Peter Scheuer

Peter Scheuer am Hafen von Haifa

Dipl. Ing. Peter Scheuer
Wien
Österreich
Datum des Interviews: Februar 2002
Interviewer: Artur Schnarch

Ich habe Peter Scheuer mit seiner Frau Trude in deren Wohnung in einem eleganten Wiener Außenbezirk kennen gelernt. Peter Scheuer ist ein kräftiger rüstiger 80-jähriger, der etwas bullig wirkt. Das Ehepaar Scheuer hat mich sehr herzlich empfangen. Peter Scheuer hatte sich auf unsere Begegnung vorbereitet und mich mit seinem hervorragenden Zahlengedächtnis immer wieder beeindruckt. Sein sarkastischer Humor und seine oft über den Dingen stehende unkonventionelle Art haben sehr viel zu dem plastischen Bild des Lebens des Peter Scheuer beigetragen.

Peter Scheuer starb 2002, ein paar Monate nachdem er interviewt wurde, in Wien.

Mein Name ist Peter Scheuer. Ich bin am 3. Mai 1921 in Innsbruck, in Tirol, unter dem Haferle Kar geboren. Aber ich bin kein echter Tiroler, sondern eine böhmisch-ungarisch-jüdische Mischung.

Auf Ivrit heiße ich Aharon Ben Mosche. Aharon nach meinem Großvater väterlicherseits, der Adolf Aharon Scheuer hieß und 1915, noch vor meiner Geburt, gestorben ist. Wenn von ihm die Rede war, dann sprach meine Familie immer vom Urele. Er kam aus dem tschechischen Dorf Schafa, heute heißt es Safov, und er besaß in der nahe gelegenen Stadt Znaim eine Lederwarenhandlung. Die Großmutter Hermine Scheuer, geboren 1850, habe ich kennen gelernt, denn ich war viel in Znaim. Da bin ich ihr immer wieder begegnet. Die Großmutter war eine geborene Fischer und stammte aus einem Dorf in der Umgebung. Ich weiß noch, sie war die Tochter eines Melameds 1, während der Großvater ein einfacher Lederhändler war. In meiner Mischpoche [jiddisch: Familie] väterlicherseits herrschte ein akademischer Snobismus. Ich weiß von neun Kindern, die die Großmutter geboren hat, von denen aber nur sieben erwachsen geworden sind. Da gab es einen Richard und noch ein Mädchen, die schon im Kindesalter gestorben sind. Die Großmutter starb 1928, als ich sieben Jahre alt war.

Mütterlicherseits lebten noch beide Großeltern, und man hat mich schon im Alter von zwei Jahren nach Graz geschleppt, um mich der Großmutter Amalia Schwarz vorzuführen. Die Großmutter wurde 1856 in Kolin [Tschechien], in Böhmen, als Amalia Goldmann geboren. Als sie heiratete, hat ihr Bruder meinem Großvater Samuel Schwarz Geld gegeben, damit er  ein Geschäft eröffnen kann. Bei den Schwarz´s gab es mindestens genau so viele Kinder wie bei den Scheuers. Die Großmutter war vier Jahre älter als der Großvater und starb schon 1923 in Kaltenleutgeben, im Alter von 67 Jahren.

Samuel Leib Schwarz, mein Großvater, wurde 1860 in Papa, in Westungarn, geboren. In der Familie hat man erzählt, er sei ein illegitimer Sohn des Fürsten Esterhazy gewesen. Er hat auch ausgeschaut wie der Esterhazy - ein großer, fescher Mann. Er hat österreichweit eine der größten Kaufhausketten betrieben. Es gab Kaufhäuser in Wien, Salzburg, Graz und sogar eines in Jerusalem. Der Großvater hatte noch eine Schwester Rosa, die er aus Ungarn nach Graz geholt hatte und ihr da ein kleines Geschäft eingerichtet hat. 1926 starb auch der Großvater, und die Söhne haben seine Geschäfte dann weitergeführt.

Abgesehen von meiner Mutter hatten meine Großeltern noch mehrere Kinder: Die älteste Schwester meiner Mutter war die Tante Elsa. Sie war um zehn Jahre älter als meine Mutter und war erst mit einem Juden verheiratet, der hieß Kaldor. Der hat sie allerdings mit einer Geschlechtskrankheit angesteckt, was zur Scheidung geführt hat und dazu, dass sie keine Kinder bekommen konnte. Sie hat dann in Innsbruck gelebt und den italienischen Maler Zlataper geheiratet. Sie führte das Leben einer reichen Kaufmannstochter mit Urlauben in der Normandie, an der Nordsee, Schifahren in Flims und Baden in der Adria. Den Krieg hat sie versteckt in Ungarn überlebt und nach dem Krieg hat sie in Wien, in der Porzellangasse gewohnt. 1957 ist sie gestorben.

Dann kam Grete, die schon vor meiner Zeit an einer Krankheit gestorben ist. Nach ihr war meine Mutter Frieda und dann noch die Jüngste, die Käthe.

Die Tante Käthe hat später den Heinrich Schein geheiratet. Er war erfolgreicher Teppichhändler. Sie hatten zwei Söhne, Georg und Thomas, und haben sich im Krieg nach England gerettet. Die Tante hatte nach dem Krieg mit ihrem Mann zwei große Teppichgeschäfte in Wien: eines auf der Mariahilferstrasse und eines in der Rotenturmstrasse. Die Söhne sind aber in England geblieben.

Der älteste Bruder war der 1882 geborene Max. Er hat nie geheiratet, hat im elterlichen Geschäft in Graz mitgearbeitet und hat sich im Krieg nach Palästina gerettet. Er starb 1955 in Wien.

Der zweite Bruder war der Walter Schwarz. Er hat viele Kinder hinterlassen. Ich kann mich an Hugo, Rafael und Benjamin erinnern. Er war die Seele des Geschäfts und hat in Salzburg gewohnt. Verheiratet war er mit der Tante Dora, die eine große Zionistin war. Er hat sie allerdings betrogen, und sie hat ihn verlassen und ist mit den Kindern nach Palästina gegangen. Dort hat sie in Sichron Jaakov [heute Israel] ein vegetarisches Restaurant geführt. Walter hat dann versucht nach Belgien zu flüchten, wurde aber in Deutschland verhaftet und in München erschlagen.

Und dann gab es noch den Paul, den hat meine Frau auch gekannt. Der war auch wie sie in Palästina, und ich habe in Haifa eine Zeitlang bei ihm gewohnt. Paul hatte zwei Söhne: Michael und Gideon. Michael ist Professor für Arabisch in Jerusalem.

Ernst war der Jüngste, der hat sich eine Geschlechtskrankheit zugezogen und hat sich umgebracht. Das war so: von der Schweiz kommend, hat er in Innsbruck Station gemacht und sich da umgebracht. Er wurde dann in Innsbruck in das Grab meiner, im Alter von zehn Jahren verstorbenen Schwester Ellen, beigesetzt.

Die Brüder und Schwestern meines Vaters habe ich alle kennen gelernt.

Der Älteste war ein Eduard Scheuer, das war ein Zahnarzt. Er hat sich aber im 1. Weltkrieg irgendwie zu sehr eingemischt und hatte eine schüttelnde Hand. Nachdem er dadurch als Zahnarzt nicht mehr arbeiten konnte, hat er ein Dental-Labor in Brünn [heute Tschechien] betrieben. Der Eduard war mit der Tante Mitzi verheiratet, deren Eltern eine Geberei hatten. Auf jeden Fall waren sie wohlhabend, das heißt, sie sind in Innsbruck auf einer höheren achtungsmäßigen Stufe gestanden. Sie hatten zwei Töchter: Eva und Dora. Eva war mit einem nichtjüdischen tschechischen Offizier verheiratet und hat so den Krieg überlebt. Der Rest der Familie ist im Krieg umgekommen, ich weiß aber nicht wo.

Der zweite Bruder war Berthold Scheuer, der hatte die Tante Mitzi, eine Christin, geheiratet und hatte keine Kinder. Er war ein Diplomingenieur der Chemie. Er hatte in Brünn ein Chemielabor, wo Pasten hergestellt wurden. Berthold hatte in Brünn zusammen mit Eduard ein Haus gekauft, das nach Bertholds Ableben an seine Frau ging. Die Tante Mitzi hat das Haus verkauft und sich mit dem Erlös in ein Stift eingekauft, wo sie bis an ihr Lebensende blieb.

Dann kam schon mein Vater, der Dr. Moritz Scheuer.

Es hat noch einen Oskar gegeben, der war gleich nach meinem Vater, und der war einer der berühmtesten Zahnärzte in der Zwischenkriegszeit in Wien, in der Schwarzspanierstrasse. Dr. Oskar Scheuer hat mich schon als Kind immer mit den Zähnen sekkiert. Da wurde ich extra zwecks Zahnbehandlung von Innsbruck nach Wien gebracht. Er war bei mir nicht so rücksichtsvoll, hat einfach hineingebohrt. Onkel Oskar war mit Tante Melli verheiratet und hatte zwei Söhne: Stefan und Georg. Er wurde mit seiner Frau und dem Stefan nach Theresienstadt deportiert. Onkel Oskar ist noch dort gestorben, Melli und Stefan wurden in Riga vergast [Melanie Scheuer wurde 1942 von Theresienstadt nach Lublin [Polen] deportiert, Quelle: DÖW Datenbank]. Georg, der immer Schurl gerufen wurde, war ein Knöpfelmacher, hat aber vor dem Krieg in Wien ein Reisebüro gehabt. Er hat sich erst nach Panama gerettet und ist von dort nach New York ausgewandert. Er hat dann dort Grete, eine richtige Jekete [Anm.: deutsche Jüdin] aus Würzburg, geheiratet und war mit der Knöpfelmacherei recht erfolgreich. Sie sind nach Miami [USA] übersiedelt.

Und dann kam von den Buben der einzige Nichtakademiker, das war der Hugo Scheuer. Er war mit der Tante Mitzi verheiratet, und sie hatten drei Kinder, von denen zwei heute noch leben. Onkel Hugo hatte das Ledergeschäft meiner Großeltern übernommen. Die Tante Mitzi war eine ganz besonders liebe Tante. Sie kam, wie die Großeltern auch, aus einem mährischen Dorf. Man hat erzählt, dass Hugo als Nichtakademiker im 1. Weltkrieg lange eingezogen war und sich nur mit Mühe retten konnte. Beide sind 1942 in Riga umgekommen. Die älteste Tochter von Hugo, Ruth Scheuer, lebt heute in Paris [Frankreich]. Sie ist 1913 geboren, sie ist also schon 88 Jahre alt. Die Ruth ist kinderlos geblieben. Sie hat in Paris als Modistin gearbeitet. Hugos Sohn, Dr. Herbert Scheuer, lebt in Lyon [Frankreich], ist 1915 geboren und ist ein Hals-Nasen-Ohrenarzt. Er hat erst in Prag, dann in Wien studiert und hat in Paris den letzten Schliff bekommen. Dazwischen war er auch zwei Jahre in Palästina. Er hat eine Tochter, und sie hat wiederum drei Kinder. Alle leben in Frankreich. Das jüngste Kind vom Hugo war der Kurt, beziehungsweise in Israel hieß er Gideon. Er war Zionist und beim Tchelet-Lavan [Blau-Weiß] 2. Er war in der Nähe von Nahariya ein Gründer des Kibbutz 3 Garton, ist aber dann in den Kibbutz Neot Mordechai bei Hule gegangen und hat dort - aus dem Ledergeschäft kommend - die Schuhfabrik Nalei Neot aufgebaut. Er hat zahlreiche Kinder hinterlassen. Der Gideon hatte einen Sohn Gilad und drei Töchter: Ariela, Daphna und Miriam.

Mein Vater hatte auch drei Schwestern. Eine Schwester, die Karoline, hat wegen Geldschwierigkeiten einen Bruder von meinem Großvater heiraten müssen. Sie hat degenerierte Kinder bekommen, ich habe ein Mal eines gesehen. Die sind dann in Auschwitz umgekommen.

Eine Schwester, die Tante Anna, hat sogar meine Frau noch kennen gelernt. Sie war das jüngste Kind, und sie war schrecklich! Sie war mit einem polnischen Juden verheiratet, dem Fränkel. Er hat sich mit Geldwechslereien und Luftgeschäften über Wasser gehalten. Während des Krieges ist der Fränkel in Polen von den Deutschen ermordet worden, und die Tante Anna hat als U-Boot versteckt im 8. Bezirk in Wien bei der Familie Fiala überlebt. Sie ist 1975 in Wien gestorben. Die Tante Anna hat nach dem Krieg bei so einer Art Restitution eine Villa am Wilhelminenberg für wenig Geld erworben. Mich hat sie allerdings enterbt, weil ich mich zu wenig um sie gekümmert habe. Dabei war mein Vater der einzige von den Brüdern, der sie vor dem Krieg unterstützt hat. Sie war auch in Kontakt mit ihrer Gliedcousine [Cousine zweiten Grades] Elise Stowasser-Scheuer. Das ist die Mutter vom Friedensreich Hundertwasser [berühmter österreichischer Maler]. Er ist sozusagen eine Art Cousin von mir.

Mein Vater, Dr. Moritz Mosche Scheuer, wurde am 21. Dezember 1878 in Schafa geboren. Er wuchs in Böhmen mit deutscher Muttersprache auf. Nach dem Studium der Rechte in Wien beendete er seine Laufbahn als Rechtsanwaltsanwärter in St. Pölten. Das war im Jahr 1910. Da hat er sich eine Stadt ausgesucht, wo noch kein zweiter jüdischer Anwalt war. Es waren nur Salzburg und Innsbruck übrig. Sein Kollege, der damals schon Kinder hatte, hat Salzburg gewählt, und so kam mein Vater nach Innsbruck. Mein Vater hat in Innsbruck als Rechtsanwalt nicht lange bleiben können, weil der 1. Weltkrieg gekommen ist. Im 1. Weltkrieg musste er zum Kriegsgericht nach Innsbruck. Er hat dann aber noch zuerst in eine Kaserne nach Nordböhmen müssen, dann war er wieder in Innsbruck und ist dort geblieben. Irgendwie hat er sich dann vom Militär befreit und hat noch während des 1. Weltkriegs die Kanzleitätigkeit wieder aufgenommen und war dann durchlaufend in Innsbruck.

Er hat in der Anickstrasse 3, im 3. Stock gewohnt, und im ersten Stock hatte er die Kanzlei. Das war eine der größten Kanzleien in Innsbruck mit einem Konzipienten und einer Sekretärin. Er hat dann die zu dieser Zeit allein lebende Elsa Kaldor, meine spätere Tante, kennen gelernt. Es wäre fast zu einem Schiddach [jidd. Heiratsvermittlung] gekommen, aber meine Großmutter hat gesagt: ‚Was brauchst du eine Frau, die keine Kinder kriegen kann?’ Nachdem die Elsa ihre zehn Jahre jüngere Schwester Frieda nach Innsbruck geholt hat, wurden die beiden ein Paar. Er war immerhin fast 20 Jahre älter als meine Mutter und war überhaupt ein sehr ernster und strenger Mensch.

Meine Mutter Frieda Schwarz wurde am 23. April 1897 in Graz geboren und wuchs in einer reichen Kaufmannsfamilie auf. Sie war auch, wie sich das damals gehörte, eine Zeitlang in einem Schweizer Mädchenpensionat. Als sie dann nach Innsbruck kam und meinen Vater heiratete, wurde ich 1921 geboren, und zwei Jahre später, im Juni 1923, kam meine Schwester Ellen zur Welt.

Meine Schwester hat mit acht Jahren Scharlach und als Folge eine Herzbeutelentzündung bekommen, an der sie im Juni 1931 gestorben ist. Es war eine große Katastrophe, und ich bin dann sozusagen als Einzelkind aufgewachsen. Ellen ist am Innsbrucker jüdischen Friedhof begraben, und ich habe meine einzige Tochter nach ihr benannt.

Als ich am 3. Mai 1921 in Innsbruck geboren wurde, gab es eine kleine jüdische Gemeinde von circa 300 Menschen - also 100 Familien. Es gab auch ein kleines Bethaus, wir sind aber fast nie hingegangen. Zu den hohen Feiertagen haben wir in den Innsbrucker Stadtsälen gebetet. Dort war es sehr elegant, und das hat mir imponiert.

Zu Hause hatten wir immer ein Tiroler Dienstmädel und ein Kinderfräulein. Das Kinderfräulein war eine deutsche Jüdin. Also unser tirolerisch war nicht sehr gut.

In meiner Volksschulklasse war noch ein jüdisches Kind, der Tomi Bauer. Tomi Bauer hat sich nach England retten können und ist dann paradoxerweise als Deutscher in ein kanadisches Kriegsgefangenenlager deportiert worden, wo er gestorben ist.

In der Volksschulzeit hatten der Tomi und ich beim Rabbiner Link ein Mal die Woche Religionsunterricht. Das war sehr fad, und der Rabbiner Link hat jeden nach dem Rang, den der Vater in der Gemeinde hatte, behandelt.

1931, schon gegen Ende der Volksschulzeit, hat sich unser Lehrer bemüßigt gefühlt, mit der ganzen Klasse einen Ausflug zum ‚Anderl von Rinn’ 4 zu machen. Und da haben die anderen angefangen zu stänkern: ‚Die Juden haben unseren Herrgott umgebracht!’ Der Tomi Bauer und ich standen Rücken an Rücken und haben alle abgewehrt.

Der Diozösanbischof Stecher war als Kind mit mir in derselben Schule, und wir waren befreundet. Als dieser in den 1970er-Jahren die Wallfahrt zum ‚Anderl von Rinn’ abgeschafft hat, kam es zu großen Diskussionen. Ich habe ihm dann einen Brief geschrieben, wo ich ihm meine Volksschulerlebnisse bei diesem Ausflug geschildert habe. Er hat diesen Brief dann im Club 2 [Fernsehsendung in Österreich] öffentlich verlesen.

Dann kam ich ins Bundesrealgymnasium und wurde auch Mitglied beim Schomer Hatzair 5. Da habe ich mich mit meinen Mitschülern Tomi Bauer, Gerber und Kurzmann und auch anderen jüdischen Jugendlichen getroffen. Was aus Gerber geworden ist, weiß ich nicht, aber der Kurzmann lebt jetzt noch in England. Der Miller, ein anderer Innsbrucker Freund, hat ihn in Innsbruck getroffen, als sie auf Einladung der Landesregierung dort waren. Beim Schomer haben wir uns privat getroffen, Sicha [hebr. Zusammenkünfte] gemacht und auch Ausflüge unternommen. Der Verein war im Gegensatz zur Kultusgemeinde zionistisch eingestellt.

Im Gymnasium war ich ein sehr guter Schüler und ein großes Sprachentalent. Als Klassenvorstand hatte ich den Dr. Leonhart Eder, von dem sich nach dem Krieg herausgestellt hat, dass er der Führer des nationalsozialistischen Lehrerbundes war. Er war deutschnational aber scheinbar kein Antisemit. Er hat mich immer gerecht behandelt und manchmal sogar bevorzugt. Allgemein wurden antisemitische Ausbrüche im Gymnasium nicht geduldet.

Man hat uns Schifahren auf die Schiwiesen geschleppt, aber ich war kein begeisterter Schifahrer. Tennis habe ich auch gespielt. Heute ist Schifahren ein Vergnügen, weil man mit dem Schilift herauf fährt und dann runter rutscht. Früher hat man mit Fellen hinaufsteigen müssen. Das war nicht sehr angenehm, also dazu ist mir das Wort Goim Naches [Anm.: vom jüdischen Leben abhaltende Vergnügen] erst später eingefallen. Bergsteigen hab ich ganz gern gehabt, aber heute kann ich es nicht mehr.

Religionsunterricht gab es bei Dr. Elimelech Rimald, der war später Postminister in Israel. Und dieser Elimelech Rimald hat sich gesagt, die Geschichten von Moses und so weiter sollen sie sich zu Hause anhören, ich unterrichte modernes Hebräisch.

Der Präsident der Kultusgemeinde in Innsbruck damals hieß Julius Pasch. Es gab eine Union österreichischer Juden, das waren die Antizionisten. Die waren natürlich in Wien sehr stark, hier in Innsbruck war mein Vater der Vizepräsident. Später dann haben die Zionisten die Führung übernommen. Da waren die zwei Schwager Adler und Berger sehr aktiv. Die wurden beide von den Nazis ermordet. Den Sohn vom Berger habe ich ein Mal in Haifa getroffen, der hatte dort ein Fotogeschäft. Also die Gemeinde war zuerst antizionistisch und nachher zionistisch. Ab 1933 konnte man nur zionistisch sein, bei dem, was da über den Berg gekommen ist [Anm.: aus Deutschland], das war ja nicht sehr erfreulich.

Ab 1933 war es nicht mehr lustig in Innsbruck. Viele sind zu meinem Vater gekommen und haben gesagt: ‚Ich würde ja gerne zu ihnen gehen, aber zu einem Juden, des derf i net’. Da hat er manche große Prozesse von hintenherum geleitet. Er hat sich einen nichtjüdischen Anwalt, den er beraten hat, genommen.

1934 habe ich im Bethaus meine Bar Mitzwa 6 gehabt. Es gab eine Simche [Feier] am Abend, und ich habe ein schönes Steyr Waffenrad [Fahrrad] bekommen.

Es kamen immer Agitatoren aus Deutschland über die Grenze, die die hiesigen Illegalen unterstützt haben. Die haben dann immer im Iglshof gewohnt, weil der Freund der Wirtin, ein gewisser Notebon, ein stadtbekannter Illegaler war. 

Ich bin trotz allem bis 1936 in Innsbruck geblieben. Ich habe dann nicht mehr in die Schule gehen wollen und habe einige Besuche bei meiner Tante Käthe in Wien gemacht, und da hat man mich dann im Gymnasium in der Stubenbastei eingeschult. Ich habe bei meiner Tante in der Rotenturmstrasse 17 gewohnt. Da habe ich auch den Einmarsch im März 1938 miterlebt.

Ich wurde dann aus dem Gymnasium vertrieben und ging noch eine Zeitlang in ein Gymnasium in der Sperlgasse, wo alle Juden hin mussten. In der Zwischenzeit waren meine Eltern auch nach Wien gekommen und wohnten jetzt mit mir zusammen in der Weihburggasse in Untermiete. Gott sei Dank sind sie nach Wien gekommen, denn die Reichkristallnacht 7 hätte mein Vater in Innsbruck, wo ihn jeder kannte, nicht überlebt.

Mein Vater wurde in Wien verhaftet und auf der Polizeistation festgehalten. Aber damals war der Brunner 8 in der Judenverkehrsstelle, und meine Mutter ist zu ihm hin und hat erwirkt, dass man ihn wieder freigelassen hat. Sie hat ja auch so goiisch [nichtjüdisch] ausgeschaut.

Ich habe dadurch, dass ich in Innsbruck aufgewachsen bin, überhaupt keine Illusionen gehabt, was die österreichischen Nationalsozialisten anbelangt, und bin daher als Erstes so schnell wie möglich aus Österreich hinaus.

Der beste Freund meines Vaters, Rudolf Ruberl, wohnte in Mailand und hatte dort eine polnische Vertretung für Zuckerrübensamen. Und so bin ich nach Mailand gefahren und habe gewartet, bis mein Vater mir ein Studentenzertifikat für das Technion [Anm.: älteste Hochschule Israels] in Haifa besorgt. Da hat er beim Palästinaamt 9 Geld eingezahlt, und so die Bewilligung für mich bekommen. Außerdem hatte ich damit ein Stipendium, das mich von den Studiengebühren befreit hat und womit ich auch monatlich nach heutigem Wert 5.000,- Schilling zum Leben bekommen habe - zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel. Es gab noch das Problem, dass ich keine Matura hatte, aber die haben gemeint, sieben Klassen in Österreich sind mehr wert als eine englische Matura.

Ich habe mich in Venedig eingeschifft und bin am 26. September 1938 in Haifa [heute Israel] angekommen und habe begonnen, am Technion zu studieren. Da war ich 17 Jahre alt und habe die erste Zeit bei meiner Tante Dora in Sichron Jaakov verbracht. Die hatte das berühmte vegetarische Restaurant, und es war oft mein Onkel Paul aus Haifa zu Besuch. Zu meinem Onkel bin ich dann übersiedelt und habe bei ihm gewohnt, bis meine Eltern nachgekommen sind.

Am Technion war es so, dass im ersten Jahr alle Gegenstände [Unterrichtsfächer] zusammen waren, und im zweiten Jahr musste man sich dann entscheiden. Ursprünglich wollte ich Bauingenieur werden, aber nach dem ich nicht gerne zeichne, habe ich mich für Chemie entschieden.

Der Ruberl hatte eine Verfügungsgewalt über das Schweizer Konto meines Vaters, und so hat er - auf mein Drängen hin und gegen den Willen meines Vaters - das Geld zur Barclys Bank nach Haifa transferiert und damit ein Kapitalistenzertifikat 10 für meine Eltern bekommen. Mit diesem Kapitalistenvisum sind sie dann von Triest nach Haifa gefahren und haben alle ihre Sachen mitnehmen können. Die Sachen wurden mit einem so genannten Lift gebracht. Das war eine Riesenkiste, wie heute ein Container. Das meiste war für die israelischen Wohnungen unbrauchbar, und der Lift wurde nicht ein Mal ganz ausgeladen und ist nach dem Krieg wieder nach Wien zurückgekommen.

Dann habe ich mit den Eltern in einer Mietwohnung am Carmel [Anm.: Berg in Haifa] gewohnt, bin aufs Technion gegangen und habe studiert und auch bereits begonnen, etwas zu arbeiten. Ich habe als chemischer Tester in der Ölraffinerie von Haifa angefangen. Mein Vater hat bei den Engländern im Militärlager gearbeitet. Im Labor Office der Engländer haben Juden gearbeitet, bei denen man für zwei Monatsgehälter einen Job bei den Engländern kaufen konnte. Er hat dort gearbeitet, bis die Engländer weggegangen sind. Dann war er arbeitslos. Ich bin in der Zwischenzeit ein bisschen ein Macher im Hafen geworden und habe ihm einen Posten als Nachtwächter beschafft. So hat der Dr. Scheuer mit knapp 70 Jahren beim Tor vom Hafen die Ausweise in der Nacht kontrolliert. Sein Doktortitel war in Palästina nichts wert, Englisch oder Hebräisch hat er nicht können, das Kapitalistenzertifikat war in englischen Pfund und ist stark entwertet worden, so hat er sich so abplagen müssen. Er hat immer gesagt: ‚Erez ist schön, aber Israel gefällt mir nicht so gut.’

Ich habe im Hafen allerlei Geschäfte gemacht, zum Beispiel habe ich von Schiffen Penizillin gekauft und es dann weiterverkauft und bin schön langsam zum Hauptverdiener der Familie geworden.

Manchmal bin ich nach Jerusalem gefahren, wo meine Frau gelebt hat, ich habe sie nur noch nicht gekannt. Es war auch gefährlich dort, es ist immer geschossen worden. In Tel-Aviv hatte ich Freunde, die Bitters, die habe ich auch manchmal besucht. Und natürlich sind wir zur Tante Dora nach Sichron Jaakov gefahren. Dann war noch mein Cousin Kurt in Neot Mordechai, und Onkel Paul war sowieso in Haifa.

Ich hatte eine Freundin, die war um zehn Jahre älter als ich. Eine fesche Person, aber sie hat mich dann sekkiert, sie wolle zurück nach Deutschland. Sie war aus der Nähe von Freiburg im Preissgau und wollte, dass ich sie heirate. Ich habe absolut keine Lust gehabt, eine Frau zu heiraten, die um zehn Jahre älter ist. Sie hat in Nahariya gewohnt, und so bin ich dort auch oft hingefahren.

Ich wurde 1947/48 zum Chel Avodat Zwait eingezogen. Ich konnte zwar weiter in der Ölraffinerie arbeiten, musste aber immer in der Kaserne übernachten.

Bei meinem Vater ist 1949 Bauchspeicheldrüsenkrebs in fortgeschrittenem Stadium mit vielen Metastasen diagnostiziert worden, und er ist im selben Jahr gestorben. Kurz darauf musste meine Mutter aus finanztechnischen Gründen nach Wien, und ich bin allein in Israel geblieben.

Meine Mutter hat in Wien in der Pension Nosseg gewohnt und hat versucht, aus dem Verkauf und der Restitution der Kaufhäuser ihres Vaters, ihren Anteil zu bekommen. Am 2. Jänner 1951 bin ich auf einen Kurzbesuch nach Österreich gekommen, um ihr zu helfen. Das Haus in Graz war schon verkauft, das Haus in Salzburg hat die Tante Käthe verkauft, und ich habe einen Anteil bekommen, und das Haus in München habe ich dann verkauft. Es haben sich da einige familiäre Unschönheiten zugetragen.

Ich habe gesehen, dass ich doch nicht so bald wieder zurück nach Israel fahren werde und bin nach Innsbruck gegangen. Ich habe mir dort auf kurzem Wege einen österreichischen Pass geholt. Das ist damals unter der französischen Besatzung leicht gegangen. Da ist der damalige Kultuspräsident Brühl mit mir zur Polizeidirektion gegangen und hat mir einen österreichischen Pass besorgt. Mein Laissez Passé aus Palästina habe ich bei den Engländern abgegeben und dadurch eine britische Identitätsbescheinigung bekommen.

Ich bin dann nach Wien zurück, und in Israel hat Jakob Gang sich um die Auflösung der Wohnung am Carmel gekümmert. In Wien war auch meine Tante Elsa, die in Ungarn versteckt überlebt hatte. Sie hatte eine riesengroße Wohnung in der Porzellangasse, im selben Haus, wo das Kaffeehaus Koralle war.

In dem ganzen Streit um das Kaufhausvermögen haben sich ein paar Rechtsanwälte als Liquidatoren draufgestürzt, da war mir meine kaufmännische Ader eine Hilfe. Die Tante Elsa war durch ihre Ehe mit dem Zlataper eine italienische Witwe, und ich habe den Rechtsanwalt der italienischen Botschaft in Wien, einen gewissen Dr. Wilhelm Marno, für sie eingesetzt. Mit diesem Dr. Wilhelm Marno habe ich dann, nachdem Tante Else gestorben war, ein Geschäft gemacht. Ich habe gesagt, ich werde seine Ansprüche aus dem Liquidatorenhonorar anerkennen, wenn er mir die Hauptmietrechte von dieser großen geräumigen Wohnung in der Porzellangasse überlässt. Ich habe sozusagen auch auf das Geld der anderen verzichtet. Ich habe keine Schwierigkeiten gemacht. Und jetzt hatte ich eine Hauptmiete, die zu verkaufen war. Und diese Hauptmietrechte habe ich dann verkauft und das Geld als Anzahlung für diese Wohnung genommen. Das war die Grundlage für unsere Wohnung. Das war das beste Geschäft, das ich je gemacht habe. Das waren damals 250.000 Schilling, heute gebe ich sie ihnen nicht für vier Millionen her.

Ich habe in Wien von einem Innsbrucker, der in Amerika Offizier war, einen Posten beim CIA vermittelt bekommen. Damals waren ja noch die vier Besatzungsmächte in Österreich. Sechs Wochen wurde ich trainiert, der Lehrer war ein ehemaliger Nazi. Er hat gesagt, dass ehemalige russische Kriegsgefangene zu uns kommen werden, und die sollen wir über alles, was sie gesehen haben, ausspionieren. Ein Kollege von mir, der Piffel, ein Neffe des Kardinals von Linz, hat gemeint, dass wir in den 2. Bezirk, in die russische Zone gehen werden müssen, um diese Menschen zu befragen. Da habe ich mir gedacht, dass das nichts für den einzigen Sohn von Dr. Scheuer ist. Ich bin nach Salzburg zu den Amerikanern gefahren. Die waren sehr verlegen, dass da ein ehemaliger CIA-Mitarbeiter daherkommt, und haben mir erst einen Posten als technischer Übersetzer gegeben und mich dann zum Joint 11 vermittelt. Ich bin dann zwei bis drei Jahre in Salzburg geblieben.

Zurzeit, als der Häussermann beim Kurier [Anm.: Tageszeitung] der Herausgeber war, habe ich dort gearbeitet, und dann hat die Tante Käthe gemeint, dass ich das, was ich dort verdiene, auch bei ihnen im Teppichgeschäft verdienen kann. Ich war dann eine Zeitlang bei den Scheins im Geschäft.

Dann ist meine Mutter sehr krank geworden. Sie hat Leukämie gehabt, aber nicht sehr virulent. Es hat sich also lange gezogen. Nach dem Ableben der Tante Elsa haben wir in der Wohnung in der Porzellangasse gewohnt. Meine Mutter hatte dann einen Schlaganfall und ist auf der ‚Baumgartner Höhe’ [Anm.: Sozialmedizinisches Zentrum] 1959 gestorben. Da habe ich schon in ganz Österreich Schweißelektroden und Metallklebemittel verkauft. Ich habe nie wirklich als Chemiker gearbeitet. Ein Mal habe ich mich bei der OMV [Anm.: führender Öl-und Ergaskonzern Mitteleuropas] beworben und habe dem Personalchef gleich gesagt, dass ich Jude bin, was auch schon das Ende der Bewerbung war.

Meine Tante Käthe hat immer mit der Mutter meiner zukünftigen Frau Bridge gespielt, und als die Trude, meine Frau, geschieden war, da haben die beiden den Schiddach geregelt. Meine Frau Trude ist eine geborene Barchelis und wurde am 3. Mai 1930 in Wien geboren. Trudes Tochter Felicitas - aus erster Ehe - war damals süße fünf Jahre alt, und wir haben uns ein Mal getroffen. Kurz darauf bin ich schon zu ihr in die Wollzeile gezogen.

Am 3. Dezember 1961 wurde auch schon unsere Tochter Ellen in Wien geboren. Ich habe sie nach meiner verstorbenen Schwester genannt.

Durch meine Frau habe ich dann den Ackermann kennen gelernt, und mit ihm zusammen habe ich eine Handelsfirma eröffnet. Das Büro hatten wir in der Wollzeile, und in der Sterngasse war unser Lager. Ackermann war ein Ungar, und wir haben erst mit Schuhen und Geschirr aus Ungarn gehandelt. Es war ein Groschengeschäft, und wir hatten noch andere Teilhaber - wie den Marmorstein und den Tetwar. Sie sind beide schon lange tot.

Ein großer Gewinn war das ganze nie, bis ich ein neues Geschäft aufgerissen habe. Und zwar lief das über die Witwe meines Cousins Georg in New York. Sie hat uns über einen Freund einen Kontakt zu Johnson & Johnson in Schottland hergestellt. Und so haben wir die Vertretung für essbare Kunstdärme der Marke Devaux bekommen. Und dann ist die Firma erst ein Geschäft geworden.

Unsere Tochter Ellen ging in der Nähe unserer Wohnung in die Volksschule und nachher ins Gymnasium in der Haitzingergasse, im 18. Bezirk. Dort war die Direktorin Minna Lachs [Anm.: Germanistin, Pädagogin, Schriftstellerin], eine Jüdin. Danach ist Ellen in die Handelsakademie am Hammerlingplatz gegangen. Da hat es ihr nicht gefallen, so ist sie nach Floridsdorf gewechselt. Das ist auch nicht so gut gegangen. Mit einem Wort -eine gute Schülerin war sie nicht. Jetzt handelt sie auch mit Kunstdärmen und kommt geschäftlich viel nach Ungarn und Israel.

Ellen war mit Charly Weiss verheiratet. Sie sind zwar schon lange wieder geschieden, aber 1985 wurde mein einziger Enkel Julian geboren, der in die französische Schule geht und so ein guter Schüler ist, wie ich es war.

Der Ackermann ist an Krebs gestorben, und wir haben dann noch die Firma eine Zeitlang mit seiner Witwe Gisela weitergeführt. Aber das war dann doch zu schwierig, und so bin ich in Pension gegangen.

Glossar

1 Melamed [jidd

: Lehrer] : lehrte im Cheder des Schtetl die 4-8jährigen Jungen Bibel, Hebräisch-Schreiben und –Lesen und die Grundrechenarten.

2 Blau-Weiß [hebr

: Tchelet-Lavan]: 1913 als 'Blau-Weiß, Bund für jüdisches Jugendwandern in Deutschland' gegründet. Mit Blau-Weiß nahm die jüdische Jugendbewegung ihren Anfang.

3 Kibbutz [Pl

: Kibbutzim]: landwirtschaftliche Kollektivsiedlung in Palästina, bzw. Israel, die auf genossenschaftlichem Eigentum und gemeinschaftlicher Arbeit beruht.

4 ‚Anderl-von-Rinn-Kult’

Der antijüdische Anderl-von-Rinn-Kult nahm seinen Ausgang in den Erfindungen des Haller Damenstiftsarztes Ippolito Guarioni, der - angeregt vom Erfolg der Legende des "Simon von Trient" (1475) - ohne realen Todesfall oder entsprechende Anklage 1642 den mehr als 150 Jahre zurückliegenden "Märtyrertod" des Tiroler Jungen behauptete. Wie im Falle des "Simon von Trient" erkannte jedoch der Vatikan das "Anderl" als "Märtyrer" an. 1893 veröffentlichte der Wiener Geistliche Joseph Deckert das Traktat "Vier Tiroler Kinder, Opfer des chassidischen Fanatismus", mit welchem er die Legende weiter am Leben halten und auch für die modernen Formen des Antisemitismus dienstbar machen wollte. Der Festtag des ‚Anderl von Rinn’ wurde schließlich 1953 vom damaligen Innsbrucker Bischof Paulus Rusch aus dem kirchlichen Kalender gestrichen. Die alljährlichen offiziellen Wallfahrten fanden 1994 mit dem definitiven Verbot des Kultes rund um den ‚Judenstein’ durch Bischof Stecher ein Ende. Gegen den Willen der Amtskirche pilgern seit damals alljährlich im Juni rund 300 Unentwegte (darunter Robert Prantner) zum "Judenstein". Schon 1985 veranlasste Stecher die Entfernung der angeblichen Gebeine ‚Anderls’ aus dem Altar der Rinner Kirche. Auch das antijüdische Fresko wurde in der Folge übermalt [Quelle: www.gegenantisemitismus.at]

5 Haschomer Hatzair [hebr

: ‚Der junge Wächter‘]: Erste Zionistische Jugendorganisation, entstand 1916 in Wien durch den Zusammenschluß von zwei jüdischen Jugendverbänden. Hauptziel war die Auswanderung nach Palästina und die Gründung von Kibutzim. Aus den in Palästina aktiven Gruppen entstand 1936 die Sozialistische Liga, die sich 1948 mit der Achdut Haawoda zur Mapam [Vereinigte Arbeiterpartei] zusammenschloss.

6 Bar Mitzwa

[od. Bar Mizwa; aramäisch: Sohn des Gebots], ist die Bezeichnung einerseits für den religionsmündigen jüdischen Jugendlichen, andererseits für den Tag, an dem er diese Religionsmündigkeit erwirbt, und die oft damit verbundene Feier. Bei diesem Ritus wird der Junge in die Gemeinde aufgenommen.

7 Novemberpogrom

Bezeichnung für das [von Goebbels organisierte] ‚spontane‘ deutschlandweite Pogrom der Nacht vom 9. zum 10. November 1938. Im Laufe der zynisch als ,Kristallnacht’ bezeichnete Pogrom, wurden 91 Juden ermordet, fast alle Synagogen sowie über 7000 jüdische Geschäfte im Deutschen Reich zerstört und geplündert, Juden in ihren Wohnungen überfallen, gedemütigt, verhaftet und ermordet.

8 Brunner, Alois

wichtigster Mitarbeiter Adolf Eichmanns, organisierte den Massenmord an den Wiener Juden, den Juden, die in Griechenland lebten, in Frankreich und der Slowakei. Brunner wurde nie gefasst.

9 Palästina-Amt

Auswanderungs-Organisation der Jewish Agency in Deutschland, die ausschließlich die Auswanderung der jüdischen Bevölkerung nach Palästina durchführte. Das Palästina-Amt kümmerte sich um die nötigen Visa und den Transport der EmigrantInnen. Nach dem Novemberpogrom 1938 wurde das Amt unter stärkere Kontrolle gestellt, konnte aber noch bis Frühjahr 1941 weitgehend eigenständig arbeiten.

10 Kapitalistenzertifikat

Um nach Palästina legal einreisen zu dürfen, musste man eine hohe Summe an Geld den Engländern vorweisen können, dann bekam man ein Kapitalistenzertifikat oder man erlernte einen landwirtschaftlichen Beruf, dann bekam man das Arbeitszertifikat.

11 Joint

Kurzform für ‚American Joint Distribution Committee’ (Vereinigter amerikanischer Verteilungsausschuss), ein Hilfskomitee für jüdische Opfer des 1. Weltkriegs, das 1914 gegründet wurde. Seit dem 2. Weltkrieg ist Joint die internationale Zentrale aller jüdischen Wohlfahrtsverbände.