen Zeiten, nicht so einfach. Das tat auch niemand! Ausschlüsse gab es später schon. Die Mitglieder, die sagten, sie gehen nicht zurück nach Österreich zurück, wurden ausgeschlossen. Oder eine wurde ausgeschlossen, weil sie studierte und nicht Kriegsarbeit leistete. Wir unterwarfen uns vollkommen unserer Führung: zehn Prozent unseres Einkommens lieferten wir als Parteisteuer ab und wenn man mit einem Burschen zusammenlebte, waren es 15 Prozent, weil man zu zweit billiger leben kann. Wir waren sehr diszipliniert, was aber auch nicht so sträflich ist, denn es ging ja um den Kampf gegen Hitler.

Nach den zweieinhalb Jahren als Hausmädchen bei der Familie arbeitete ich in einem Betrieb, in dem Uniformen genäht wurden. Dort wurde ich zum Betriebsrat gewählt und dann schmissen sie mich raus, weil sie die Gewerkschaft nicht erlaubten.

Ich zog in London häufig um, alle Emigranten zogen häufig um. Erst einmal wohnte ich bei der Tochter des Schusters aus Wien, bei dem ich als kleines Kind immer zugeschaut und geplaudert hatte. Sie war eine echte Hausgehilfin in London. Dann zog ich mit meiner Cousine Grete, meinem Cousin Hans und meinem Cousin Rudi, der aus einem Internierungslager in Kanada nach London zurückgekommen war, zusammen.

Mein Mann Otto Tausig wollte schon als Kind in Wien zur Bühne, wollte Schauspieler werden. Er baute im Zentrum 'Young Austria' die Theatergruppe auf, und dort lernte ich ihn 1941 kennen. Er war 1938, im Alter von 16 Jahren mit einem Kindertransport 21 nach England gekommen. Zuerst besuchte er noch für kurze Zeit eine Schule, dann war er Hilfsarbeiter. Nach Ausbruch des Krieges war er im Internierungslager Isle of Man. Nachdem er aus dem Internierungslager entlassen wurde, arbeitete er wieder in einer Fabrik und verbrachte seine Freizeit beim 'Young Austria'. Seine Eltern hießen Franziska und Arpad Tausig. Arpad Tausig war von Beruf Jurist, bekam aber in Wien keine Zulassung und arbeitete im Holzhandel seines Schwiegervaters mit. Die Mutter betrieb während der Wirtschaftskrise einen Würstelstand im 5. Bezirk, in der Embelgasse, genau gegenüber dem damaligen Arbeitsamt. Den Eltern gelang die Flucht nach Shanghai. Der Vater starb in Shanghai. Die Mutter kam nach 1947 nach Österreich zurück; sie starb 1982.

Otto und ich zogen in eine Wohnung zusammen, wurden aber 1944 ausgebombt. Das Haus war nach einem Bombenangriff der Deutschen nicht mehr vorhanden. Wenn wir nicht verheiratet gewesen wären, hätten wir keine andere Wohnung bekommen, so heirateten wir geschwind.

Wir wollten nach dem Krieg Österreich wieder aufbauen. Wir waren voll Hoffnung, was unsere Zukunft in Österreich betraf. Wir wollten helfen bei der Umerziehung der Menschen und hatten viele Konzepte. Nach dem Krieg starteten wir in London eine große Büchersammlung. Wir hatten Berge von Adressen, ich weiß nicht, woher die kamen. Es waren Adressen von Deutschen und von Österreichern. Die Bücher sollten nach Österreich geschickt werden, weil durch die Bücherverbrennung 22 kaum gute Bücher vorhanden waren, neue Auflagen gab es ja noch keine. Die Menschen sollten umerzogen werden, da war es wichtig, dass sie auch wieder an gute Literatur herankamen. Jeden Abend nach der Arbeit gingen wir Bücher sammeln. Aber da wir nicht nur Adressen von linken Leuten hatten, wurden wir immer wieder mit derartigen Aggressionen rausgeschmissen, das war nicht zu fassen. 'Was wollen Sie? Nach Österreich wollen Sie meine Bücher schicken? Verschwinden Sie!' Das war ganz schlimm und wirklich harte Arbeit. Aber wir machten das, weil es notwendig war.

Meine Situation wurde kompliziert, weil meine Mutter und mein Bruder in Amerika waren und ich natürlich auch nach Amerika hätte kommen sollen. Ich wollte das aber nicht, abgesehen davon, dass Amerika für meinen Mann auch nicht in Frage gekommen wäre. Noch immer habe ich Schuldgefühle, weil ich meinen Bruder hätte entlasten müssen.

Rückkehr nach Wien

1946 fuhren wir zurück nach Wien. Die erste Nacht verbrachten wir im 'Haus der Jugend', das der FÖJ 23 gehörte. Am Boden in einem der Zimmer, so als hätte es jemand mit einem Kran ausgeschüttet, entdeckten wir einen Berg Bücher - unsere Bücher. Sie hatten sich nicht einmal die Mühe gemacht, die Bücher ordentlich hinzustellen. Das war ein Schlüsselerlebnis für mich und ein zweites war: Wir hatten Geschenke von Freunden aus London an ihre Verwandten mitgebracht, und die Geschenke wurden uns in der ersten Nacht im 'Haus der Jugend' geklaut. Wir sind eigentlich relativ rasch aufgewacht. Das dritte Erlebnis war: Wir hatten für die Volkshilfe einen großen Glasbehälter mit Penizillintabletten dabei, die sie sehr wertvoll waren. Unsere Reise von London nach Wien dauerte ziemlich lange, denn wir waren eine ganze Woche auf der Durchreise in Paris, weil wir keine Papiere bekamen. Die Tabletten schützten wir wie unser Augenlicht. Dann gingen wir damit ins Rathaus zur Volkshilfe und sagten: 'Guten Tag, wir haben aus London Penizillintabletten mitgebracht.' M&B hießen die Tabletten und der Beamte sagte: 'Stellen Sie das Glas hierher' drehte sich um und ging weiter seiner Beschäftigung nach.

Auf dem Wohnungsamt sagte ich: 'Guten Tag, ich wohnte vor dem Krieg in einer Gemeindewohnung in der Latschkagasse im 9. Bezirk. Jetzt bin ich wieder hier und möchte in die Wohnung.' Das erste, was der Beamte zu mir sagte, war: 'Zu wos sansn zruckkummen? Warum sans net durtn bliebn? Wir haum ja söber nix!' Ja, so war es! Also was wir in unseren Köpfen an Plänen oder Vorstellungen hatten, wurde von der Realität sehr bald ins richtige Licht gerückt. Wir hatten keine Wohnung, aber es gab für Wohnungssuchende Punkte. Dadurch, dass ich österreichische Staatsbürgerin war und vorher eine Wohnung besessen hatte, bekam ich Punkte. Weiß der Teufel, wofür man alles Punkte bekam. Aber auf Punkten kann man nicht schlafen und kein Mittagessen kochen. Wir wohnten dann ein paar Wochen bei Freunden.

Auf der 1. Mai Demonstration 1946 trafen wir Conny Fleischer, einen Jugendfreund vom Otto. Die waren beide im vierten Bezirk aufgewachsen. Der Conny kam zum Otto und sagte: 'Bist du nicht der Schubert?' Der Otto wurde als Kind immer Schubert genannt, weil er Haare wie der Komponist Franz Schubert hatte. Sie hatten sich sehr verändert in den Jahren und hätten sich sonst nicht erkannt. Conny Fleischer, der während des Krieges bei den französischen Partisanen war, hatte im vierten Bezirk eine Wohnung, die die Russen von einem Nazi, der nach Salzburg geflohen war, konfisziert hatten. Die Wohnung diente eigentlich als FÖJ - Lokal, aber die FÖJ war ausgezogen. Allein hätte er die Wohnung verloren, denn seine Frau Rachel war mit der kleinen Tochter Eva noch in Frankreich. Wir wohnten dann zusammen, bis seine Frau kam. Dann war ich schwanger, und wir zogen nach Hietzing [13. Bezirk] in die Wohnung einer Freundin, der Lene Frischauer, die die große Wohnung ihrer Eltern zurückbekommen hatte.

Mein Sohn Wolfgang Tausig wurde am 21. Juli 1950 geboren. Er ist Magister der Sozialwissenschaft und arbeitet als Geschäftsführer in einem Reisebüro. Er ist verheiratet. Mein Enkel Matthias ist 25 Jahre alt und Diplomingenieur.

Arbeit zu bekommen war damals kein Problem, denn es gab natürlich einen Mangel an Arbeitskräften, und es musste vieles wieder aufgebaut werden. Ich bekam sehr schnell eine Arbeit in der Österreichisch-Sowjetischen Gesellschaft. Wir schaufelten Schutt, wir Trotteln, und die Nazis schauten uns dabei zu. Danach arbeitete ich für die KPÖ [Anm.: Kommunistische Partei Österreichs] in den Bezirksleitungen Döbling und Hietzing. Nach der Geburt meines Sohnes blieb ich zwei Jahre zu Hause. Mein Mann studierte drei Jahre in Wien an der berühmten Hochschule für Schauspielkunst, dem Max-Reinhardt-Seminar und wurde Schauspieler. 1953 ließen wir uns scheiden, aber wir sind noch jetzt gute Freunde.

Politisch wackelte meine Einstellung zur Partei schon immer ein bisschen. Starke Zweifel bekam ich während des Ungarnaufstandes 1956 24. Den letzten Anstoß, die Partei zu verlassen, gab mir der 21. August 1968, als in Prag die Panzer der Sozialistischen Staatengemeinschaft rollten, und den 'Prager Frühling' 25 kaputt schlugen. Da trat ich dann offiziell aus der Kommunistischen Partei aus.

Meine Freunde kamen und kommen, im Großen und Ganzen, aus der englischen Emigration. Da wir keine Familie mehr hatten, waren unsere Freunde auch ein Familienersatz. Noch heute sind wir eine feste Clique. Nach der Ehe mit Otto hatte ich noch eine Lebensgemeinschaft mit einem Nichtjuden. Auch er brachte viele Freunde in die Beziehung. Er war aus politischen Gründen im KZ und seine Freunde waren Genossen. Jetzt sind meine Freunde die alten Engländer. Wir treffen uns regelmäßig, machen viel Kultur miteinander und helfen uns gegenseitig, denn wir sind ja nun nicht mehr die Jüngsten.

Ein einziges Mal war ich im Tempel in der Seitenstättengasse, das liegt aber schon Jahrzehnte zurück. Von einem Freund der Freund, ein Australier, war in Wien, und ich sollte mich um ihn kümmern. Der Australier wollte in den Tempel gehen. Erstens fand ich den Tempel nicht, bis er dann sagte: 'Da ist er doch!' weil er die hebräische Schrift über der Tür entdeckte. Wir gingen hinein, und ich setzte mich neben ihn. Da hat man mich rausgeschmissen, weil die Frauen oben sitzen. Das wusste ich, ehrlich gestanden, nicht. Daran erkannte natürlich der Australier sofort, dass ich nie vorher im Tempel war. Ich hatte ihm das nicht gesagt, weil es mir peinlich war. Was sollte ich denn aber auch im Tempel machen, wenn ich nicht bete und wenn ich nicht an Gott glaube? Ein religiöses Gefühl habe ich einfach nie erlebt. Ich denke, wenn man das als kleines Kind nicht lebt, oder später durch ein Erlebnis erfährt, hat man das nicht. Ich spürte jedenfalls niemals eine Gottesnähe oder so etwas.

Nach dem Krieg erlebte ich persönlich keinen Antisemitismus. Mein Sohn war das einzige jüdische Kind in seiner Klasse, ein zweites jüdisches Kind gab es noch in der Unterstufe. Seine Freunde waren alles Nichtjuden, und meines Wissens gab es nie Probleme. Aber geredet darüber habe ich mit ihm nicht. Vielleicht hat er diese Dinge nicht wahrgenommen. Einmal war er mit einem Jungen befreundet, und der Professor in der Schule machte mich am Elternsprechtag darauf aufmerksam, dass es jemanden gäbe, dem der Kontakt seines Sohnes mit meinem Sohn nicht passt. Er nannte den Namen nicht. Ich sagte zu dem Professor, dem das alles sehr unangenehm war: 'Mein Sohn kann zu allen Menschen, zu denen er will, Kontakt habe. Wenn der Vater dieses Jungen ein Problem hat, dann muss er seinem Sohn sagen, er verbiete ihm den Umgang mit meinem Sohn. Aber ich werde meinem Sohn sicher nicht sagen, er darf zu diesem Jungen keinen Kontakt haben. Ich habe kein Problem, wenn der Probleme hat, muss er sie lösen.' Es gab unter den Vätern einen Eisenbahner und ich weiß, dass der ein Nazi war und 1945 vom Dienst suspendiert wurde. Nachher dachte ich, es könnte der gewesen sein. Aber das war das einzige Mal, dass mir so etwas passierte.

Anfang der 1950er-Jahre, unter McCarthy 26, hätte ich kein Visum nach Amerika zu meinen Verwandten bekommen. Ich war Mitglied der Kommunistischen Partei, das war aussichtslos. Meine Mutter wurde 1964 am Bein amputiert und bekam danach eine Embolie, die nicht aufzulösen war, so wurde sie Vollinvalide. Da war es dann schon Zeit, endlich nach Amerika zu fliegen - wir hatten uns 27 Jahre nicht gesehen. Ich suchte um ein Visum in der amerikanischen Botschaft in Wien an, verschwieg aber meine Mitgliedschaft in der KPÖ. Als ich aus Amerika zurückkam, erhielt ich eine Vorladung ins Konsulat. Sie nahmen mir mein Visum, das über mehrere Jahre gültig gewesen wäre, wieder weg. Und sie sagten, ich bekäme nie wieder ein Visum, weil ich gelogen hatte. Da erklärte ich die Situation: ich hatte meine Mutter 27 Jahre nicht gesehen, sie ist jetzt eine Invalide, mein Bruder war Soldat in der amerikanischen Armee und hatte ein 'purple heart' [Auszeichnung] bekommen und wenn ich die Wahrheit gesagt hätte, hätten sie mir kein Visum gegeben. So konnte ich sie wenigstens noch einmal sehen. Eine Angestellte lief mir hinterher und sagte, ich bekäme sicher wieder ein Visum. Und so war es auch. 1965 besuchte ich meine Mutter, meinen Bruder, meinen Cousin Emanuel und meine Cousine Helen das nächste Mal. Solange meine Mutter lebte, sie starb am 22. Januar 1970, besuchte ich sie jedes Jahr. Als mein Bruder nach dem Tod meiner Mutter nach San Francisco übersiedelte, war ich oft in San Francisco. Er starb am 21. Januar 1973.

Meine Mutter kam nie wieder nach Österreich, mein Bruder ein einziges Mal, im Jahre 1967. Er war auf dem Weg nach England, eine unserer Nichten heiratete, und er blieb ein paar Tage in Wien. Er sagte dann, es wäre 'no home coming' [kein nach Hause kommen] für ihn gewesen. Es gefiel ihm gut, die Leute waren alle freundlich, aber er fühlte sich fremd. Österreich war nicht mehr sein Land.

Im Jahre 1980, zu meinem 60. Geburtstag, bekam ich eine Reise nach Israel geschenkt. Ungefähr zwei Wochen war ich mit einer Reisegruppe ehemaliger Ravensbrücker im Land unterwegs. Ich hatte mich, bevor ich nach Israel fuhr, mit der Geschichte des Landes vertraut gemacht und wollte sehen, ob ich irgendein Gefühl von Zugehörigkeit empfinde. Aber dieses Gefühl setzte nicht ein. Es war sehr vieles interessant, aber es war so, als ob ich in Timbuktu wäre und mir das anschaue: Ich sah ein fremdes Land. Sehr vieles gefiel mir und über manches war ich entsetzt, zum Beispiel über die Kinder der streng Orthodoxen mit den Payes [Anm.: Schläfenlocken]. Sie waren ganz blass, obwohl sie in einem sonnigen Land leben und bereits schrecklich indoktriniert. Das war für mich negativ, ich empfand es sehr stark. Mit mir in der Gruppe war eine ehemalige Kollegin, sie fühlte sich vom ersten Moment an in Israel zu Hause. Dieses Land existiert, ob es eine gute Idee war oder nicht, das vermag ich nicht zu sagen. Jetzt sind sie einmal da und haben sie eine Lebensberechtigung dort. Aber die anderen haben auch eine Lebensberechtigung. Und meiner Meinung nach werden sie mit dieser Politik der Gewalt durch Generationen hindurch keinen Frieden haben. Ich habe auch keine Lösung, ich glaube, derzeit hätte auch ein Einstein keine Lösung. Man kann nur hoffen, dass die Vernünftigen auf beiden Seiten sich irgendwann einmal durchsetzten.

Glossar

1 Schammes [hebr

Schamasch = Diener]: Synagogendiener. Er erfüllt die unterste Funktion in einer Synagoge. Daher wird der Begriff allgemein abwertend als Laufbursche gebraucht. Als Schammes wird auch für die Kerze bezeichnet, die zum Anzünden der übrigen Kerzen der Chanukkia [Chanukkaleuchter] verwendet wird.

2 Seder [hebr

: Ordnung]; wird in der Regel als Kurzbezeichnung für den Sederabend verwendet. Der Sederabend ist der Auftakt des Pessach-Festes. An ihm wird im Kreis der Familie [oder der Gemeinde] des Auszugs aus Ägypten gedacht.

3 Jom Kippur

der jüdische Versöhnungstag, der wichtigste Festtag im Judentum. Im Mittelpunkt stehen Reue und Versöhnung. Essen, Trinken, Baden, Körperpflege, das Tragen von Leder und sexuelle Beziehungen sind an diesem Tag verboten.

4 Ariernachweis

der während des Dritten Reiches verlangte Beleg der Abstammung aus der arischen Volksgemeinschaft. Ohne diesen Nachweis durfte man in der Regel seinen Beruf nicht mehr oder nur noch eingeschränkt ausüben und musste zahlreiche Benachteiligungen erdulden.

5 Organisation Todt

im Mai 1938 gegründet, wurde die Mitglieder der nach ihrem Führer Fritz Todt benannten Organisation für den Bau militärischer Anlagen eingesetzt. Die bekannteste davon war der so genannte Westwall entlang der deutsch-französischen Grenze.

6 Kitchener Camp

Transitlager in Südengland [Kent] für deutsche und österreichische Flüchtlinge, die dort auf Einreisegenehmigungen warteten.

7 Permit [engl

: Erlaubnis]: Visum, Einreisegenehmigung.

8 Affidavit

Im anglo-amerikanischen Recht eine schriftliche eidesstattliche Erklärung zur Untermauerung einer Tatsachenbehauptung. Die Einwanderungsbehörden der USA verlangen die Beibringung von Affidavits, durch die sich Verwandte oder Bekannte verpflichten, notfalls für den Unterhalt des Immigranten aufzukommen.

9 Werfel, Franz [1890-1954]

in Prag geborener Lyriker, Dramatiker, Erzähler, Essayist und Übersetzer. In den 20er und 30er Jahren gehörte Werfel zu den meistgelesensten deutschsprachigen Autoren. Zu seinen bekanntesten Werken zählen die Romane ,Barbara oder Die Frömmigkeit', 'Die vierzig Tage des Musa Dagh' und ,Das Lied von Bernadette' sowie die Dramen ,Der Weg der Verheißung' und ,Jacobowsky und der Oberst'. 1929 heiratete er Alma Mahler. Emigrierte 1938 nach Frankreich und 1940 über Spanien und Portugal in die USA.

10 Zweig, Stefan [1881-1942], Schriftsteller, wurde in Wien als Sohn des wohlhabenden jüdischen Textilunternehmers Moritz Zweig geboren

Zweig emigrierte 1938 nach London. Danach über New York nach Brasilien, wo er 1942 zusammen mit seiner zweiten Frau ,aus freiem Willen und mit klaren Sinnen' aus Schwermut über die Zerstörung seiner ,geistigen Heimat Europa' Selbstmord beging. Seine bekanntesten Werke: 'Brennendes Geheimnis', 'Amok', 'Sternstunden der Menschheit', 'Romain Rolland', 'Joseph Fouché', 'Maria Stuart', 'Schachnovelle', 'Die Welt von gestern'.

11 Lothar, Ernst [1890 - 1974]

österreichischer Schriftsteller, Regisseur und Theaterleiter. 1938 bis 1946 im Exil in den USA. Nach seiner Rückkehr Regisseur am Burgtheater und bei den Salzburger Festspielen.

12 Republikanischer Schutzbund

1923/24 gebildete paramilitärische Organisation; sollte für die Sozialdemokraten ein Ersatz für das von den Christlichsozialen beherrschte Bundesheer sein und war das Pendant zur christlichsozialen Heimwehr; wurde 1933 von der Regierung Dollfuß aufgelöst, blieb aber illegal bestehen. Nach der Niederlage im Bürgerkrieg wurden viele Mitglieder verhaftet, einige flüchteten in Sowjetunion, wo unter Stalin viele umkamen. Manche kämpften im Spanischen Bürgerkrieg in den Internationalen Brigaden.

13 Glöckel, Otto [1874 - 1934]

Schulreformer, sozialdemokratischer Politiker. Organisator der sozialdemokratisch ausgerichteten Schulreform in der 1. Republik. Glöckel und seine Mitarbeiter wollte Chancengleichheit durch Abbau von Bildungsbarrieren, soziale Integration und Ausschaltung des kirchlichen Einflusses erreichen. Er ermöglichte Frauen den freien Zugang zu den Universitäten.

14 Bar Mitzwa

[od. Bar Mizwa; aramäisch: Sohn des Gebots], ist die Bezeichnung einerseits für den religionsmündigen jüdischen Jugendlichen, andererseits für den Tag, an dem er diese Religionsmündigkeit erwirbt, und die oft damit verbundene Feier. Bei diesem Ritus wird der Junge in die Gemeinde aufgenommen.

15 Austrofaschismus

Bezeichnung für das ab 1933 in Österreich etablierte Herrschaftssystem - der 'Ständestaat' - entwickelt und getragen von Engelbert Dollfuß und dessen Nachfolger Kurt Schuschnigg, der Christlichsozialen Partei, der Heimwehr [Miliz der Christlichsozialen] und dem Landbund.

16 Heimwehr

Zusammenschluss [in Österreich] verschiedener Selbstschutzverbände nach Ende des Ersten Weltkriegs. Wurde dann zum militärischen Arm des Christlichsozialen sowie des Deutschnationalen [Großdeutschen] Lagers als Gegengewicht zum Republikanischen Schutzbund. 1930 Bekenntnis zum Austrofaschismus. Im Ständestaat [1934-1938] erfüllte sie polizeiliche und sicherheitstechnische Aufgaben.

17 das Rote Wien

Bezeichnung für die Zeit von 1918 bis 1934, als Wien erstmals demokratisch von Sozialdemokraten regiert wurde. Das Rote Wien gilt als erstes praktisches Beispiel einer langfristigen sozialistischen Strategie zur Umformung einer großstädtischen Infrastruktur. Die bedeutendsten Errungenschaften: der soziale Wohnbau, Verbesserung der Gesundheits- und Jugendfürsorge sowie Schul- und Bildungsreform.

18 Bürgerkrieg in Österreich [Februarkämpfe 1934]

Die Gegensätze zwischen den Sozialdemokraten und den Christlichsozialen bzw. der Regierung führten im Februar 1934 zum Bürgerkrieg in Österreich. Die Februarkämpfe brachen in Linz aus und breiteten sich nach Wien aus. Der unorganisierte Aufstand forderte mehr als 300 Tote und 700 Verwundete [auf beiden Seiten]. Außerdem führte er zum Verbot der Sozialdemokratischen Partei und der Gewerkschaften sowie die Ausrufung 1934 des Ständestaats.

19 Nestroy

Nestroy, Johann [1801 - 1862]: Schauspieler, Sänger, satirisch-humoristischer Dramatiker. Seine Stücke zeichnen sich durch eine scheinbar oberflächliche Handlung aus, die immer wieder durch Gesangsstücke unterbrochen werden. Diese Lieder wurden hauptsächlich dafür geschaffen, die in der Zeit des Vormärz allgegenwärtige Zensur zu umgehen.

20 Young Austria

1939 gegründete, kommunistisch geführte Jugendorganisation österreichischer Flüchtlinge in Großbritannien, hatte 1300 Mitglieder.

21 Kindertransport

Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs rief die britische Regierung eine Rettungsaktion ins Leben, um Kinder vor dem Nazi- Terror zu bewahren. Zehntausend größtenteils jüdische Kinder aus deutsch besetzten Gebieten wurden nach Großbritannien gebracht und von britischen Pflegeeltern aufgenommen.

22 Bücherverbrennung

die demonstrative Zerstörung von Büchern oder anderen Schriften durch Feuer. Die meist öffentlich durchgeführte Verbrennung erfolgt üblicherweise wegen moralischer, politischer oder religiöser Einwände gegen den Inhalt der Schrift. In der Zeit des Nationalsozialismus wurden vom 10. Mai bis 21. Juni 1933 an vielen Orten in Deutschland Bücher verbrannt. Nach dem Anschluss fand am 30. April 1938 in Salzburg die einzige Bücherverbrennung in Österreich statt.

23 Freie Österreichische Jugend [FÖJ]

Die Jugendorganisation der Kommunistischen Partei Österreichs. Sie wurde 1945 als überparteiliche 'österreichische und antifaschistische' Vereinigung gegründet. Bis Frühling 1956 zogen sich die sozialistischen, christlichen und parteilosen Aktivisten zurück. Die FÖJ wurde, wenn auch formal unabhängig, zu einer kommunistischen Teilorganisation.

24 Ungarnaufstand

Im Ungarischen Volksaufstand versuchten die Ungarn im Oktober 1956, sich von der sowjetischen Unterdrückung zu befreien. Er begann am 23. Oktober 1956 mit einer Großdemonstration in Budapest und endete am 4. November 1956 durch den Einmarsch der Roten Armee.

25 Prager Frühling

Prager Frühling: Bezeichnung für die Bemühungen der tschechoslowakischen Kommunistischen Partei unter Alexander Dubcek im Frühjahr 1968, ein Liberalisierungs- und Demokratisierungsprogramm durchzusetzen und einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz zu schaffen. Der Prager Frühling endete am 9. August mit dem Einmarsch der Truppen der Warschauer-Pakt-Länder.

26 McCarthy, Joseph Raymond [1908 -1957]

US-amerikanischer republikanischer Politiker. 1947-1954 republikanischer Senator von Wisconsin. 1950 Vorsitzender im Senatsausschuss für unamerikanische Umtriebe. Senator McCarthy inszeniert eine landesweite Hexenjagd gegen vermeintliche Kommunisten, klagt Unschuldige in Schauprozessen an und zerstört ganze Existenzen.