Erna Wodak

Hochzeit von Dr. Erna Wodak und Dr. Walter Wodak

Interviewer: Tanja Eckstein
Wien
Österreich
Datum des Interviews: Oktober 2002

Anmerkung: Erna Wodak starb im März 2003 in Wien.

Frau Doktor Wodak ist eine gutaussehende 86jährige Dame. Um Frau Doktor Wodak zu interviewen, muß ich durch den Garten des Belvedere 1. Ihr Häuschen verbirgt sich hinter einer Mauer und ist umgeben von einem wunderschönen Garten. Eine elegante, sehr auf Etikette achtende Dame, öffnet mir freundlich die Tür. In ihrer Wohnung kann ich keinen Moment vergessen, daß ich mich auf dem Gelände des berühmten Museums befinde, es gibt kein Möbelstück, daß nicht musealen Wert besitzt.
Frau Doktor Wodak ist freundlich, aber sehr distanziert, was eventuell zum Teil daran liegt, daß sie viele Jahre die Frau eines Botschafters war. Sie hat Probleme mit ihren Augen, das hält sie aber nicht davon ab, regelmäßig zu ihren Bridge-Nachmittagen zu gehen. Überaus freigiebig stellt sie mir ihre Familienfotos zur Verfügung. Als ich die Fotos zurückbringe, ist sie aufgeschlossener, plaudert sogar über Gefühle und ich bedaure sehr, das Interview bereits auf Kassette zu haben.

Mein Name ist Dr. Erna Franziska Wodak, geborene Mandel. Ich wurde am 30. November 1916 in Wien geboren.
Leider weiß ich nichts über meine Großeltern väterlicherseits und kenne nicht einmal ihre Namen.

Der Vater meiner Mutter, Doktor Simon Friedmann war Rabbiner in Lublinitz, das war damals Oberschlesien.
Er wurde am 24. Oktober 1849 in Kempen, das lag in Posen, geboren. Er starb am 28. Mai 1924 in Wien. Von der Großmutter kenne ich weder den Namen, noch habe ich jemals etwas über sie erfahren. Die Großeltern hatten nur eine einzige Tochter [Anmerkung: Kann nicht stimmen, auf seinem Grabstein steht: Tief betrauert von seinen KINDERN und Enkeln], das war meine Mutter. Meine Mutter hieß Anna Friedmann und war eine geborene Oppenheim [Anmerkung: Wahrscheinlich nach dem Namen ihrer Mutter. Ich nehme an, die jüdische Ehe ihrer Eltern wurde vorerst staatlich nicht anerkannt, deshalb wurde bei der Geburt der Name ihrer Mutter eingetragen].
Sie wurde am 7. November 1882 in Lublinitz geboren. Meine Mutter war eine sehr religiöse Frau. Ihre Muttersprache war Deutsch und sie war von Beruf Schriftstellerin und Malerin.

Mein Vater war Rabbiner. Er hieß Aron L. Mandel, wurde am 30.10.1869 in Verbo, Komitat Neutra, in Ungarn, geboren, war Professor Doktor der Theologe. Er hatte eine Reifeprüfung in der Rabbinatsschule in Budapest und das Doktorat an der Universität in Wien. Er unterrichtete Religion im Gymnasium im 4. Bezirk.

Der Bruder meines Vaters hieß Geza Mandel. Mein Onkel lebte in Wien, im 19. Bezirk. Er war verheiratet mit Tante Liesl und war Geschäftsmann. Geza starb vor dem Holocaust, seine Frau Liesl wurde ermordet [Elisabeth Mandel, geb. am 9.10.1886 wurde am 20.5.1942 nach Maly Trostinec deportiert und am 26.5.1942 ermordet. DÖW-Opfer-Datenbank]

Meine Eltern heirateten in Wien.

Ich hatte eine Schwester und einen Bruder.

Meine Schwester hieß Amalie Lilli Hoff, geborene Mandel, und wurde am 14. Mai 1906 in Wien geboren.

Mein Bruder Emil Emanuel Mandel wurde am 3. September 1910 in Wien geboren.

Unsere Wohnung befand sich in Wien im 10. Bezirk in der Gudrunstrasse 142, ich besuchte auch die Volksschule im 10. Bezirk.

Zu Hause hatten wir ein Dienstmädchen, das gleichzeitig auch unsere Köchin war. Unsere Wohnung war groß, und das Dienstmädchen wohnte mit uns zusammen.

Meine Schwester durfte nicht maturieren, mein Vater hatte das bestimmt, weil er glaubte, für Mädchen sei die Matura nicht wichtig. Nach der Schule erlernte meine Schwester den Schneiderberuf und besaß später im 1.Bezirk in Wien, in der Wollzeile, einen Schneidersalon.

Mein Bruder studierte Medizin an der Universität in Wien, machte seinen Doktor als Internist und arbeitete im Rothschild-Spital.

Wir waren eine sehr religiöse Familie, feierten alle jüdischen Feste zu Hause und ich ging sehr oft in den Tempel im 10. Bezirk, in dem mein Vater Vorträge hielt.

Wir hatten ein sehr geselliges Haus. Meine Eltern hatten oft Gäste und einen großen Freundeskreis. An eine Dame kann ich mich erinnern. Wir feierten natürlich jeden Freitagabend Schabatt und diese Dame war alleinstehend und ein bißchen behindert, und immer freitags unser Gast. Meine Mutter führte natürlich einen koscheren Haushalt.
Nach der Volksschule ging ich in die Mittelschule, die hieß der „Wiener Frauenerwerbverein“, und war am Wiedner Gürtel. Diese Schule gibt es noch immer und sie heißt auch noch immer so.
Es gab in dieser Schule zwei Richtungen, man konnte Haushalt und Nähen lernen, aber das hat mich nicht interessiert. Ich war sehr lerneifrig und entschied mich für Sprachen, Latein, Englisch und Französisch und ich maturierte dann auch in diesen Fächern.

Antisemitismus habe ich in der Schule kaum kennengelernt. Ich hatte eine Freundin, die immer zu mir gehalten hat. Ein anderes Mädchen, mit der ich täglich in die Schule ging, sie war die Tochter eines Spirituosen-Fabrikanten im 10. Bezirk, hat sich dann als ziemliche Nationalsozialistin entpuppt. Sie hatte bereits ein Hakenkreuz unter dem Mantel, aber das bemerkte ich erst viel später.
In der siebenten Klasse, im Realgymnasium, holte ich mir den Schlüssel der Garderobe, sammelte sämtliche Hakenkreuze von den Mänteln und brachte sie strahlend der Direktorin.
Ich wußte natürlich nicht, daß die Direktorin auch eine Nationalsozialistin war. Sie hätte mich rausschmeißen können, das hat sie Gott sei Dank nicht getan, aber sie hat mich zurecht gewiesen.

Als mein Vater starb, war ich dreizehn Jahre alt. Er starb kurz nach seinem sechzigsten Geburtstag, das war der 7. November 1929, an Herzmuskelentzündung.
Eigentlich wollte ich immer Theologie studieren, aber ich war so unglücklich, daß ich keinen Vater mehr hatte, so beschloß ich, Chemie zu studieren.

Meine Geschwister und ich waren eine Clique. Da ich ein spätes Kind war, hatte sich vor allem meine Schwester sehr um mich gekümmert, sie ging auch mit mir in die Tanzschule und zur Gymnastik. Den Gymnastikunterricht hatte ich bei einer sehr netten jüdischen Familie, im 4. Bezirk.

Meine Schwester heiratete in Wien den Schauspieler Otto Hoff. Er spielte im 2. Bezirk in einem jüdischen Theater, auf einer jüdischen Bühne und war ein sehr frommer Jude. Meine Mutter und ich haben ihn aber nie auf der Bühne erlebt.

Eigentlich war meine Schwester in einen Amerikaner verliebt, den sie dann nicht geheiratet hat, weil mein Vater dagegen war. Der Amerikaner war kein Jude, aber wir fanden alle, daß das sehr schade war, denn dieser Amerikaner war ihre große Liebe. Und so wäre auch ihr Leben viel leichter gewesen.

Meine Mutter war sehr beschäftigt, sie war immer die Obfrau von jüdischen Vereinen wie zum Beispiel WIZO [Women’s International Zionist Organisation], sie hat sehr viel gearbeitet.

1934 habe ich maturiert und danach an der Universität Wien Chemie studiert.

Mein Bruder war in der Sozialistischen Jugend, er wurde einmal festgenommen, aber nach einem Tag Arrest frei gelassen. Meinen Bruder haben die Nazis schon am ersten Tag nach ihrem Einmarsch gesucht.
Da hat unsere Köchin, die Mizzi, sehr gut reagiert. Als die Nazis kamen, hat sie die Kette vor die Tür gelegt und die nicht rein gelassen und gesagt:
„Der Herr Doktor ist im Krankenhaus.“ Da sind sie wieder abgezogen. Später wären sie nicht so schnell gegangen.

Mein Bruder ging an diesem Abend ins Rothschild-Spital und kam nicht mehr nach Hause. Er wartete dort so lange, bis ich ihn mit seinen Papieren holte, damit er nach Italien fliegen konnte. Das war zu dieser Zeit noch möglich.

Meine Mutter hatte einen Cousin in London gefunden, einen Zahnarzt, den sie bat, für mich ein "advertisment" zu schicken, damit auch ich herauskomme.
Meine Mutter beantwortete auch für mich eine Annonce, in der eine Erzieherin für kleine Kinder in London gesucht wurde.

Die Deutschen marschierten am Freitag in Wien ein. Am darauffolgenden Montag fuhr ich ins Laboratorium der Universität und traf meine Kommilitonen, die sich auf der Währingerstraße vor dem Eingang versammelt hatten und zu mir sagten:
„Wenn Du noch einen Schritt machst, bist Du im Konzentrationslager.“ Das waren all diese Studenten, mit denen ich vier Jahre studiert hatte. Es gab nicht einen meiner Mitstudenten, der zu mir gestanden hätte.

Bis zu meiner Emigration lebte ich in Wien und wurde von den Nazis belästigt: Ich mußte die Stiegen der Universität waschen und vor allem, was furchtbar war, ich bekam in mein Studienbuch den Eintrag, daß ich nicht weiter studieren dürfte.

Zwei Monate mußten mein Bruder und ich auf unsere Papiere warten. Ich bereitete mich in dieser Zeit auf die Emigration vor und verschiedene Dinge: Ich bekam sogar ein Diplom, daß ich die Qualifikation erworben hätte, im Spital im Laboratorium oder in der Kosmetikforschung arbeiten zu können.
Anfang Juni konnte ich nach England emigrieren. Ein Nationalsozialist schaute mir beim einpacken zu, damit ich nichts Wertvolles wegtrage.

Zuerst fuhr ich ins Spital zu meinem Bruder und begleitete ihn zum Flugplatz, er flog nach Italien. Am Abend fuhr ich mit der Bahn nach Triest, um meinen Bruder dort zu treffen und ihm noch etwas Geld zu bringen. Wir hatten zu dieser Zeit sehr wenig Geld, aber das habe ich ihm gebracht, war mehrere Tage und Nächte mit ihm zusammen und bin dann mit dem Zug nach London gefahren.

Meine Schwester blieb in Wien. Ihr Mann wurde in der Pogromnacht, am 10. November 1938 verhaftet und ins Konzentrationslager Dachau deportiert.
Meine Mutter und meine Schwester blieben gemeinsam in Wien.

Ich wurde in England bei einer sehr orthodoxen Familie untergebracht. Sie waren begeistert, die Tochter eines Rabbiners aufnehmen zu können.
Das war eine furchtbare Stellung. Ich mußte sie bedienen, alle Betten machen im Haus, durfte nur in der Küche essen, und schlief mit zwei kleinen ekelhaften Kindern in einem Zimmer. Manchmal mußte ich auch um zwölf Uhr nachts noch einen Kaffee oder Kakao servieren, ich war todunglücklich.
Freundinnen hatten mir dann erzählt, daß es einen Internationalen Studenten-Verein gäbe, ich solle dort hingehen, vielleicht könnten die mir helfen.
Im Internationalen Studenten-Verein saß eine furchtbar nette Sekretärin, die mir aber leider nicht helfen konnte.
Daraufhin ging ich nach Hause zu dieser Familie, es war mein einzig freier Tag, packte meine Sachen und fuhr zu einer Freundin meiner Mutter.
Ich wartete nicht einmal auf mein mir noch zustehendes Geld, ich wollte sofort weg.

Die Freundin meiner Mutter erschrak sehr, als ich mit einem Koffer vor ihrer Tür stand, aber ich beruhigte sie und behauptete, daß ich bestimmt am nächsten Tag eine Stelle finden würde.

Am Morgen kaufte ich mir eine Zeitung und fand eine Annonce, eine Familie suchte ein Kindermädchen. Ich rief an, ein sehr netter Mann war am Telefon. Ich sagte ihm, daß ich eigentlich weiter Chemie studieren und keine Kinder erziehen wolle, und er antwortete, die Kinder seien älter, gingen schon in die Schule, ich solle doch zuerst mal kommen.

Das waren die Rothmans von den Rothman-Zigaretten. Sie waren eine sehr reiche Familie und wohnten in einer wunderschönen Villa. Sie garantierten dann, daß meine Mutter den Engländern nicht zur Last fallen würde und so konnte sie nach England emigrieren und war gerettet.

Mein Bruder war in Italien und bewarb sich in Amerika um eine Stellung an einer Universität. Nach einiger Zeit bekam er die Mitteilung, er könne die Stelle antreten. Bevor er nach Amerika übersiedelte, kam er noch einmal zu mir nach England, um sich zu verabschieden. Er besuchte mich bei den Rothmans und flog dann nach Amerika.

Im Januar 1939 bekam ich von der Sekretärin des Studentenvereins einen Brief, in dem stand, wenn ich in Liverpool eine Prüfung absolvieren würde, könne ich weiter studieren.
Die Rothmans sagten:
„Du fährst sofort.“ Am Bahnhof in Liverpool erwartete mich eine sehr nette Dame, es war Januar, sie trug einen Strohhut und sagte:
„A young man arrived here and if you have any problem, he is going to solve it.”

Ich war glücklich, alles war für mich vorbereitet. Ich lebte bei einem Professor der Universität, bekam ein Taschengeld und durfte frei studieren. Und alle waren sehr nett und ich verstand mich mit ihnen sehr gut.

Zum Abendessen mußte ich mich immer umziehen, ich hatte einen langen Rock und zwei Blusen, weil man sehr auf die Etikette achtete.
Die Familie des Professors lebte in einiger Entfernung zur Universität. Nach dem Essen zog ich mich wieder um und ging mit den erwachsenen Kindern der Familie des Professors zum Roten Kreuz, um dort am Abend zu arbeiten. Wir halfen den Kindern, die aus London evakuiert wurden.
Das war eine schreckliche Erfahrung für mich, weil ich immer geglaubt hatte, England sei ein Land, in dem die sozialen Einrichtungen viel besser als in Österreich wären, aber es gab Kinder, die hatten noch nie Milch getrunken, die waren mit Bier aufgewachsen, hatten sich nie die Zähne geputzt, das war unbeschreiblich.

Dann lernte ich Walter Wodak kennen. Er arbeitete an der Liverpooler Universität bei einem Professor, dem er erzählt hatte, daß sehr viele Studenten Österreich verlassen mußten und er solle doch etwas unternehmen, damit wenigstens einige wenige weiter studieren könnten. Daraufhin setzte sich der Professor dafür ein, daß die Universität sieben Freiplätze einrichtete. Einen dieser Freiplätze bekam ich.

So lernte ich Walter Wodak kennen, der das initiiert hatte. Der war sehr streng zu mir. Ich war eine Raucherin und besaß einen Wintermantel mit einem Pelzkragen. Mit diesem Mantel war ich aus Österreich nach England emigriert. Walter Wodak war der Meinung, Refugees dürften nicht rauchen und hätten keine Pelzmäntel zu tragen.

Er war Österreicher, hatte in Wien gelebt, und war ein bekannter Sozialdemokrat. Er war Jurist, mit einer Jugoslawin verheiratet und sie hatten gemeinsam zwei Kinder.
Sofort nach Einmarsch der Deutschen nach Wien floh er nach Triest. Von Triest fuhr er sofort zu seinen Schwiegereltern nach Jugoslawien, obwohl die Ehe schon geschieden war. Nach vielen Monaten durfte er nach England kommen. Und so lernte ich ihn kennen. Er mußte aber seine geschiedene Frau noch einmal heiraten, weil die Engländer sonst seine Familie nicht aufgenommen und ihm keine Wohnung gegeben hätten. Als seine Familie in England war, mußten wir sechs Jahre warten, bis wir heiraten durften, das war das Gesetz in England damals.

Das Rauchen und meinen Pelzmantel ließ ich mir nicht verbieten, das gehörte zu meinem Leben.

Walter fand einen Posten für meinen Schwager, der im KZ Dachau war und konnte ihn herausholen. Meine Schwester übernahm dann die Arbeit bei der Familie, bei der ich am Anfang in Liverpool war, meine Mutter zog  mit mir nach Manchester, und alle, mein Schwager Otto, meine Schwester Lilly und meine Mutter bekamen amerikanische Visa und gingen nach Amerika. Mein Bruder heiratete in New York Lizzi, deren Vater Kantor im Tempel im 10. Bezirk war.
Ich habe den Walter Wodak geliebt, und blieb in England.

Ich studierte weiter, erst in Liverpool, dann machten sich die Engländer darüber Gedanken, daß ich eine Spionin sein könnte, Liverpool liegt ja am Meer, und ich mußte nach Wales übersiedeln. Dort habe ich meine M. Sc. Dissertation angefangen zu schreiben, bis ein Polizist kam, weil die Engländer bemerkten, daß auch Wales am Meer liegt, und der Polizist sagte:
„Wenn Sie nicht in einer halben Stunde weg sind, dann verhafte ich Sie.“
Daraufhin fuhr ich nach Manchester, wo meine Mutter mit der Mutter vom Walter Wodak zusammen in einer Wohnung lebte und zog zu ihnen.

Die Liverpool Universität war rührend und schickte mir regelmäßig Geld, damit ich leben konnte. Ich schickte für den Master meine Dissertation nach Liverpool, ging zur Universität in Manchester  und fand dort den Namen des Professor Michael Polanyi, von dem ich schon sehr viel gelesen hatte. Ich ging zu Professor Polanyi, erzählte ihm meine Geschichte und er sagte:
„Wie herrlich, meine Studenten mußten alle in den Krieg ziehen, ich nehme sie sofort auf.“
Dort habe ich meinen Doktor der Philosophie gemacht. Professor Polanyi empfahl mich dem Professor Dr. Chaim Weizmann, der in London ein Laboratorium hatte.

Ab September 1943 arbeitete ich in dem Laboratorium. Es gab eine Fabrik in Manchester, die unsere Forschungen in der Industrie verwendeten.

Im Jahre 1944 heirateten mein Mann und ich in Oxford. Die sechs Jahre waren vorbei und er durfte sich scheiden lassen. Im Laboratorium waren sie sehr unglücklich, weil sie dachten, ich würde meinen Beruf aufgeben.

Mein Mann war inzwischen in der englischen Armee, er hatte sich freiwillig gemeldet.
Mein Mann fuhr 1945 mit der britischen Armee nach Italien, dort mußten sie warten, weil die Russen, die in Österreich und vor allem in Wien waren, sie nicht hereingelassen haben.
Nach einiger Zeit konnten sie nach Österreich und nach Wien und er nahm sofort Kontakt zu seinen sozialistischen Freunden auf. Das war der Karl Renner, 2 der dann Staatspräsident war, und Adolf Schärf 3 und alle seine Freunde.
Karl Renner fragte meinen Mann, ob er nach Wien zurückkommen würde und wenn ja, was er in Wien arbeiten wolle. Mein Mann antwortete:
„Ich habe die ganzen Jahre davon geträumt zurück zu kommen, aber meine Frau will nicht.“

Ein englischer Minister, der ein guter Freund von uns war, und dem ich unter anderem eine Menge Schokolade für meinen Mann mitgegeben hatte, war gerade in Wien zu Besuch. Er wohnte im Hotel Sacher wie alle Engländer. Und der Portier des Sacher ließ meinen Mann nicht hinein, weil er nur Unteroffizier war.
„Da dürfen nur Offiziere rein, Unteroffiziere nicht.“ Mein Mann sagte:
„Dann sagen Sie dem Minister, daß ich da bin.“ Der Minister kam herunter und sagte: „Entweder darf der Wodak herein, oder ich gehe für immer raus.“
Bei dieser Begegnung erzählte mein Mann seinem Freund, Karl Renner sei sehr bestürzt, weil die Engländer nicht mit ihm reden wollten.
Am nächsten Tag fand eine Aussprache zwischen Karl Renner und dem englischen Minister statt, und dann rief Karl Renner meinen Mann und sagte:
„Du gehst für mich nach England, um die Beziehungen zwischen England und Österreich zu legalisieren.“
Und so wurde mein Mann Diplomat.

Im Januar kam der österreichische Botschafter nach London, es wurde eine Gesandtschaft aufgebaut und mein Mann wurde Legationsrat.

Mein Leben mit der Chemie war beendet, weil der Botschafter eine Frau brauchte, und ich nie sehr pünktlich zu den verschiedenen Cocktailpartys kam.

Wir waren bis 1950 in England. Am 12. Juli 1950 wurde meine Ruth Tochter geboren, und wir wurden nach Wien versetzt.
Als mein Mann und ich zusammen nach dem Krieg in Wien waren, habe ich immer Angst gehabt, daß er von den Russen verhaftet werden würde. Ich hatte schreckliche Angst, wenn er spät nach Hause kam, wir hatten damals eine kleine Gemeindewohnung. Unser früheres Dienstmädchen half mir im Haushalt und vor allem mit dem Baby, unsere Tochter war ja noch nicht einmal ein Jahr alt.

Sechs Monaten, nachdem wir in Wien angekommen waren, wurde mein Mann Botschafter in Paris, und nach zwei Jahren Paris wurde er Botschafter in Belgrad. So ging es weiter. Sechs Jahre Botschafter in Belgrad, dann hatte er eine Stelle in Wien, die er nicht verlassen wollte, weil unsere Tochter darunter sehr gelitten hat. Das gelang ihm aber nicht, Kreisky war gütig und gab ihm ein Jahr Karenz und danach wurde mein Mann Botschafter in Moskau. Wir waren sechs Jahre in Moskau.

Unsere Tochter verbrachte die Hälfte des Jahres bei uns in Moskau, aber es war für sie eine schwere Zeit.
Sie hat das durchgestanden, hat mit Auszeichnung maturiert, arbeitet als Universitätsprofessor für angewandte Sprachwissenschaft an der Universität Wien und wurde eine international bekannte Persönlichkeit.

Nach diesen sechs Jahren wurde mein Mann Generalsekretär im Außenamt, das ist der höchste Posten vor dem Außenminister. Im Februar 1974 brach er im Amt zusammen und starb zwei Tage später, er war 65 Jahre alt.

Seit 1974 bin ich Witwe.
Als wir aus Moskau zurückkamen und mein Mann Generalsekretär im Außenamt wurde, begann ich wieder zu arbeiten.

Ich bearbeitete beim Karl Kahane 4, der eine Gesellschaft und einen Betrieb, die „Jungbunzlauer“, hatte, die Zitronensäure herstellten, Patente und Literatur. Das Büro war ganz in der Nähe meiner Wohnung, am Schwarzenbergplatz.

Als mein Mann gestorben war, kam der Kahane auf die Idee, daß ich, die den Weizmann aus London kannte, die Freunde des Weizmann Institute of Science Rehovot, Israel übernehmen sollte. Der Sekretär vom Weizmann lebte in Zürich und war bestrebt, viele solche Gesellschaften ins Leben zu rufen, Professoren verschiedenen Länder tauschten wissenschaftliche Erfahrungen aus. 1976 wurde ich Gründungsmitglied und Generalsekretärin der Österreichischen Gesellschaft der Freunde des Weizmann Institute of Science, Rehovot, Israel. Als Karl Kahane starb, habe ich weitergearbeitet, bis zu meinem 82. Geburtstag. Durch meine Arbeit für die „Österreichischen Freunde des Weizmann Instituts“ war ich sehr oft, sicher zwei Mal im Jahr, in Israel. Es hat mir dort immer sehr gefallen, aber leben hätte ich dort nicht wollen.

Dann fand ich einen Nachfolger, der viel jünger war als ich, der mit dem Computer und mit dem Internet arbeiten konnte, da trat ich zurück. Ich bin jetzt Ehrenpräsidentin.

Alle sind gestorben, meine Mutter 1957 in New York, mein Bruder und meine Schwester starben auch in New York.
Ich war Anfang September 2002, also vor einem Monat in Amerika, weil meine Nichten und Neffen wollten, daß ich sie besuche. Mein Bruder hat zwei Töchter und zwei Söhne und meine Schwester hat einen Tochter. Ich wollte eigentlich nie mehr in die USA fliegen, aber meine Tochter hatte beschlossen, sie fliegt mit mir gemeinsam und das war eine große Zeremonie in New York. Es war sehr schön, mit der Familie zusammen zu sein.

Die Eltern meines Mannes waren sehr fromm, und er war, solange seine Eltern lebten auch fromm, aber sobald sie gestorben waren, war es aus. Er war ein großer Sozialist und das paßte nicht so gut zusammen.
Meine Religion hat gelitten. Ich bin Mitglied in der Kultusgemeinde, war aber nach dem Krieg nur noch selten im Tempel.

Ich hatte immer ein schlechtes Gewissen den vielen Ermordeten gegenüber, daß ich so durchgekommen bin.

Mein Mann und ich hatten beschlossen, als unsere Tochter geboren wurde, ihr das zu ersparen, was uns als Juden angetan wurde. Deshalb hatten wir sie als religionslos eintragen lassen. Aber das hat nichts bewirkt, meine Tochter bekannte sich eigentlich immer zum Judentum, und ich bin sehr stolz darauf, ich bin sehr froh.
Ich bin auch sehr froh, daß mein Enkel, er hat im Frühjahr maturiert und studiert jetzt in Amerika, überlegt, zum Judentum überzutreten.

Glossary:
1. Die Österreichische Galerie Belvedere ist eines der wichtigsten Museen der Welt. Die Sammlungen reichen vom Mittelalter bis zur zeitgenössischen Kunst. Das Museum befindet sich im Schloss Belvedere, das von Prinz Eugen von Savoyen als Sommerresidenz erbaut wurde. Das Belvedere umfasst zwei Schlossbauten: Das Obere und das Untere Belvedere. Im Oberen Belvedere befinden sich die Sammlungen des 19. und 20. Jahrhunderts mit Werken des Biedermeier, der französischen Impressionisten und Hauptwerke von Gustav Klimt, Egon Schiele und Oskar Kokoschka. Im Unteren Belvedere befindet sich das Museum mittelalterlicher Kunst und das Barockmuseum. Die beiden Gebäude werden durch einen einzigartigen barocken Garten verbunden. Das gesamte Ensemble zählt zu den weltweit schönsten und am besten erhaltenen historischen Schloss- und Parkanlagen. Von der Nordseite des Oberen Belvedere kann man den berühmtesten und schönsten Blick auf Wien genießen.
2. Karl Renner: 1945 wurde Renner Staatskanzler in der Provisor. österr. Regierung, wobei es ihm gelang, Vorbehalte der Westmächte, aber auch innerösterr. Bedenken zu zerstreuen. 1945-50 fungierte er als Bundespräs. von Österr. Vielfach geehrt und ausgezeichnet, u.a. Ehrenmitglied der Österr. Akademie der Wissenschaften. R.s Wirken sowie manche seiner Äußerungen sind nicht frei von Widersprüchen. Starren Ideol. wie dem marxist. Prinzip der Staatsverneinung abgeneigt, zeigte er sich stets als Pragmatiker, manchmal auch der Anpassung fähig. Er war der Baumeister der Ersten und stand an der Wiege der Zweiten Republik, er kam aus der Weite der Donaumonarchie und wurde zu einem großen Staatsmann im klein gewordenen Österr.
3. Adolf Schärf: Der in Nikolsburg/Mähren geborene Sohn einer Arbeiterfamilie kam 1899 nach Wien, studierte Rechtswissenschaften, mußte aber unmittelbar nach der Promotion einrücken und nahm als k.u.k. Offizier am Ersten Weltkrieg teil.1918 wurde Adolf Schärf Sekretär der sozialdemokratischen Parlamentspräsidenten Seitz, Eldersch und Renner. 1934 verhaftet, eröffnete er nach seiner Entlassung eine Anwaltskanzlei in Wien, wurde allerdings in der NS-Zeit neuerlich inhaftiert. 1945 war er an der Gründung der SPÖ maßgeblich beteiligt und wurde deren erster Vorsitzender in der Zweiten Republik. Aus dem Internet.
4. Karl Kahane: geb. 20. 3. 1920 Wien, gest, 28. 6. 1993 Venedig, Italien, Unternehmer. War unter anderem mit den Betrieben Montana AG, Jungbunzlauer AG, Bankhaus Gutmann und Terranova finanziell sehr erfolgreich; wirtschaftspolitischer Berater von Bundeskanzler B. Kreisky. Aus dem Internet.