Karl Brandeis

Karl Dragutin Brandeis 
Wien 
Österreich 
Name des Interviewers: Artur Schnarch 
Datum des Interviews: Februar, 2002 

Herr Brandeis ist ein mittelgroßer leicht fülliger Neunzigjähriger. Er hat zwar die üblichen Blutdruckprobleme, was ihn aber in keiner Weise einschränkt.

Er geht einkaufen, besucht Freunde und hat mich bei unserem Zusammentreffen aufs Herzlichste bewirtet und sogar bekocht.

Er lebt mit seinem Sohn die Hälfte des Jahres in einer innerstädtischen Neubauwohnung in Wien, wo ich ihn auch besucht habe, und den Rest der Zeit lebt er in Belgrad.

Dass es mir eher unaufgeräumt erschien, dürfte doch eher an dem Sohn liegen. Erstaunlich war seine geistige Agilität und sein Interesse am Tagesgeschehen, sei es Politik, Kultur oder auch Fußball.

Er hat sich, gemeinsam mit seinem Sohn, auch sehr mit seiner Familiengeschichte beschäftigt, Quellenmaterial gesammelt und Stammbäume erstellt.

  • Meine Familiengeschichte

Ich bin im am 23. Jänner 1912 in dem Dorf Calma geboren. Das ist 16 Kilometer von Sremska Mitrovica und 70 Kilometer von Belgrad entfernt. Das war damals noch in Österreich-Ungarn - die Südgrenze.

Früher war es den Juden nicht gestattet, in den Grenzgebieten zu wohnen. Erst nach 1848 war das möglich. Mein Urgroßvater Ignac Kraus, also der Vater von meiner Großmutter, der wie die meisten Juden in diesem Gebiet aus Ungarn kam, hatte eine Genehmigung vom Grafen Jankovic.

Der hat ihm gestattet, dass er im Dorf Calma wohnen kann. Bis 1848 war es auch nicht gestattet, dass die Juden unbewegliches Eigentum haben. Dieser Adelige hat ihm ermöglicht, dass das Haus in Calma auf seinen Namen gebaut wurde.

Er war ein reicher Mann und hat es sich leisten können, dass er für seine zwei Töchter, Hani und Mindi, einen Erzieher aus Prag bestellt. Dieser Erzieher ist mein Großvater, Ignac Brandeis. Er hat die ältere der beiden Schwestern, Hani, geheiratet.

Meistens haben die Juden mit Häuten und Federn gehandelt, oder, wenn sie kein festes Haus gehabt haben, sind sie mit einem Bauchladen von Dorf zu Dorf gegangen und haben Dinge des täglichen Bedarfs verkauft. Als Kind habe ich noch so einen bei uns im Keller gesehen. Mein Urgroßvater hatte im eigenen Haus sein Geschäft und hat alles verkauft, was die Leute damals gebraucht haben. Ohne festes Haus war es ein bisschen schwerer, aber alle haben gut gelebt.

Es gab drei jüdische Familien in Calma: Brandeis, Klopfer und Morgenstern, und alle waren irgendwie miteinander verwandt. Meine Großtante Mindi hat einen Morgenstern geheiratet, dieser hat mit Häuten und mit Federn von Gänsen gehandelt.

Meine Großmutter, Johanna (Hani) Kraus, wurde 1843 in Calma geboren und hat 1862 meinen Großvater Ignac Brandeis geheiratet. Sie hat noch einen streng koscheren Haushalt geführt. Sie hatte fünf Söhne und ist 1917, als ich fünf war, gestorben.

Ich kann mich erinnern, wie sie gestorben ist, hat man alle Spiegel mit Tüchern verdeckt und hat alles Wasser aus dem Krug ausgeschüttet, das ist eine Sitte. Und ich haben angefangen zu weinen, ich dachte ich müsste verdursten. Sonst erinnere ich mich nur an eine Szene mit meiner Großmutter: Ich habe ihr die Zunge gezeigt, und sie sagte: „Der liebe Gott wird Dir einen Nagel durch die Zunge schlagen“.

Mein Großvater Ignac Brandeis wurde 1833 in Praskoles, Tschechien geboren und hat, bevor er als Erzieher nach Calma ging, in Prag die Handelsschule besucht. Er hat dann die Hani geheiratet und bei seinem Schwiegervater Ignac Kraus im Geschäft mitgearbeitet. Angeblich hat er sich sehr schlecht gefühlt, war unzufrieden und hat angefangen zu trinken.

Man erzählt sich, dass er sich schon zum Frühstück einen Schnaps genehmigt hat. 1891 ist er gestorben und am jüdischen Friedhof in Calma begraben worden. Später wurde meine Großmutter auch dort begraben. Es war ein kleiner Friedhof, neben dem deutschen Friedhof. Leider gibt es den Friedhof nicht mehr.

Wie überall am Land wurden nach dem Krieg die deutschen Friedhöfe aufgelöst, also alle Steine wurden weggetragen. Nachdem die jüdischen Friedhöfe oft daneben lagen, wurden diese gleich mitzerstört. Praktisch jedes Dorf hat einen eigenen jüdischen Friedhof gehabt.

Meine Großmutter mütterlicherseits hatte in zweiter Ehe Adolf Klopfer geheiratet. Sie hieß ursprünglich Juliana Bergl und kam aus Szonta in Südungarn. Meine Mutter Berta stammte aus der ersten Ehe. Dieser Großvater muss schon lange verstorben gewesen sein, denn ich habe nie etwas über ihn gehört.

Sie war die einzige in meiner Familie, die ungarisch sprach, sonst wurde in der Familie nur Deutsch oder auch Serbokroatisch gesprochen. Sie hat in Calma aber auch recht gut Deutsch gelernt. Meine Großmutter hatte mit Adolf drei Kinder: Isidor (1884-1942), Maria (1886-1942) und Eta. Sie ist 1919, als ich schon in Zemun war, gestorben. Ihre Kinder wurden 1942 nach Jasenovac deportiert und ermordet.

Isidor hatte zwei Töchter, die auch in Jasenovac umgekommen sind und zwei Söhne, Leo und Rudi. Leo hat als einer der wenigen Jasenovac überlebt und ist nach Israel ausgewandert. Wir waren mit ihm in regem Kontakt, und er wusste alles über die Familie.

Leider kann man ihn nicht mehr fragen. Rudi war als Chauffeur bei den Cetniks (Draza Michailovic Königstreue) und hat so überlebt. Nach dem Krieg wurde er vom Tito-Regime verhaftet und als Cetnik zum Tode verurteilt. Da er Jude war, wurde die Strafe auf 20 Jahre Gefängnis umgewandelt. 1948 kam er durch eine Generalamnestie für alle 17 Juden in jugoslawischen Gefängnissen frei.

Meine Mutter Berta Bergl war 1867 in Szonta in Südungarn geboren worden. Sie war, wie ihr Bruder Aladar, aus erster Ehe meiner Großmutter. Aladar habe ich nie gesehen. Der lebte in Budapest.

Mein Vater Sigmund Brandeis wurde am 14. September 1866 als zweitältester Sohn von Ignac und Hani Brandeis in Calma geboren. Er hatte vier Brüder: Simon, Bernhard, Marco und Leopold.

Simon, Bernhard und er selbst wurden nach Tovarnik in Slawonien geschickt und waren dort bei der reichen Familie Frank in der kaufmännischen Lehre. Simon (geboren 1864) hat erst das Geschäft vom Großvater übernommen, ist dann aber nach Wien gegangen und hat dort als Handelsreisender gearbeitet. Er hat in Wien Irene Adler geheiratet, und sie hatten einen Sohn, Stefan (Piszta), der 1917 gefallen ist. Simon starb jung, noch bevor ich geboren wurde.

Bernhard (1867-1942) lebte als Kaufmann in Cerevic. Er war mit Laura Leipnicer verheiratet und hatte zwei Kinder: Lili und Oskar. Lili hatte eine Tochter, Elli. Während des Ersten Weltkriegs, im Jahre 1915, haben die Serben mit der Infanterie eine Offensive über die Save gemacht.

Da sind wir für einige Wochen zu meinem Onkel Bernhard nach Cerevic geflüchtet. Ich war sehr klein, aber ich kann mich erinnern, wie ich das erste Mal die Donau gesehen habe. Ich war ganz erschrocken vor so viel Wasser. Als ich mit 13 Jahren ein Mal in Wien war, da habe ich bei meinem Cousin Oskar, der zu dieser Zeit in Wien gearbeitet hat, gewohnt.

1942 hat er mit seiner Frau Rozi Selbstmord begangen. Auch seine Schwester Lili und ihr Mann Oskar Fischer haben Selbstmord begangen, wie die Deutschen schon da waren. Sie wollten den Deutschen nicht in die Hände fallen. Mein Onkel Bernhard und seine Frau Laura wurden im selben Jahr nach Jasenovac deportiert und dort umgebracht.

Marko (1869-1942), der zwei Jahre jünger als mein Vater war, hat nach der Lehre Lenka Papo geheiratet und ist nach Brcko, Bosnien, gezogen, wo er ein Geschäft für den täglichen Bedarf gehabt hat. Sie hatten zwei Kinder, Milo und Jovica, und wurden alle 1942 in Jasenovac ermordet.

Der jüngste Bruder Leopold (1881-1964) hat Jura studiert und in Zemun als Advokat gearbeitet. Er war mit Hana Binder verheiratet, und sie hatten drei Kinder: Paul, Hans und Hedi. Dieser Teil der Familie konnte sich nach Israel retten.

Die Kinder und Enkel von Paul und Hedi leben in Naharia, und wir besuchen sie fast jedes Jahr. Hans ist mit seiner Frau Kira Cemerzin nach dem Krieg zurückgekehrt, und seine Tochter Hedi, ihr Mann Dusko Boskovic und deren zwei Töchter, Ivana und Vesna, leben in Belgrad.

Mein Vater hat ein Geschäft mit Kolonialwaren gehabt. Im zweiten Hauptberuf, denn das Geschäft hat mein ältester Bruder Julius geführt, hat er sich mit Agronomie befasst. Er war ein Pächter von einer Puszta. Serbisch heißt das Pusztara.

Das ist nicht die Puszta, das Land, sondern ein kleines Dorf mit einigen hundert Hektar Land. Der Eigentümer war dieser Graf Jankovic. Und es waren in der Nähe noch zwei so ähnlich große Pusztas, welche dem Grafen Odescalchi gehörten. Das war eine sehr berühmte italienische Familie.

Maria Theresia hat ihnen das Land geschenkt. Diese beiden Pusztaras waren in Pacht von den Familien Rosenberg und Braun aus Erdevik. Die drei Pusztaras hatten die drei Familien gemeinsam. Später haben sie sich zerteilt, und mein Vater hat eine alleine übernommen.

Sein Eigentum war das Vieh - also die Pferde, die Kühe - und die Maschinen - also die Mähmaschine und die Dreschmaschine. Und mit den Bauern, welche in dieser Pusztara gewohnt haben, hatte er einen Vertrag: Sie machen die Arbeit, und am Ende vom Jahr teilen sie mit meinem Vater. Auf serbisch heisst das Napolicari (Hälftler). Es war vier Kilometer von Calma entfernt. Da ist er jeden Tag heraufgefahren und hat die täglichen Arbeiten koordiniert.

Als 1918 die Agrarreform kam, hat er sich zurückgezogen, denn man hat den Eigentümern nur ein Minimum an Land gelassen, und das war dann nicht mehr rentabel. Er hat das Geschäft ganz meinem ältesten Bruder Julius übergeben und hat sich zurückgezogen. Bis 1922 hat er noch in Calma gelebt, und dann ist er zu meiner ältesten Schwester Eugenie nach Zemun gezogen. Er hat von dem Geld, das er erworben hatte, gelebt.

Wir hatten einen Gick und einen Fiaker zu Hause, und zwei Pferde und einen Diener, welcher auch der Kutscher war. Aber am Schabbat ist er nie gefahren. Bei der Großmutter Hani war noch alles koscher, aber mein Vater hat eine Reform des jüdischen Glaubens gemacht. Er hat es so gemacht, dass es einfacher war und gepasst hat.

Er hat Samstags nicht geraucht, er hat keine Reisen gemacht am Schabbat. Man hat Pesach (Fest des ungesäuerten Brotes) und Jom Kippur (Versöhnungstag) streng gehalten. Man hat zu Jom Kippur die Kapure geschlagen.

Ich kann mich noch an das spezielle Messer fürs Schlachten und den Schleifstein erinnern. Das hat aber niemand mehr benutzt, es wurde nur für die Kapurehendeln benützt. In Calma hat man nur Gänse und Hühner gegessen, und die hat mein Vater nur für die Feiertage koscher geschächtet.

Er hat immer sehr viel gelesen und hatte eine riesige Bibliothek mit deutschen und serbischen Büchern. Die hat er auch alle mitgenommen, als er nach Zemun übersiedelt ist. Dort hat er ein Zinshaus gekauft, und ich habe mit meinen Eltern dort gewohnt. Eugenie, meine älteste Schwester, hat mit ihrer Familie auch dort gewohnt. In Zemun ist mein Vater dann auch immer Schabbes in die aschkenasische Synagoge gegangen.

Seine politische Einstellungen waren gemäßigt serbisch national. Er hat die Samostoli Demokrati gewählt, welche eine bürgerliche Partei war. Sozialisten gab noch keine.

1942 wurden alle 500 Juden von Zemun von Volksdeutschen Polizisten auf Viehwaggons verladen und nach Jasenovac gebracht, wo sie ermordet wurden. Einer von den Volksdeutschen, der meinen Onkel Leopold kannte, hat ihm dann berichtet, dass mein Vater noch am Bahnhof mit einem Holzbeil erschlagen worden ist. Für die alten Leute war eine Kugel zu schade.

1887 hat mein Vater meine Mutter Berta Bergl geheiratet. Sie hatten sechs Kinder, drei Söhne und drei Töchter.

Meine Mutter hat erst in Calma Deutsch gelernt. Sie hat jeden Freitag die Kerzen für Schabbat gezündet, bis sie zu alt wurde, da hat das dann meine Schwester Eugenie übernommen. Sie ist auch nach Jasenovac deportiert worden und nicht mehr zurückgekehrt.

Meine Mutter hat acht Kinder geboren, von denen sind sechs erwachsen geworden. Zwei sind als kleine Kinder gestorben. Es war ein großer Unterschied in den Jahren. Der älteste Bruder Julius war 24 Jahre älter als ich, und nach meiner jüngsten Schwester Laura war eine Pause von 14 Jahren, bis ich geboren wurde.

Julius wurde 1888 geboren und hat das Geschäft meines Vaters geführt, bis er es 1918, nachdem mein Vater in Rente ging, ganz übernommen hat. Er hat auch in der K und K Armee gedient und an der italienischen Front gekämpft. Er war mit Elsa Lendler verheiratet, und sie hatten vier Kinder: Aleksander, Greta, Rajko und Otto. Alle wurden 1941 bei einem Ustaschaangriff erschlagen. Aleksander, der Älteste, hat da schon Medizin studiert.

Eugenie wurde 1892 geboren und war mit Laza Rosenberg verheiratet. Sie ist zu ihrem Mann nach Zemun übersiedelt, und er hat dort ein Geschäft mit Leder und Geschirr für Pferde betrieben. Lazar kam aus dem von Calma vier Kilometer entfernten Dorf Divos, wo sie die einzige jüdische Familie waren.

Sie hatten zwei Söhne: Teodor und Ervin. Teodor, war mit Elvira Brunner verheiratet, die mit den Schwiegereltern in Jasenovac 1942 ermordet wurde. Teodor hat als Kriegsgefangener in Deutschland überlebt. Er war Offizier und hat in der jüdischen Abteilung des Kriegsgefangenenlagers den Krieg überlebt.

Die Deutschen haben sich da an die internationalen Konventionen gehalten. Er hat, als er zurückkam, Vlasta Milanovic-Spicer geheiratet, und sie sind nach Israel ausgewandert. Sie haben einen Sohn, Elieser. Ervin wurde auch nach Jasenovac deportiert und hat überlebt.

Es gab einen Großausbruchsversuch von ungefähr 1500 Gefangenen. Es war schon ziemlich gegen Ende, und man hat gehört, dass jetzt alle Übriggebliebenen umgebracht werden soll. Dabei sind alle, bis auf 78 Gefangene, umgekommen. Ervin war einer von den 78. Bis dahin hat er überlebt, da er Automechaniker war und man ihn gebraucht hat. Er hat dann 1948 Aleksandra geheiratet und ist nach Israel ausgewandert.

  • Meine Kindheit

Da ich, bis meine Eltern 1924 auch nach Zemun übersiedelt sind, schon zwei Jahre bei meiner Schwester Eugenie gewohnt habe und dort zur Schule gegangen bin, hatte ich zu diesem Teil der Familie einen besonders engen Kontakt.

Raul-Ignac wurde 1895 geboren. Er war Offizier in der K und K Armee. Er hat 1923, wegen einer Liebesgeschichte, Selbstmord begangen.

Rosika wurde 1897 geboren, war mit Karl Zuckermann in Karlovac verheiratet und hatte eine Tochter, Anica.

Die jüngste Schwester Laura war mit Milan Ehrenfreund in Sisak verheiratet. Rosika und Laura sind 1924, als meine Eltern nach Zemun übersiedelt sind, auch nach Zemun gezogen. Alle wurden 1942 nach Jasenovac deportiert und ermordet.

Calma hatte, als ich geboren wurde, ungefähr 2000 Einwohner. Die Hälfte waren Serben, die andere Hälfte waren Deutsche. Und es gab drei jüdische Familien in Calma: die Familien Brandeis, Morgenstern und Klopfer.

Es gab zwei Schulen: eine serbische und eine deutsche Schule. Ich war in der serbischen Schule. Ich war der einzige Jude in der Schule, und mein Vorname wurde dort von Karl auf Dragutin slawisiert. Die Tochter von meiner Großtante Mindi Morgenstern ging in die deutsche Schule.

Ich bin schon mit fünf Jahren in die Schule gekommen. Dafür habe ich vom Ministerium in Zagreb eine Bewilligung gebraucht. Der Arzt hat mir ein Attest geschrieben, dass ich körperlich und geistig schon so weit bin. Ich habe dann die ersten drei Klassen dort absolviert.

Es gab keine Elektrizität, keine Autos, und außer im Gemeindeamt gab es kein Telefon. Wir hatten Petroleumlampen und fuhren mit dem eigenen Fiaker.

Weder in Calma noch in den umliegenden Dörfern gab es Synagogen. Zu den Feiertagen hat man sich in einem der Häuser versammelt und dort gebetet. Thora-Rollen hatten wir auch keine, aber Gebetbücher gab es genug. Diese wurden für die Familienchronik verwendet.

Ich kann mich erinnern, dass ich in einem der Gebetbücher die Eintragung meines Großvaters zur Geburt meines Onkels Leopold sah. Leider sind alle Gebetbücher verloren gegangen. Beim Gebet trugen alle Männer einen Talles (Gebetsschal).

Alle jüdischen Häuser hatten Mezusoth an den Türpfosten angebracht. Orthodox erkennbare Juden hab ich nie gesehen. In ganz Jugoslawien gab es ja nur zwei oder drei orthodoxe Gemeinden wie zum Beispiel Senta und Ilog. Neben dem deutschen Friedhof lag unser kleiner jüdischer Friedhof, wo auch meine Großeltern begraben wurden. Es gab einen fahrenden Mohel, der von Dorf zu Dorf fuhr und die Beschneidungen vornahm.  

Es war so üblich, dass ein Mal im Jahr, wenn die Serben ihr Weihnachten gehabt haben und man ein paar Tage keine Arbeit hatte, alle Verwandten zu uns ins Stammhaus nach Calma gekommen sind. Das war immer ein großes Ereignis.

Nachdem meine Geschwister um soviel älter waren, bin ich wie ein verhätscheltes Einzelkind aufgewachsen. Ich bin dann mit acht, nach der dritten Volksschule, nach Zemun zu meiner ältesten Schwester Eugenie übersiedelt. Da meine Eltern erst zwei Jahre später nachgekommen sind, war ich für diese Zeit von ihnen getrennt.

Zemun ist heute ein Vorort von Belgrad, auf der anderen Seite der Donau gelegen und durch Brücken verbunden. Damals war es eine eigene Stadt, und um nach Belgrad zu kommen musste man mit der Fähre fahren. Als ich 1922 hinkam, war das schon Jugoslawien unter König Alexander. Vorher war Zemun eine Grenzstadt von Österreich-Ungarn. Jenseits der Donau war Serbien.

Franzthal war der deutsche Teil von Zemun. Wir waren in guten Kontakt mit den Deutschen, bis der Hitler an die Macht kam. Da sind dann seine Ideen bis Franzthal gekommen, und wir sind nicht mehr zum Würstelessen hingegangen. Man hat sich ja persönlich gekannt, und wir wollten keine Zwistigkeiten.

In Zemun gab es ungefähr 500 Juden und zwei Synagogen, die aschkenasische und die sephardische. Die waren gleich in der Nähe, eine gegenüber der anderen. Die sephardische wurde während des Krieges vernichtet. Die aschkenasische wurde beschädigt und besteht noch heute.

Aber nicht als Synagoge, denn die Juden konnten sie nicht reparieren. Und dann hat die Gemeinde sie verkauft. Während des Krieges haben die Deutschen ein Waffenmagazin aus der Synagoge gemacht. Wir gehörten zur aschkenasischen Gemeinde.

Eine der ersten Aschkenasim, die nach Zemun kamen, waren die Vorfahren von Theodor Herzl. Seine Großeltern sind am jüdischen Friedhof in Zemun begraben. Die zwei Brüder vom Großvater haben sich getauft und sind am christlichen Friedhof begraben.

Ich bin wegen der jüdischen Schule nach Zemun gegangen. Es war eine säkulare Schule, also kein Morgengebet, keine Kopfbedeckungen und gemischte Klassen. Der Unterricht war auf Serbisch. Deutsch und Hebräisch hatten wir als Fremdsprache. Die Lehrer waren Juden.

Meine Lehrerin hieß Edith Zeltner. Es gab nur zwei Klassen. Erste und zweite zusammen und dritte und vierte zusammen. Wir waren zehn Kinder in der Klasse, acht Mädchen, ich und der Sohn vom Dr. Band. In der anderen Klasse war mein Cousin Hans, der Sohn von Onkel Leopold.

Religion hatten wir beim Rabbiner Dr. Urbach, der Doktor der Theologie und ein sehr kluger Mann war. Ich hatte auch in den ersten vier Gymnasialklassen bei ihm den Religionsunterricht. Er ist dann als Rabbiner zur aschkenasischen Gemeinde nach Sarajevo gegangen.

In Zemun wurde seine Stelle nicht mehr nachbesetzt, und es gab dann nur mehr den Kantor. Der hieß Katschka und hat alles so weitergeführt wie der Rabbiner. Die Schule war eine große Belastung für mich, denn in Calma habe ich kyrillisch geschrieben. Und jetzt musste ich Hebräisch, Gotisch und Latein schreiben lernen.

Wir hatten fünf mal die Woche von 8 bis 14 Uhr Unterricht. Die Schule war viel besser als die lokalen Schulen und wurde von der Gemeinde finanziert. Sie befand sich in einem Haus der Gemeinde direkt neben der Synagoge.

Man hat Kultussteuer bezahlt, und ein Teil von dem Geld für Alies (Aufruf zur Thora) wurde auch für die Schule verwendet. An Feiertagen und Samstagen hat man immer gespendet. Da man da nicht schreiben darf, war da so ein Buch, und da hat man Zettel gehabt und diese hineingegeben. Und dann sagte man: „soundsoviel Dinar hat man für die Hevra Kadishe gespendet“.

Sport haben wir im Tempelhof und in einer Turnhalle außerhalb der Schule gemacht. Da haben wir Hasena gespielt. Das ist so ähnlich wie Volleyball.

In Zemun war ich zum ersten Mal in einer Synagoge. Aber ich bin nur zu den Feiertagen reingegangen. Schabbat haben wir lieber im Tempelhof gespielt. Es gab für die älteren Leute täglich ein Morgen- und Abendminjan.

Ich war nur ein Jahr in der jüdischen Schule und bin dann ins jugoslawische Realgymnasium gekommen. Da hat man Französisch und Deutsch als Fremdsprache gelernt, und Latein hatte man gar nicht. Nach vier Jahren habe ich in die Handelsakademie gewechselt, wo ich nach weiteren vier Jahren maturiert habe.

Als ich 13 Jahre war, hatte ich Malaria und kam so das erste Mal nach Wien. Der Arzt hat gesagt, ich sollte irgendwo in die Berge. Und wir hatten einen Bekannten, der hat die Rax vorgeschlagen. Die Schwestern waren auch begeistert. Und so sind Rosika, Laura und ich mit der Bahn nach Wien gekommen.

Da haben wir zwei Tage bei unserem Cousin Teodor gewohnt. Dann sind wir für einen Monat auf den Knappenhof in Edlach an der Rax gefahren. Der Knappenhof lag oberhalb von Edlach, und ich habe dort das erste Mal Berge gesehen, und die Luft war ganz anders als zuhause. Wir sind dann mit dem Schiff donauabwärts drei Tage lang wieder nach Hause gefahren.

Im Jänner davor war meine Bar-Mizwa. Da habe ich zwei Monate bei Dr. Urbach gelernt, und die ganze Familie ist gekommen, und wir haben gefeiert. Ich wurde als Schimon ben Jehuda zur Thora aufgerufen.

So lange ich noch in der Schule war, bin ich im Sommer immer an die Donau baden gegangen. Ich habe nie in den Sommerferien gearbeitet. Und mit 16 habe ich das erste Mal das Meer gesehen. Es gab eine jugoslawische Jugendorganisation, die hat Jugendlichen aus ganz Jugoslawien ermöglicht, im Sommer um 450 Dinar ans Meer zu fahren.

Das war sehr billig, und ich bin im Sommer 1928 und im Jahr darauf mitgefahren. Wir sind damals nach Sveti Stefan gefahren, ein kleines Dorf mit 17 Einwohnern. Nur alte Leute, alle jungen sind nach Amerika ausgewandert. Das war ein leeres Dorf.

In den Sommermonaten haben die Jugendlichen dort sechs oder sieben der verfallenen Häuser bewohnt. In einem größeren Haus war die Mensa, wo man alle Mahlzeiten eingenommen hat. Und es wurden auch Ausflüge organisiert.

Ich habe als Klassenbester mit Auszeichnung maturiert und hatte so die Möglichkeit, ohne Probleme gleich eine Anstellung in einer Bank zu bekommen. Ich habe 1929 maturiert, und zwei Monate später habe ich schon in der Bank in Belgrad gearbeitet. Die Bank gehörte indirekt, über eine Zweigstelle in Budapest, der Anglo International Bank in London.

Die erste Zeit bin ich jeden Tag mit dem Schiff über die Donau zur Arbeit gefahren. Das hat pro Richtung eine halbe Stunde gedauert. Das habe ich ausgenutzt und habe auf dem Schiff während der Fahrt Englisch gelernt. Das war so, bis man die Brücke gebaut hat. Es war nur eine Eisenbahnbrücke, und dann hat man eine für den Verkehr und den Warenverkehr gebaut.

Ich bin durch alle Abteilungen, sodass ich alles gelernt habe. Erst war ich in der Buchhaltung und dann später in der Devisenabteilung. Und da hab ich am meisten mit Akkreditierung und Devisen zu tun gehabt.

Ich habe dort von 1929 bis 1941, als der Hitler kam, gearbeitet. 1941 wurden alle Juden sofort entlassen, und die Bank wurde unter kommissarische Verwaltung gestellt. Dazwischen, im Jahre 1932, wurde ich zum Militär eingezogen.

Während ich bei der Armee war, war ich von der Arbeit freigestellt, und ich habe von der Bank ein Gehalt von monatlich 250 Dinar als Taschengeld bekommen. Das hat man mir nach Sarajevo in die Kaserne geschickt.

1932 wurde ich also als Karl Brandeis zur jugoslawisch königlichen Armee eingezogen. Grundlage der Mobilisation war der Geburtsschein, und der lautete auf Karl und nicht auf Dragutin. Ich war zuerst drei Monate in Grabojec zur Grundausbildung und dann sechs Monate auf der Militärschule für Intendantsoffiziere in Sarajevo. Die jüdischen Soldaten hatten jeden Samstag frei, um in die Synagoge zu gehen.

Die Jugendlichen, die nach Israel auswandern wollten, waren meist Mitglied im Schomer Hazair. Es gab auch noch die Hakoah, als ich noch in der Schule war. Die hat sich aber dann aufgelöst. Ich war bei keinen der beiden Mitglied.

Wir sind, bis die Deutschen gekommen sind, immer nach Calma zu meinem Bruder Julius gefahren und haben dort große Familientreffen gefeiert. Mein Vater war da der Gastgeber.

Ich habe mich in einer stark gemischten jüdisch serbischen Gesellschaft bewegt. Viele meiner Kollegen in der Bank waren auch Juden. Ich war ab 1929/30 im Ruderclub. Ich habe Vierer mit Steuermann gerudert. Und im Sommer war ich nie im Urlaub sondern habe mein Hobby, das Rudern, gepflegt.

Man hat die erste Zeit Vormittag und Nachmittag bei der Bank gearbeitet. Und wie sich dann die Öffnungszeiten der Bank geändert haben, sodass ich von 8 – 14 Uhr gearbeitet habe, da bin ich jeden Nachmittag im Ruderclub gewesen.

Nach meinem Wehrdienst habe ich meine Frau Nina Fjodorova beim Schifahren kennen gelernt. Sie war ein halbes Jahr jünger, geschieden und kam aus Russland. Jüdin war sie keine, aber meine Eltern haben nur gesagt: „Wenn, du sie liebst“. Begeistert waren sie nicht, aber sie haben es akzeptiert.

  • Während des Krieges

Nina hat die Musikschule in Belgrad absolviert und Klavierunterricht gegeben. Später hat sie Slawistik studiert und am Gymnasium unterrichtet. Wir hatten keine Kinder, da sie keine bekommen konnte. Wir haben den ganzen Krieg zusammen überlebt.

Nachher haben wir uns auseinandergelebt, und 1952 kam es dann zur Scheidung. Man hat sich dann aus den Augen verloren, aber nach dem Tod meiner zweiten Frau Bossa haben wir uns wieder getroffen und sind gute Freunde geworden. Immer, wenn ich in Belgrad bin, besuchen wir uns gegenseitig. Ich weiß nicht warum, aber sie hat mich als Einzige - und bis heute - Karl genannt.

Ich wurde 1941 mobilisiert und in Mostar stationiert. Da haben die Ustascha schon im ersten Jahr angefangen, von den Bergen zu schießen, und wir wurden von den italienischen Flugzeugen bombardiert. Jetzt wusste ich nicht, was ich machen soll. Jeden Moment konnten die Deutschen kommen.

Wir Serben sind in einer Kaserne zusammengekommen und haben beschlossen, uns mit den LKWs nach Montenegro abzusetzen. Wir wollten ans Meer, und dort würden uns dann die Engländer, sowie im 1. Weltkrieg, helfen. Wir sind am Abend gefahren, und die Ustascha haben uns weiter beschossen.

In Portkorica sind wir den Italienern begegnet, die von Albanien kommend nach Westen weiterwollten. Die haben sich überhaupt nicht für uns interessiert und haben nur „Viva Mussolini, viva Italia“ gerufen. Ich bin dann mit Bekannten in einem LKW bis nach Portkorica hinunter gefahren.

In dem LKW war ein Sanitätsoberst, der mich angesprochen hat: „Wo bist Du her?“ - „Ich bin aus Serbien.“ - „Und wie heißt Du?“ - „Ich heiß´ Brandeis.“ - „Deinen Onkel kenn´ ich“. Das war ein gewisser Dr. Munk, der mit seinem 16 jährigen Sohn unterwegs war.

Er kannte meinen Onkel Leopold von den Freimaurern, sie waren dort in der selben Loge. Er hat mich mitgenommen und sich um mich gekümmert. Er hatte als Arzt Kontakte zur italienischen Polizei und hat mir auf mein Drängen einen italienischen Passierschein mit Photo für die Reise nach Belgrad besorgt.

Alle wollten mich zurückhalten, sogar die Italiener, aber ich wollte unbedingt zu meinen Eltern zurück. Er hat mich noch gebeten, seiner Frau zu sagen, wo er ist und dass sie nachkommen möge, und dann bin ich gefahren.

Durch Bosnien, wo schon die Ustascha waren und weiter nach Zemun über die Donau mit der Fähre, weil die Brücke schon gesprengt war, bin ich Dank des Passierscheines bei meinen Eltern angekommen. Die Eltern waren nicht zufrieden, dass ich gekommen bin, wo ich schon in der sichereren italienischen Zone war.

Am dritten Tag meiner Rückkehr habe ich mich als Jude melden müssen. Sofort habe ich einen Auftrag bekommen, dass ich mich am nächsten Tag zum Arbeitsdienst melden muss. Ich wurde gemeinsam mit meinem Cousin Paul am Bau, bei einem Regiment, zugeteilt: Klosette putzen, aufräumen und in der Kaserne rein machen.


Als nächstes war ich bei einer Kavalleriekaserne, wo wir das gepresste Heu, welches aus Schabatz kam, in die LKWs schlichteten und stapelten. Das Heu wurde von einer Partie österreichischer Juden, von denen der erste Teil noch durchgekommen war, und die zweite Hälfte, ein paar hundert Juden, es nicht mehr geschafft hatten, in Schabatz gepresst. Die Österreicher wurden später alle erschossen.

Mit zwei Freunden wurde ich dann der Pferdeambulanz zugeteilt. Da haben wir jeden Tag 40 bis 50 Pferde gestriegelt und sie rein gehalten. Das war Schwerstarbeit. Und wir haben geholfen, den Pferden die Füße zu halten, während man sie beschlägt.

Das ist eine Technik, dass sie den Fuß richtig heben und halten. Man zieht den Fuß nach außen, denn wenn sich das Pferd auf einen anlehnt, dann ist es gefährlich. Und es gibt ja verschiedene Pferde. Zum Beispiel mit einem kitzligen Pferd war es besonders schwierig.

Bis Juni 1942 war ich dort eingesetzt und konnte immer am Abend nach Hause zu meiner Frau. Ich trug das gelbe Band mit dem Judenstern und durfte die Stadt nicht verlassen. Meine Frau konnte, als Christin, nach Belgrad zu ihren Eltern fahren. Ich hätte weglaufen können, aber ich wusste nicht wohin. 

Im August hat man alle Juden, außer den Mischehen, beim Haus von Dr. Sonnenfeld gesammelt und zu Fuß und mit Pferdepritschenwagen zu den Viehwaggons, die nach Jasenovac fuhren, gebracht. Es waren ungefähr 500 Menschen. Das ganze wurde von Volksdeutschen Polizisten gemacht.

Wo ich gewohnt habe, war ein Volksdeutscher, welcher bei der Polizei war. Er hat gesagt: „Ich werde Dir helfen, dass du dein gelbes Band herunternehmen kannst. Denn bei Mischehen war es möglich, wenn die Frau katholisch war, dass man als Privileg nicht das Band tragen muss. Ohne Band musste ich auch nicht mehr zur Zwangsarbeit. Die Juden waren alle weg. Ich bin zu einem deutschen Gärtner gegangen und habe im Garten gearbeitet. Dafür habe ich zu Essen bekommen und auch Milch für zu Hause.

Obwohl ich momentan frei war, hatte ich gefühlt, dass dieses Privileg nicht bleiben wird. Ich musste aus Zemun weg. Viele sind damals nach Bor in die Kupferminen gegangen. Manche freiwillig, um nicht nach Norwegen oder Deutschland zur Zwangsarbeit geschickt zu werden, und manche waren mobilisiert.

Um aus Zemun herauszukommen, brauchte ich Dokumente. Mit mir in der Bank hat ein Kroate aus Zemun, mein Schulfreund, der vom kroatischen Militär mobilisiert wurde, gearbeitet. Ich bin zu seinen Eltern gegangen und habe gesagt, dass ich sein Geburtszeugnis brauche, um ihrem Sohn eine Nachtragszahlung anweisen zu können.

Aufgrund dieser Urkunde hat mir ein Freund vom Ruderclub einen Ausweis auf meinen neuen Namen Dominic Krsnik gemacht. Beim Amt habe ich mir eine Reisebewilligung nach Bor geholt und bin über Belgrad nach Saidja gefahren, wo ich Bekannte hatte. Ich wollte nicht in die Kupfermine, konnte aber keine andere Arbeit finden.

Also bin ich zu dem deutschen Baubüro gegangen und habe mich gemeldet. In einem Dorf in der Nähe, in Zajecar, wo man die Steine zum Bau von Eisenbahnschienen verlädt, da haben sie mir Arbeit zugeteilt. Meine Frau ist nachgekommen, und wir haben in dem kleinen Dorf gewohnt. Als die Arbeit dort fertig war, haben sie mich in die Werkzeugausgabe des Kupferbergwerks versetzt.

Da war ich lange Zeit, und da habe ich in der Werksmensa, wo nur Deutsche waren, Mittag gegessen, und ich wurde dort wie ein Deutscher akzeptiert, der einzige Unterschied war, dass ich in zivil war, und die andern waren uniformiert. Einmal habe ich gehört, wie sich die Deutschen am nächsten Tisch unterhalten haben.

Einer war ein Chauffeur von dem Automobil, wo man die Jüdinnen aus Belgrad vergast hat. Man hat das Gas aus dem Auspuff ins Automobil eingeführt, und so hat man die Jüdinnen aus dem Belgrader Lager vergast. Der hat gesagt: „Das war schrecklich, das werden wir noch bezahlen.“

Eines Tages, es war der 1. Oktober 1943, kommen da, wo ich zu Dienst war, in diesem Werkzeugdepot, ein Offizier und ein Wachmann mit einem Gewehr zu mir und sagen: „Machen Sie keine Dummheiten. Sie sind verhaftet.“ Das war die Gestapo. Die waren vier Kilometer von diesem Bergwerk entfernt.

Unterwegs hab ich gedacht, ich würde vernichtet, ich würde sofort sterben. Bei der ersten Gelegenheit habe ich angefangen zu laufen, und einer hat ein Gewehr genommen und hat geschossen. Dann hab ich gesehen, wie sein Gesicht staunt, dass ich noch am Leben bin. Und ich laufe weiter.

Unten war ein Fußballverein und viele Leute. Ich habe gesehen, dass ich in der Nähe von den Häusern eine Chance habe durchzukommen. Aber ich bin in Baracken gekommen, wo deutsches Militär war. Und die haben geschrieen „Haltet ihn“. Jetzt konnte er nicht mehr schießen, weil ich schon von Leuten umgeben war. Die haben mich festgehalten, und wie sie mich eingeholt hatten, haben sie angefangen, mich zu schlagen und zu schreien „Ein Jude, es ist ein Jude“.

Ich wurde zur Gestapo abgeführt und bin in Ohnmacht gefallen, und wie ich wieder zu mir gekommen bin, hat der Dienstälteste gerade mit dem Sicherheitsdienst in Negotin telefoniert. Sie haben darum gestritten, welche Dienststelle mich umbringen darf.

Dann haben sie mich in eine Zelle gesteckt, die Hände und Füße zusammengebunden und an der Kante eines Bettes befestigt. Da war noch ein Deutscher, der auch gefangen war. Die haben mich so geschlagen, dass ich dachte, ich hätte keine Augen mehr, weil alles mit geronnenem Blut verklebt war, und ich hatte furchtbare Schmerzen. Ich habe den deutschen Mitgefangenen gebeten, mich zu erschießen, der hatte natürlich keine Waffe.

Am nächsten Tag konnte ich nicht gehen. Zwei haben mich gehalten, um aufs Klosett zu gehen. Ich war ganz ohne Kräfte, und dann haben sie mich am Nachmittag in einen Jeep mit drei Leuten von der Gestapo in die nächste Stadt in ein Geisellager gebracht. Dort wurde ich in eine Einzelzelle gesperrt.

Am Abend haben sie mich aus dieser herausgezerrt und mich in einer Reihe mit anderen zum Erschießen aufgestellt. Da ist ein Herr Gendarm Unteroffizier gekommen und hat gesagt: „Er kommt noch nicht dran, er ist noch nicht verhört.“ Die anderen haben sie erschossen. Ich habe es gehört.

Mich haben sie zurück ins Geisellager gebracht. Dort war ich bis zum 21. Dezember. Ich wusste, dass ich etwas unternehmen müsste. In der Zeit, als ich dort war, wurden noch zwei Mal Geiseln erschossen. Beim Verhör habe ich angegeben, dass meine Mutter Deutsche ist. Aber die haben alle Papiere angefordert und haben dann genau gewusst, dass ich Jude bin. Das habe ich erst nach dem Krieg erfahren.

Das Geisellager war eine Artilleriekaserne, wo unter anderem ein Gebäude war. Das war so: Da war ein Gang, und da waren diese Zimmer, wo die Geiseln waren - jedes separat, mit jeweils 30 Geiseln. Rundherum war Stacheldraht, dort war eine Wasserleitung, also für das tägliche Waschen.

Und draußen, da war ein großer Leuchtturm mit Scheinwerfern. Jeden Tag, morgens und am Nachmittag um 16 Uhr, haben sie uns aus dem Zimmer heraus zum Klosett und dann zum Wasser und dann wieder zurück in die Zelle geführt.

Am 21. Dezember wurden die Deutschen, welche hier zur Überwachung waren, zurückgezogen. Nur drei sind geblieben. Die anderen wurden zu einer Aktion gegen die Partisanen geschickt. Für diesen einen Tag waren nur drei da. Außerdem hat einer der Wachen, ein Volksdeutscher, zwei Monate Festungshaft bekommen und war in eine der Zellen eingesperrt worden.

Er hat nicht auf die Geiseln schießen wollen. Für mich war das die Gelegenheit. Eine der Wachen hat also an diesem 21. Dezember die Türe aufgemacht, es war schon etwas dunkel, also Dämmerung. Er hat alle herausgelassen und hat uns begleitet. Ich bin im Klosett geblieben. Die anderen sind vorgegangen. Die anderen Wachen, welche sonst mehr Möglichkeiten hatten, uns zu überwachen, haben mit diesem Kollegen in der Zelle gesprochen.

Nur einer ist bei uns geblieben. Ich bin bei der Latrine über den Stacheldraht geklettert, habe mich auf den Boden gelegt und bin bis zum zweiten Stacheldraht gekrabbelt. Es war jetzt schon dunkel, und der Stacheldraht war wegen einem Bunkerbau an einer Stelle offen. Da bin ich durch und zum nächsten Dorf, wo ich Bekannte hatte.

Das Dorf war unter Kontrolle der königstreuen Cetniks von Draza Michailovic. Die haben gegen die Kommunisten gekämpft, und mit den Deutschen hatten sie ein Arrangement, dass man sich in Ruhe lässt. Ich habe mich beim Kommandanten der Cetniks gemeldet und war dann einen Monat dort.

Ich war akzeptiert und hatte einen Platz zum Schlafen und zum Essen bekommen. Man hat auch sofort meine Frau verständigt, und sie ist zu mir gekommen. Sie hätte sonst mit den Deutschen Schwierigkeiten bekommen.

Nach einem Monat sagt der Kommandant zu mir: „Wir haben schlechte Angaben von Dir bekommen. Du kannst nicht bleiben.“ Ich habe ihm gesagt: „Ich hab nichts, ich hab keine Möglichkeit zu überleben“. Der Kommandant hat gemeint: „Ich werde Dir helfen. Ich werde Dir ein Schreiben geben“. Er hat mir einen Zettel gegeben, der an ein privates Kohlenbergwerk in den Bergen, nicht weit von der Bulgarischen Grenze, gerichtet war. Ich hab das jetzt noch schriftlich: „Lieber Willi, der Überbringer dieses Schreibens, Brandeis, hat keine Einkommensmöglichkeit. Nimm ihn irgendwie auf. Er konnte wegen seines jüdischen Ursprungs nicht in der Armee bleiben. Er hat seine Frau mit.“

Ich wollte zu diesem Bergwerk, aber die haben nicht mehr gearbeitet. Dann bin ich, dort in der Nähe, im Dorf Lestoriz, geblieben und habe bei einem Bauern gearbeitet. Wir haben dort bis zum Ende des Krieges den Weinberg mit Harke, Sense und Sichel betreut.

Im Oktober 1944 sind die Partisanen und die Russen gekommen, und wir waren acht Tage mit einem russischen LKW nach Belgrad unterwegs. Das Zurückkommen war schrecklich. Ich habe gewusst, dass aus Jasenovac keiner zurückkommt. Es war niemand mehr da von meiner Familie.

Nur Onkel Leo und seine drei Kinder und die zwei Söhne von meiner Schwester Eugenie waren zurückgekehrt. Das Haus von meinem Vater war stark beschädigt, und Fremde haben drinnen gewohnt. Ich habe kein Geld gehabt, um es zu reparieren, und habe es verkauft. Das ging damals noch. Das Geld habe ich in ein paar Monaten für das Leben verbraucht.

Ich hatte so gewünscht, dass ich nur erlebe, dass Hitler bestraft wird. Das hat mir sehr viel Kraft gegeben. Das hat mir ermöglicht, dass ich aus dem Lager herausgeflüchtet bin. Und das hat mir Kraft gegeben, dass ich durch alles durchgekommen bin.

  • Nach dem Krieg

Ich war noch militärpflichtig und habe mich gemeldet. Ich wurde in der Kommandantur in Belgrad als Reserveoffizier der Abteilung Wirtschaft zugeteilt. Ich war bis zum Jahr 1946, bis das Militär demokratisiert wurde, dabei, und dann bin ich zurück in die Bank. Es war dieselbe Bank mit anderem Namen. Sogar viele meiner Kollegen waren wieder oder noch immer da. Mit der Bank ging das, bis man mich im Jänner 1948 im Ministerium für Außenhandel engagiert hat.

Ich wurde von Februar bis August nach Berlin geschickt und war dort in der Wirtschaftsabteilung der Militärdivision tätig. Im August 1948 wurde Tito aus der Familie der sozialistischen Staaten ausgeschlossen, und so war das auch das Ende des Informationsbüros in Berlin. Bevor ich nach Belgrad zu meiner Frau zurückgekehrt bin, war ich noch im Auftrag einer Bank einen Monat in Wien.

Wieder in Belgrad bin ich aus dem Ministerium ausgeschieden und habe bei einer kleineren Bank gearbeitet. Die haben mich als Direktor für drei Jahre in ihre Zweigstelle in Triest geschickt. Dort habe ich gut Italienisch gelernt. Ich hatte auch Kontakt zu einigen Juden der dortigen Gemeinde.

Meine Frau konnte ich nicht nach Triest mitnehmen, weil man Angst hatte, dass ich das Land verlassen werde. In Berlin und Wien war sie auch nicht mit. So haben wir uns nur im Sommer in Istrien getroffen. Aber durch diese lange Trennungen haben wir uns doch sehr auseinandergelebt, und 1952 haben wir uns scheiden lassen.

Als ich nach Belgrad zurückkam und die Scheidung hinter mir hatte, habe ich bei einer Außenhandelsfirma zu arbeiten begonnen. Da bin ich auch oft geschäftlich nach Wien gekommen. Einer meiner Vorgesetzten hatte mich eines Tages gebeten, ich solle drei unserer neuen Funktionäre nach Wien mitnehmen und dort mit ihnen sieben Tage bleiben, es wurde alles bezahlt.

Ich habe also diese drei Damen übernommen, eine war die Frau vom Außenminister, und eine war meine zukünftige Frau. Ich wollte eigentlich nichts mit diesem Aparatschniks zu tun haben. Ich wollte keine nähere Beziehung. Denn sie hatte mit dem Zentralkomitee und mit hohen Parteifunktionären zu tun gehabt. Aber sie hat insistiert, und ich hatte eine gute Ehe und eine gute Frau.

Meine Frau hieß Bosa Cvetic und ist auch 1912 geboren worden. Sie hat Philosophie studiert, konnte aber als Kommunistin im Vorkriegsjugoslawien nur sehr schwer eine Arbeit finden. Sie war sogar im königlichen Jugoslawien eingesperrt. Im Krieg war sie vier Jahre bei den Partisanen und hat auch Flecktyphus gehabt.

Sie ist schon 1977 gestorben, weil sie sich von diesen Kriegsjahren wahrscheinlich nie ganz erholt hat. Nach dem Krieg war sie eine hohe Funktionärin der serbischen Teilrepublik. Sie war auch Sozialministerin von Serbien. Als wir 1962 privat in Israel waren, da hat die damaligen Außenministerin Golda Meir eine Teeeinladung zu ihren Ehren gegeben.

1956 wurde dann unser Sohn Branko geboren. Er ging, bis wir 1970 nach Wien übersiedelt sind, in Belgrad in die Schule und hat dann in Wien maturiert. Nach dem Abschluss seines Welthandelsstudiums in Belgrad hat er bei einer Wiener jüdischen Handelsfirma gearbeitet.

Das war aber doch nicht seins, und jetzt lebt er halb in Wien und halb in Belgrad und ist als freier Künstler im Photo- und Videobereich tätig. Er ist zwischendurch auch nach Israel ausgewandert und hat so die israelische Staatsbürgerschaft.

Meine Frau hat mit Branko serbisch gesprochen und hat auch darauf bestanden, dass er in Belgrad studiert, damit er keine Österreicherin heiratet. Ich und sein Kindermädchen haben mit Branko immer Deutsch gesprochen. Als wir nach Wien übersiedelt sind, war für Branko der Schulwechsel kein so großes Problem, da er ja fließend Deutsch sprach.

Wie ich schon vor der Pension war, wollten sie mir aus Dankbarkeit etwas Gutes tun. So haben sie mich zum Chef der Filiale in Wien gemacht. Ich habe für Generalexport gearbeitet, aber die Wiener Niederlassung hieß Kombik. Ich habe dann diese Wohnung hier gekauft und verbringe jetzt immer die halbe Zeit in Wien und den Rest in Belgrad.