Georg Kastner

Georg Kastner
Wien
Österreich
Datum des Interviews: Februar 2003
Interviewerin: Tanja Eckstein

Georg Kastner wohnt mit seiner Ehefrau im 19. Wiener Gemeindebezirk.

Sie rief bei Centropa an, weil sie von diesem interessanten Projekt erfahren hatte und sich interviewen lassen wollte.

Da es aber aus Zeitgründen bisher nicht zu einem Interview kam, bat sie ihren Mann, sich interviewen zu lassen.

Ich bin sehr dankbar für seine interessante Familiengeschichte.

  • Meine Familiengeschichte

Über meine Urgroßeltern weiß ich sehr wenig. Das einzige was ich weiß ist, dass mein Urgroßvater väterlicherseits ein sogenannter Dayan in Pressburg war. Ein Dayan ist ein Rabbiner, der Mitglied eines religiösen Gerichtes ist.

Mein Großvater väterlicherseits hieß Georg, ungarisch Geza, Kastner. Er war ein sehr religiöser Mann, der in Pressburg lebte und viele Geschwister hatte. Bereits 1899, mit nur 25 Jahren, starb er an einer Blinddarmentzündung.

Die Ärzte hatten die Blinddarmentzündung nicht rechtzeitig erkannt. Meine Großmutter Laura Kastner war eine geborene Rosenbaum. Sie wurde in Pressburg, ungefähr im Jahre 1875, geboren.

Sie hatte viele Geschwister, aber ich habe sie nicht kennen gelernt und kenne nicht einmal ihre Namen. Als der Großvater gestorben war, blieb die Großmutter mit drei Kindern allein. Mein Vater, der Älteste, war erst drei Jahre alt.

Die Großmutter habe ich gekannt. Als junge Witwe hatte sie ein sehr schweres Leben. Ich kann mir vorstellen, dass sie nie wieder einen Mann gesehen hat, seit sie verwitwet war. Eine eigene Existenz hatte sie nicht.

Nach dem Tod des Großvaters wurde sie mit ihren drei Kindern von einem ihrer Brüder, der einen Maschinenhandel besaß, aufgenommen. Für mich, als kleines Kind, war sie immer eine alte Frau.

Sie war sehr ernst, sehr griesgrämig und hat kaum einmal freundlich geschaut. Sie hielt zu hundert Prozent alles Religiöse, was Vorschrift war: Sie trug eine Perücke, hat koscher 1 gekocht und jede Woche den Schabbat 2 gehalten. Kerzen wurden gezündet und es gab zwei Barches 3, das war bei meinen Eltern genauso.

Ilona, die Schwester meines Vaters wurde 1898 geboren. Sie war zweimal verheiratet. Mit ihrem zweiten Ehemann Arnold Stössl, den sie 1937 geheiratet hatte, lebte sie bei der Großmutter.

Arnold Stössl war eine gute Erscheinung, ein gut aussehender Mann, aber davon hat er nicht leben können. Mein Onkel und mein Vater haben ihn unterstützt. Mein Vater hat versucht, seinem Schwager irgendwie eine Existenz zu ermöglichen.

Er hat ihm eine Arbeit in unserem Geschäft angeboten, aber der Schwager wollte nicht. Tante Ilona bekam einen Sohn, den John Stössl. Die Großmutter kümmerte sich dann um das Kind. Tante Ilona war mit der Großmutter und dem Kind im Ghetto in Theresienstadt. Aber wie meine Großmutter aus Theresienstadt in das Arbeitslager nach Sered [Slowakei] kam, wo sie dann gestorben ist, weiß ich nicht.

Nach dem Krieg war die Familie meiner Tante eine Zeitlang in Prag, dann zogen sie nach Wien. John hat studiert und wurde Arzt. Ich glaube, er ist Primarius und hat eine Ordination in Wien, also es geht ihm gut. Onkel Arnold starb 1984, Tante Ilona 1994.

Mein Vater hieß Ludwig Kastner. Er wurde am 8. Mai 1896 in Pressburg geboren. Er besuchte die jüdische Schule. Ich besitze ein Klassenfoto meines Vaters, da hat er auf der Rückseite alle Namen seiner Mitschüler aufgeschrieben, die ihm noch gegenwärtig waren:

Sami Schwarz, Mark Koch, Reszö Kohn, Aron Grünhut, Josef Gut, Moritz Ullmann, Gabor Grünauer, Freud, Arpad Becher, Josef Neumann, Weiss, Bela Schiller, Mozes Wenreb, Maxl Grünfeld, Dani Freuder, Lülöp Goldstein, Huber, Andor Ratzersdorfer, Lipot Weiss, Miksa Walter, Daniel Rosenberger, Igo Grossman, Ludwig Kohn, Vilmos Steiner, Vilmos Buchwald, Moritz Turk, Sami Schwarz, Lipot Kastner, Emil Schönberger, Lazar Weissfisch, Moritz Braun, Moritz Vogelman, Zaranyi, Deutsch, Maxl Zeinfeld, Lipot Kunstädter, Grünfeld, Ede, Bela Quastler, Schönbaum, Löwinger, Ellinger, Lajas Kastner [mein Vater], Marcel Steiner, Bela Beer, Geza Duschinsky, Artur Fischer, David Ezra Weiss, Lipot Iritzer, Geza Fischer.

Der Maschinenhandel des Bruders meiner Großmutter war in dem Haus, in dem sich sein Geschäft, seine Werkstatt und seine Wohnung befand. Dort lebte dann meine Großmutter mit ihren drei Kindern.

Sie bekamen von der Familie des Bruders alles, was sie brauchten. Als mein Vater und sein Bruder Desider älter waren, wurden sie Lehrbuben und arbeiteten mit im Geschäft.

Im 1. Weltkrieg waren mein Vater und mein Onkel Soldaten bei der k.u.k. Armee 4. Nach dem Krieg arbeitete mein Vater in Pressburg in einem Eisengeschäft, und später eröffnete er zusammen mit seinem Bruder ein kleines Geschäft.

Der Großvater hieß mit dem Vornamen Georg oder Geza und sie nannten sich 'G. Kastner Söhne' - das waren die beiden Brüder. Das kleine Geschäft wurde im Laufe der Zeit ein großes Geschäft - sie waren ziemlich erfolgreich.

Desider, der Bruder meines Vaters, leitete später in der Steiermark einen Betrieb, in dem wir Sensen erzeugt haben. Er hat diesen Betrieb bis 1938 geführt.

Mein Urgroßvater mütterlicherseits hieß Josef Wetzler. Er besaß einen Weingroßhandel in Dunaszerdahely [Dunajská Streda, Slowakei]. Die Firma hieß wie der Urgroßvater 'Joseph Wetzler'.

Mein Großvater, Bernhard Wetzler, wurde um1880 in Dunaszerdahely geboren. Seine Muttersprache war ungarisch. Ich weiß, dass er vier Brüder und vier Schwestern hatte. Er starb 1935. Nach seinem Tod übernahm sein Sohn Josef den Weingroßhandel.

Die Großmutter hieß Regina. Sie wurde ungefähr 1884 geboren und war eine geborene Kopstein. Sie war eine sehr religiöse Frau. Sie hatte mehrere Schwestern, die ich nicht kannte. Ein Bruder der Großmutter besaß in Wien, im 2. Bezirk, ein Kürschnergeschäft.

Meine Mutter hatte zwei Brüder und eine Schwester.

Manci, die jüngere Schwester meiner Mutter, war mit dem Bankangestellten Miklos Spinner verheiratet. Sie hatten eine Tochter Agnes, die 1938 geboren wurde. Manci und ihre Tochter Agnes wurden im KZ Auschwitz ermordet. Miklos Spinner überlebte den Holocaust und ging nach dem Krieg nach Australien.

Emil, der jüngere Bruder meiner Mutter, flüchtete 1938 nach Palästina und kam 1945 nach Pressburg zurück. Er betätigte sich eine Zeitlang kommunistisch, und wie der Slansky-Prozess 5 war, ist er aus der Partei rausgeflogen.

Zum Glück ist ihm nicht mehr passiert. Dann musste er sich irgendwie durchschlagen. Er arbeitete in einer Fabrik und wurde Ingenieur. Nebenbei arbeitete er als Übersetzer, dadurch konnte er dann noch etwas dazu verdienen.

Seine Frau arbeitete als Sekretärin in einem Universitätsinstitut; Kinder hatten sie keine. Zweimal im Jahr haben meine Frau und ich sie in Pressburg besucht. 1990 ist Onkel Emil gestorben.

Josef, der älteste Bruder meiner Mutter, der die Weingroßhandlung der Familie übernommen hatte, lebte bei der Großmutter. 1942 heiratete er Klari und lebte dann mit Frau und Kind im Haus der Großmutter, das der ganzen Familie gehörte; das Haus war groß und es gab Platz genug.

Auch die Familie eines Bruders meines Großvaters war an dem Geschäft beteiligt und lebte mit ihren sieben Söhnen, so lange sie jung waren, in diesem Haus. Oben waren die Wohnungen und unten waren Büro und Lager. Es gab auch einen Stall mit zwei Pferden.

Diese Großmutter sahen wir nicht sehr oft, weil sie nicht in Pressburg wohnte. Wir sind aber einige Male im Jahr, zum Beispiel regelmäßig zu Pessach 6, nach Pápa, das war der Ort in dem sie lebte, zu ihr gefahren.

Da die Großmutter verwitwet war, hielt mein Vater bei ihr den Seder 7. Das war vorbei, als 1938 die Ungarn dieses Gebiet annektierten. Da konnte man ohne Papiere nicht mehr reisen, man brauchte einen Pass und ein Visum.

Diese Großmutter war jünger als meine Großmutter in Pressburg, so dass ich zu ihr als Kind eine viel angenehmere Beziehung hatte. Meine Großmutter wurde 1944 im KZ Auschwitz ermordet.

Meine Mutter Ella, geborene Wetzler, wurde am 30.September 1904 in Dunaszerdahely geboren.

Meine Eltern hatten sich in Pressburg kennen gelernt. Ich glaube, diese Ehe wurde nicht ausdrücklich vermittelt, aber angeregt wurde sie von einem Lehrer der jüdischen Volksschule.

Meine Mutter war als junges Mädchen in eine Schule nach Pressburg geschickt worden. Natürlich hatte sie in Pressburg irgendwo wohnen müssen, denn da meine Mutter aus einem frommen Haus kam, hat die Familie sie nicht einfach irgendwo wohnen lassen. Sie vergewisserten sich, dass sie einen ordentlichen Platz bekommt, und der war bei diesem Lehrer Reiner.

Mein Vater war ein ziemlich bekanntes Mitglied der dortigen jüdischen Gemeinde, und der Lehrer kannte meinen Vater, und er regte diese Heirat erfolgreich an. Mein Vater war acht Jahre älter als meine Mutter. Meine Eltern heirateten 1929 in Pressburg, in der Schlossstraße, in der großen Synagoge. Diese Synagoge überlebte den Holocaust, wurde aber nach dem Krieg von den Kommunisten abgerissen.

Mein Vater hatte sein Geschäft in Pressburg und meine Eltern mieteten sich eine Wohnung, nach dem sie geheiratet hatten. In dieser Wohnung bin ich aufgewachsen.

  • Meine Kindheit

Ich wurde am 31. Mai 1930 in Wien geboren. Meine Mutter war in Wien zu Besuch, oder sie ist ausdrücklich für die Entbindung nach Wien gefahren, das weiß ich nicht. Ich wurde im Sanatorium Löw in der Mariannengasse [9. Bezirk] geboren. Vielleicht dachte meine Mutter, die Ärzte in Wien sind besser.

Meine Schwester Ilse Granoff, geborene Kastner, ist am 18. Oktober 1932 in Pressburg geboren. Wir sind in Pressburg aufgewachsen.

Zu Hause wurde das Milchige und Fleischige streng auseinander gehalten. Da gab es separates Geschirr, und das Geschirr wurde separat gewaschen. Mein Vater betete jeden Tag in der Früh mit den Gebetsriemen zu Hause.

Bevor er das Haus verließ, wurde das erledigt. Samstag gingen wir in den Tempel - da gab es mehrere Tempel, in die wir gingen - je nach dem, wie mein Vater Lust hatte. Es gab einen Tempel von seiner Familie, der sogenannte Rosenbaum - Tempel, der wurde von der Familie Rosenbaum gebaut.

Die Mutter meines Vaters war ja eine geborene Rosenbaum. An den Tempel kann ich mich gut erinnern, aber der ist heute auch nicht mehr da. In Pressburg ist das alles weg.

Zu den hohen Feiertagen war mein Vater in der großen Synagoge. Am Freitagabend, am Schabbat, aßen wir separat, aber nach dem Nachtmahl sind wir dann oft zur Großmutter gegangen. Sie wohnte nicht weit entfernt von uns.

Zu Pessach wurde alles weggeräumt und das Geschirr, das am Dachboden aufbewahrt wurde, herunter geholt. Es wurde alles geputzt, aber einige Krümel Brot wurden übrig gelassen.

Die Krümel wurden am Tag des Seder mit einer Feder zusammen gekehrt und mit der Feder zusammen verbrannt. Dazu musste man einen Segenspruch sagen. Ich, als Erstgeborener, ging in der Früh zu dem sogenannten Sium [hebr. Ende].

Das war die Beendigung eines Talmud-Abschnitts, den man gelernt hatte und dort beendet hat. Da durfte man etwas essen, den Rest des Tages musste man als Erstgeborener fasten.

Nachdem mein Vater auch ein Erstgeborener war, sind wir immer gemeinsam in der Früh am Tag des Seder zu dieser Zeremonie gegangen. Manche Leute betrachten das als eine zwingende Vorschrift, manche Leute sagen, das ist Tradition. Aber es gibt viele Leute, die, wenn sie den Sium versäumen, den ganzen Tag fasten.

Nachdem mein Vater ein ziemlich prominentes Mitglied der dortigen Gemeinde war, durften er und ich dabei sein, wenn seine Mazzot gebacken wurden. Das war in einem einfachen Mazzes - Backhaus, an das ich mich gut erinnern kann.

Es war im Souterrain des Schulgebäudes. Dort schauten wir zu, wie der Teig mit Maschinen geknetet und gewalzt wurde und dann mit der Hand schnell geschnitten und auf irgendeinen Stock gehängt wurde.

Danach wurden die Teigstücke schnell in den Backofen geschoben und gleich wieder heraus genommen. Wir trugen sie nach Hause, sie lagen aber nicht in Schachteln so wie heute, sondern sie waren in Packpapier eingeschlagen.

Für den Sederabend gab es besondere Mazzot, die ganz besonders vorsichtig erzeugt wurden. Die waren viel dicker, damit sie nicht so leicht zerbrechen, denn für die Segenssprüche musste komplett das Stück Mazze unversehrt sein, damit es nicht zerbricht. Deshalb mussten es dickere Mazzes sein.

Meine Mutter war zu Hause und führte den Haushalt, obwohl sie auch Hilfe hatte. Es hat Zeiten gegeben, da hatten wir ein Dienstmädchen für die grobe Arbeit und ein Kinderfräulein, das sich um uns kümmerte.

Die grobe Arbeit hat immer irgendein Dienstmädchen gemacht. Meine Mutter kochte und das Dienstmädchen wusch das Geschirr oder die Wäsche oder sie räumte die Wohnung auf und die putzte die Fußböden. Das war natürlich eine schwere Arbeit. Als die Judengesetze 8 erlassen wurden, durften wir kein Personal mehr haben.

Meine Mutter arbeitete bei Damenorganisationen für Wohltätigkeit mit. Meine Eltern waren aber keine Zionisten, das war damals unter den Frommen nicht üblich. Vielleicht gab es Ausnahmen, aber in dieser Zeit waren die Frommen keine Zionisten.

In Urlaub fuhren wir nie, aber wir hatten in der Nähe von Pressburg ein Haus mit einem Garten und dort verbrachten wir den Sommer. Mein Vater ist von dort jeden Tag nach Pressburg hinein gefahren.

Das waren vielleicht zehn oder fünfzehn Kilometer. Es gab damals sehr wenige Autos, aber wir hatten ein Auto mit einem Chauffeur, denn mein Vater konnte nicht Auto fahren.

Gesellschaftliches Leben gab es hauptsächlich innerhalb der Familie. Man besuchte sich meistens am Samstagnachmittag nach dem Essen. Aus religiösen Gründen durfte man nicht an die Tür klopfen und nicht läuten.

Man durfte auch kein Licht machen. Entweder man blieb zu Hause, dann wurde hauptsächlich Obst angeboten - frischen Tee oder Kaffee hat man ja nicht kochen dürfen - oder man ging irgendwo hin.

In Pressburg lebten sehr viele Deutschsprachige. Die Straßenschilder waren deutsch und ungarisch, oder deutsch und slowakisch. Die wenigsten Leute sprachen slowakisch.

Wenn man irgendwo hinging, hörte man hauptsächlich deutsch. Die Juden sprachen deutsch oder ungarisch, aber hauptsächlich deutsch. Die Korrespondenz im Geschäft meines Vaters fand in deutscher Sprache statt, die Rabbiner in den Tempeln haben deutsch gesprochen, alles war deutsch.

Ich besuchte von 1936 bis 1941 die deutschsprachige jüdische Schule, hatte aber kaum Freunde. In der Schule gab es ein, zwei Kinder mit denen ich befreundet war, aber wir haben eigentlich nie etwas miteinander unternommen.

Meine Schwester ging auch in die jüdische Volksschule, allerdings war das die Mädchenschule, und die war in slowakischer Sprache. Die Religionsstunde fand jeden Tag in der letzten Stunde statt.

Da kam ein Rabbiner und lehrte uns Lesen und Schreiben, und danach ging es dann mit der Bibel weiter. Später wurde sogar etwas aus dem Talmud 10 gelehrt.

  • Während des Krieges

Dann hat man die Juden nicht mehr ins Gymnasium gehen lassen, ich kam aber in die sechste Klasse. Die Slowaken haben 1939 den Staat bekommen und kurz darauf, 1940, kamen die Judengesetze. Ich war zehn Jahre alt.

Mein Onkel Desider wurde 1938, nach dem Einmarsch der Deutschen in Österreich, von den Nazis in Graz einige Wochen eingesperrt. Sie ließen ihn aber wieder laufen und er kam zurück nach Pressburg.

Kurz vor dem Krieg hat er Klara war aus Czernowitz [heute Ukraine] in Czernowitz geheiratet. Die Hochzeit war wahrscheinlich von irgendwelchen Freunden meines Onkels, die Großgrundbesitzer in der Nähe von Czernowitz waren, initiiert worden.

Als die Nazis den Betrieb in Graz arisiert hatten, ist mein Onkel Desider mit seiner Frau und seiner kleinen Tochter Evelyne nach Czernowitz gegangen. Dann wurde Czernowitz Kriegsgebiet.

Zuerst hatten die Russen die Bukowina vertraglich annektiert, dann besetzten die Deutschen die Bukowina, dann eroberten die Russen das Gebiet wieder zurück und als die Russen das letzte Mal die Bukowina räumten, haben sie meinen Onkel Desider und seinen Schwiegervater nach Sibirien verschleppt.

Als mein Onkel nach Russland verschleppt wurde, floh seine Frau Klara mit der Tochter aus Czernowitz nach Bukarest. Mein Vater hatte es geschafft, für die beiden - im Jahr 1943 - falsche Papiere zu besorgen, so dass sie über die Türkei nach Palästina flüchten konnten.

Sie lebten bis Kriegsende in Jerusalem. Der Schwiegervater starb in Sibirien, aber Onkel Desider hatte sich zum tschechoslowakischen Chorps der Roten Armee gemeldet und kam mit der Armee nach Prag.

Er lebte eine Zeitlang in Prag, verlangte seinen Betrieb in der Steiermark zurück und bekam ihn auch. Seine Frau und seine Tochter kamen aus Jerusalem nach Österreich, und sie waren wieder vereint.

Klara starb 1961 an Krebs. Onkel Desider arbeitete in der Steiermark, bis er im Dezember 1970 starb. Beide liegen in Wien auf dem Zentralfriedhof, 4. Tor, begraben. Meine Cousine Evelyne heiratete nach Frankreich, sie soll aber auch an Krebs gestorben sein.

Die Firma meines Vaters war arisiert worden, aber mein Vater hatte das Glück, dass er sich den Ariseur aussuchen konnte. Dieser Mann war auf meinen Vater angewiesen, weil er vom Geschäft nichts verstand.

Er war also froh, dass mein Vater mitarbeitete. Das war aber ein Ausnahmefall. Es wurden viele jüdische Geschäfte zerstört oder man hat die Leute einfach rausgeschmissen.

Ein Cousin meines Vaters wurde auf brutalste Weise aus einem Geschäft hinaus befördert. So konnten wir, bis zu unserer Flucht aus Pressburg, noch von dem Geschäft leben.

Die Juden überlegten, was sie machen können. Einige gingen rechtzeitig weg. Ein Cousin meines Vaters und ein Bruder meiner Mutter waren mit ihrer Familie bereits 1938 nach Palästina emigriert.

Viele hatten kein Geld, um weg zu gehen. Reiche Leute gab es wenige, und wovon sollten die Leute leben? Dass sich damals jemand Reserven im Ausland angeschafft hätte, hat es fast nicht gegeben.

Mein Vater wurde zweimal verhaftet. Es hat immer Geld gekostet, damit er wieder heraus gelassen wurde. Das zweite Mal war er, kurz bevor wir flüchteten, drei Wochen im Gefängnis. Da mussten wir viel intervenieren und finanzielle Opfer bringen, damit sie ihn wieder raus ließen.

Mein Vater hatte im Innenministerium einen Freund, einen Slowaken. Er kam in dieser Zeit zu uns nach Hause und brachte uns Lebensmittel, die wir dringend brauchten.

Eines Tages, das war im Jahre 1941, rief er meinen Vater an und sagte ihm, er müsse verschwinden, weil er einer der Ersten sein wird, den sie deportieren werden. Viele Juden hatte man vorher schon in die Provinz verbannt.

Das waren noch keine Deportationen in Konzentrationslager, aber sie durften nicht mehr in Pressburg leben. Mein Vater hatte durch seine kaufmännischen Tätigkeiten einen Pass und ein ungarisches Visum, und er wusste von einem Taxichauffeur, der Leute nach Ungarn brachte.

Der Taxichauffeur fuhr uns nach Ungarn. Wir packten nur das Nötigste ein und fuhren am selben Abend zur Großmutter nach Ungarn. Wir ließen die Wohnung so stehen, wie sie war; mit Lebensmitteln und allem was in dem Haus war.

Einer unserer nicht jüdischen Angestellten aus dem Geschäft gaben wir die Schlüssel, sie sollte uns verschiedene Sachen bringen, aber sie plünderte dann unsere Wohnung aus. Wir erfuhren später von einem Nachbarn, dass mein Vater am selben Abend gesucht wurde.

Nach dem Krieg wurde der Freund meines Vaters bei einem Kriegsverbrecherprozess verurteilt, denn er war einer, der aktiv bei den Deportationen mitgewirkt hatte. Er hatte seine sogenannte Pflicht getan.

Diese ganzen Deportationen waren nicht von den Slowaken initiiert; das war ein Geschäft. Die Slowaken hatten die Deutschen dafür bezahlt, dass sie die Juden los wurden und sich ihr Vermögen behalten durften. Das war eine finanzielle Transaktion.

Zuerst waren wir in der Provinz, in Pápa, bei meiner Großmutter, aber dort konnten wir nicht lange bleiben, weil die Ortschaft sehr klein war und unser Visum nicht sehr lange gültig war.

Wir waren dann illegal dort, aber illegal konnte man in der Provinz nicht leben. Also flüchteten wir nach Budapest, wo man leichter untertauchen konnte. Mein Vater besorgte sich verschiedene Papiere, damit er zumindest legal Untermieter sein konnte.

Wir hatten nur ein Zimmer, darum wurde ich zu den Schwiegereltern meines Onkels in die Provinz gebracht, aber dort wurde ich erwischt, weil ich dort auch illegal war. Zum Glück ließen sie mich laufen. Ich musste also wieder nach Budapest.

Wir lebten dann zu viert in einem Zimmer bei einer Familie. Diese Familie war darauf angewiesen, ein bisschen Geld zu verdienen. Die Tochter der alten Dame hatte eine Putzereiübernahme in einer Souterrain Wohnung.

Beim ersten Luftangriff der Russen wurde dieses Souterrainlokal als Luftschutzkeller gebraucht. So hatte sie ihre Existenz verloren. Eigentlich wollte sie uns aus ihrer Wohnung haben, wir waren zu viele Personen in der kleinen Wohnung, aber zum Glück brauchten sie das Geld.

Mein Vater machte in Budapest mit Freunden Geschäfte, so dass wir leben konnten. Er besorgte Papiere für uns, und im Frühjahr 1943 reisten wir aus Budapest völlig legal, über Bulgarien und Rumänien, in die Türkei.

Wir mussten aufpassen, dass man bei uns nichts Jüdisches findet, keine Gebetbücher, keine Gebetsriemen; nichts was darauf hingewiesen hätte, dass wir Juden sind. Wir fuhren von Bukarest nach Sofia.

Mein Vater hatte in Sofia einen Freund, der uns vom Zug abholte, weil die nächste Bahnverbindung in die Türkei erst um Mitternacht ging, und wir schon am Vormittag ankamen. Er versorgte uns, konnte uns am Abend aber leider nicht zum Zug begleiten, weil Juden den Judenstern tragen und am Abend nicht ausgehen durften.

Das war unser großes Glück, weil wir von einem deutschen Offizier aufgehalten wurden. Mein Vater konnte ihn überzeugen, dass wir harmlose Touristen sind. Wie er das gemacht hat, weiß ich nicht.

Der deutsche Offizier war wahrscheinlich nicht besonders intelligent, er hätte nur in Pressburg anrufen brauchen, aber wir haben nicht jüdisch ausgeschaut. Wir sind in den Schlafwagen eingestiegen, mitten in der Nacht.

In Svilengrad sind noch die Deutschen gesessen: Das war die letzte Hürde, die Grenze vor der Türkei. Der Zug fuhr von der türkischen Grenze nach Istanbul, jedoch ein Stückchen über griechisches Territorium, denn so verläuft die Bahnlinie. Griechenland war deutsch besetzt, das hieß, wenn die Deutschen uns hätten packen wollen, hätten sie uns dort noch aufhalten können.

Ich war 12 Jahre alt, und es begann in mir zu dämmern, in welcher Gefahr wir uns befanden. Aber alles klappte, und am nächsten Tag kamen wir in Istanbul an. Das war der 1. Mai 1943, da waren wir endlich draußen. Wir hatten es geschafft!

Heute ist Istanbul anders. Damals war alles sehr primitiv, aber lustig. Die Gegend war schön, und wir waren am Meer. Zuerst waren wir für ein paar Tage in einer Pension, dann mussten wir eine Untermietwohnung mieten.

Zum Glück hat mein Vater es immer verstanden, Geld zu besorgen, er musste sich nicht einmal an die jüdische Gemeinde wenden. Wir lernten Emigranten kennen, die dort schon zu Hause waren und befreundeten uns mit ihnen.

Wir hatten dann einen richtigen Freundeskreis. Mein Vater arbeitete bei einer jüdischen Organisation die damit beschäftigt war, Juden noch irgendwie aus Europa heraus zu holen. Das ist ihnen auch gelungen. Es kamen noch einige Transporte, die auf demselben Weg geflüchtet waren wie wir.

Meine Mutter kümmerte sich um den Haushalt und hat sich gut an die Verhältnisse angepasst. Meine Schwester und ich mussten englisch lernen, denn wir gingen in die englische Schule Burschen und Mädchen gingen in verschiedene Schulen, die an ganz verschieden Plätzen in der Stadt waren.

Wir hielten uns an unsere Religion, so gut es ging. Es gab dort ein koscheres Geschäft, wo man Fleisch kaufen konnte, und meine Mutter führte einen koscheren Haushalt. Das Fleisch war viel besser als zu Hause, denn die sephardischen Juden 11 dürfen auch das Hinterteil des Rindes essen.

Der hintere Teil ist das beste Fleisch. In Europa wird dieses Fleisch nicht nach den rituellen Vorschriften gereinigt, das ist zu viel Arbeit. Aber in Amerika und auch in der Türkei konnte man Fleisch essen, das wir noch nie im Leben vorher gegessen hatten.

Mein Vater nahm sich die Bibel und den Schulchan Arukh 12 vor. Er studierte die Sprüche der Väter und las die Vorschriften über das alltägliche Leben. Auf diese Art und Weise hat er mit mir in der Türkei ein bisschen gelernt und diskutiert.

In Istanbul gab es eine große sephardische Gemeinde. Es gab auch einige Aschkenasim 13 dort, die einen eigenen Tempel hatten. Die Aschkenasim waren hauptsächlich russische Juden, die seinerzeit, als die russische Revolution war, in die Türkei geflohen waren. Sie hatten eine kleine Gemeinde und einen kleinen Tempel, dort konnten wir hingehen.

Wir gingen ziemlich regelmäßig in den Tempel: wenn es möglich war am Samstag und natürlich zu den hohen Feiertagen. Vier Wochen, nachdem wir in Istanbul angekommen waren, hatte ich meine Bar Mitzwa 14 in der aschkenasischen Synagoge.

Es war aber nur die Zeremonie im Tempel: ich wurde aufgerufen, habe meinen kleinen Teil dort gelesen und damit war die Bar Mitzwa erledigt. Wir gingen dann nach Hause, das war alles. Als wir noch in Pressburg gelebt hatten, hat es Cousins gegeben, die waren älter als ich.

Da gab es immer wieder eine Bar Mitzwa, zu denen ich von meinem Vater mitgenommen wurde. Ich war auch bei einigen Beschneidungen dabei, das waren ja auch große Feiern

Ich hatte ein, zwei Freunde, das waren jüdische Kinder aus der Schule. In Wien hatte es unter den Juden einige türkische Staatsbürger gegeben, die konnten unter Hitler ohne weiteres aus Wien mit ihren türkischen Papieren wegfahren. Aber das waren richtige Wiener Juden, die ich in Istanbul kennen lernte.

  • Nach dem Krieg

Wir lebten sechs Jahre in der Türkei. Mein Vater begann nach dem Krieg Geschäfte zu machen. Er besorgte sich Vertretungen, hauptsächlich aus der Tschechoslowakei. Die Tschechoslowakei war nach dem Krieg relativ wenig zerstört, die meisten Fabriken waren intakt.

In der Tschechoslowakei konnte man Ware kaufen, und das tat mein Vater, bis die kommunistische Regierung die Macht übernahm. Aber zwei Jahre ungefähr hat es funktioniert. Gleich nach dem Krieg haben die Leute dort schon zu arbeiten begonnen und konnten die Waren liefern.

Davon haben wir gelebt, dann sind wir nach Österreich gefahren, um wieder etwas Neues zu beginnen. Mein Vater ließ in Österreich dann seine türkischen Beziehungen spielen und machte Geschäfte mit der Türkei.

Ich studierte in Wien Welthandel und wurde 1953 fertig. Meine Schwester wollte Medizin studieren. Sie ging aber nach Israel, weil wir dort Freunde und Verwandte hatten, die sagten, sie solle doch einmal kommen.

Sie wohnte bei einer Verwandten in Jerusalem und lernte in einem Ulpan 15 hebräisch. Im Ulpan lernte sie ihren späteren Mann Granoff, einen amerikanischen Juden kennen, und sie heirateten in Israel.

Ich konnte nicht zur Hochzeit fahren, aber meine Eltern waren dabei. Meine Schwester ging dann mit ihrem Mann nach Amerika. Eine Zeitlang lebten sie dort, dann haben sie sich entschlossen, wieder nach Israel zu gehen.

Der Mann meiner Schwester war Kinderpsychologe. Er arbeitete hauptsächlich für die Gemeinde in Herzliya, behandelte schwer erziehbare Kinder und gab Ratschläge an die Eltern. Er hatte auch eine Privatpraxis; Kinder, Erziehung und Kinderspielsachen - darauf war er spezialisiert.

Meine Schwester studierte Pädagogik und arbeitete als Lehrerin. Meine Schwester und ihr Mann haben vier Töchter. Michal, die Älteste ist in Israel verheiratet. Sie wohnt in Zipori, das ist in der Nähe von Nazareth.

Dann die Zwillinge, das sind die Sharon und die Roni, und noch eine jüngere Tochter, das ist die Sheela. Die Zwillinge und Sheela leben in Amerika.

1959 ging ich auch nach Israel und arbeitete bei einer großen Chemikalienfirma in Tel Aviv. Ich wollte versuchen, mich in Israel zu betätigen. Beruflich war es schwer, die Menschen dort sind schwierig, nicht nur im Beruf, auch im Alltagsleben.

Wenn man in einer Bank zu tun hatte, wurde man wie der letzte Dreck behandelt. Wenn man in einer Post zu tun hatte, wurde man auch nicht ordentlich behandelt. Der Kunde ist dort nicht König und die Autofahrer sind verrückt.

Wenn man nicht beruflich zu tun hat, nur mit Freunden und Familie zusammen ist, dann fühlt man sich ausgezeichnet. Nach Israel gehen, dort nichts zu tun haben und die Pension genießen, kann ich mir auch gut vorstellen.

Die Mentalität passt mir aber nicht, und es wird immer ärger. Vor 20 oder 30 Jahren hatte man noch mit Europäern zu tun: es waren Wiener, es waren Deutsche, es waren Tschechoslowaken, es waren Ungarn.

Aber die Kinder von diesen Leuten sind dort aufgewachsen, die haben keine Ahnung mehr, was das heißt: Europa. Und die politischen Verhältnisse und wirtschaftlichen Verhältnisse sind im Moment natürlich katastrophal, also das Ganze ist sehr schwer.

Ich bin wieder nach Wien zurückgegangen, bis es mir hier wieder zu dumm wurde. Da fuhr ich 1961 nach Amerika. Dort hatte ich bei einer großen Altmetallfirma mit alten Schiffen zu tun. New York war sehr interessant, aber nach einiger Zeit habe ich gesehen, das ist ein harter Konkurrenzkampf dort.

Privat sind die Leute sehr freundlich; samstags in einer Synagoge waren die Menschen sehr gemütlich und nett, aber wenn man mit ihnen beruflich zu tun hat, sind sie andere Menschen.

Ich bin 1962 wieder nach Wien zurückgekommen und lernte kurz darauf meine Frau, Lieselotte, geborene Adler, kennen. Mein Vater und ihr Vater haben sich schon als Kinder gekannt, weil sie gemeinsame Cousins hatten.

Die Eltern und Großeltern meiner Frau waren vor dem Holocaust in Wien zu Hause und dadurch, dass sich die Väter gekannt haben, hat es geheißen, ich soll einmal in Oxford vorbei fahren.

Meine Frau hat gerade in Oxford studiert, sie hat ihr zweites Studium gemacht. Sie ist Medizinerin, aber sie hat noch ein anderes Studium gemacht. Und ich habe sie dort besucht, und dann ist sie nach Wien gekommen. Wir haben 1963 geheiratet.

Mein Vater starb im Mai 1978 in Wien. Meine Mutter starb im August 1981 in Wien und meine Schwester starb 1988 in Israel.

Hier in Wien habe ich ein normales jüdisches Leben. Ich bin nicht weiß Gott wie religiös, als Kind stand außer Frage, dass man am Samstag nicht fährt und Lichter anzündet. Heute fahre ich am Samstag, ich telefoniere am Samstag, und ich zünde auch ein Licht an. Meine Frau legt Wert darauf, dass das Haus koscher ist, und meine Kinder sind auch koscher.

Wir haben drei Söhne: Peter, Robert und Ernst. Peter wurde am 21. April 1965, Robert am 5. Januar 1968 und Ernst am 27. Januar 1971 geboren. Alle drei Söhne wurden in Schottland geboren.

Meine Frau wollte, dass unsere Kinder die englische Staatsbürgerschaft haben, denn auch ihre ehemals Wiener Familie lebt in Schottland. Unsere Söhne haben die Volksschule in Wien absolviert und nach der Volksschule haben wir sie nach London in eine jüdische Mittelschule und in ein Internat geschickt, das natürlich religiös war.

Sie bekamen dort die religiöse Basis, aber sie sind ganz verschieden religiös. Der Mittlere ist durch seine Frau sehr religiös. Er würde am Samstag nicht telefonieren und kein Licht machen und nicht kochen und nicht fahren.

Die anderen sind auch koscher, aber die drehen am Samstag das Licht an und telefonieren. Peter hat Wirtschaftswissenschaften in London studiert, Robert und Ernst haben Rechtswissenschaften studiert. Alle drei arbeiten in ihren Berufen.

Alle drei Söhne leben in London. Sie sind jetzt alle verheiratet, Peter mit Rachel, Robert mit Sarah und Ernst mit Adrienne. Robert und Sarah haben eine Tochter. Ernst und seine Frau erwarten ein Kind.

Am 18. April 2001 feierten wir alle zusammen in Johannesburg die Hochzeit unseres Sohnes Ernst. Seine Ehefrau ist eine Südafrikanerin. Der Rabbiner kam extra aus London, und wir erlebten eine wunderschöne jüdische Hochzeit: Das Paar wurde unter der Chuppa 15 getraut.

Ich habe in Wien wenig private Kontakte. Wir haben ein, zwei jüdische Freunde, Mediziner, mit denen wir verkehren und einige wenige nichtjüdische Freunde aus der Universitätszeit meiner Frau.

Meine Frau ist Musikerin, sie spielt Cello, und dadurch hatte sie Kontakt mit einigen von Kammermusik begeisterten Leuten. Das sind die Leute, mit denen wir zusammenkommen. Wir kennen einen Philharmoniker, seine Frau ist Halbjüdin, mit denen sind wir auch befreundet.

Man spricht ganz anders mit einem Juden als mit einem Nichtjuden. Bei einem Nichtjuden fragt man sich die ganze Zeit, wie der sich wohl im Krieg verhalten hat. Obwohl sie in unserem Alter sind, aber sie waren damals schon alt genug, um vielleicht... wer weiß?

Ich bin sehr bitter, weil die Österreicher zum großen Teil nichts dazu gelernt haben, die Vergangenheit nicht verarbeitet haben, Wiedergutmachung nicht wollen oder nur sehr, sehr zögernd.

Ich kenne Leute, die ihr Eigentum zurück haben wollten. Zum größten Teil hatten sie große Schwierigkeiten, etwas zurück zu bekommen. Man hat ihnen Prügel vor die Füße geworfen. Die Gerichte waren in jeder Beziehung negativ.

Die wenigsten Leute haben ihr rechtmäßiges Erbe zurückbekommen. Was man uns jetzt anbietet oder gibt, ist nur ein kleiner Teil dessen, was uns geraubt wurde.

Es sitzen heute noch unzählige Leute in den geraubten Wohnungen, auf den geraubten Vermögen, und das wird sich auch nicht ändern. Und hie und da hört man sogar von einigen Leuten, die sagen, es ist schon genug gewesen, man hat schon genug gezahlt. Also das ist es, was wir ekelhaft finden.

Ich muss manches Mal von Freunden oder Verwandten hören: Wie kann man unter diesen Menschen leben? Und ich muss sagen, ich schäme mich manches Mal, dass ich hier lebe. Aber es geht nicht anders.

Man muss ja auch irgendwie eine Existenz haben. Meinen Beruf, ich bin Steuerberater, kann ich nur hier ausüben, in Österreich. Kulturell muss man ja auch irgendwo zu Hause sein und das sind wir ja hier.

  • Glossar

1 Koscher [hebr.: rein, tauglich]: den jüdischen Speisegesetzen entsprechend.

2 Schabbat [hebr.: Ruhepause]: der siebente Wochentag, der von Gott geheiligt ist, erinnert an das Ruhen Gottes am siebenten Tag der Schöpfungswoche.

Am Schabbat ist jegliche Arbeit verboten. Er soll dem Gottesfürchtigen dazu dienen, Zeit mit Gott zu verbringen. Der Schabbat beginnt am Freitagabend und endet am Samstagabend.

3 Barches [auch Challa Mrz. Challoth]: Schabbatbrote, die besonders reichhaltig, mit Ei und Zucker gebacken werden, meist mit Mohn oder Sesam bestreut und zu Zöpfen geflochten, damit man auch sieht und schmeckt, dass ein ganz besonderer Tag ist.

Die Challoth symbolisieren die zwei Reihen Schaubrote, die im Tempel lagen, deshalb werden sie immer paarweise gebacken und auf den Tisch gebracht.

4 k.u.k: steht für 'kaiserlich und königlich' und ist die allgemein übliche Bezeichnung für staatliche Einrichtungen der österreichisch- ungarischen Monarchie, z.B.: k.u.k. Armee; k.u.k. Zoll; k.u.k. Hoflieferant....

5 Slánský, Rudolf [1901-1953] war von 1945-1951 Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei. Am 23. November 1951 wurde er verhaftet und des Hochverrats angeklagt.

Die Motivation dürfte einerseits darin zu sehen sein, dass Klement Gottwald sich eines potentiellen Rivalen entledigen wollte, andererseits spielten auch antisemitische Motive eine wichtige Rolle [Slánský war wie die Mehrzahl seiner Mitangeklagter jüdischer Abstammung].

In einem Schauprozess im November 1952 wurde er als angeblicher 'Leiter eines staatsfeindlichen Verschwörungszentrums' zum Tode verurteilt und am 3. Dezember 1952 zusammen mit zehn weiteren Mitangeklagten hingerichtet.

6 Pessach: Feiertag am 1. Frühlingsvollmond, zur Erinnerung an die Befreiung aus der ägyptischen Sklaverei, auch als Fest der ungesäuerten Brote [Mazza] bezeichnet.

7 Seder [hebr.: Ordnung]: wird als Kurzbezeichnung für den Sederabend verwendet. Der Sederabend ist der Auftakt des Pessach-Festes. An ihm wird im Kreis der Familie (oder der Gemeinde) des Auszugs aus Ägypten gedacht.

8 Judengesetze: Bezeichnung für Gesetze, deren Ziel die Benachteiligung von Juden ist. Herausragende Bedeutung nehmen dabei die im Dritten Reich erlassenen Nürnberger Gesetze ein.

9 Talmud: wörtl: Lehre; wichtigstes nachbiblisches Buch des Judentums, Gesetzeskodex

10 Sepharde, Pl. Sepharden [hebr. Sepharad = Iberien]: Juden, deren Vorfahren bis 1492 in Spanien und Portugal ansässig waren. Heute versteht man unter den sephardischen Juden in erster Linie diejenigen Bewohner Israels, die aus Ländern wie Marokko, dem Jemen, Syrien oder Indien nach Israel einwanderten.

11 Schulchan Arukh: Der wohlgeordnete Tisch", Verbindlicher Gesetzeskodex für ein orthodoxes jüdisches Leben.

12 Aschkenase, Pl. Aschkenasen [hebr. Aschkenas = Deutschland]: die Selbstbenennung der Juden Mittel- und Osteuropas, die eine gemeinsame religiöse Tradition, Kultur und die Jiddische Sprache verbindet.

13 Bar Mitzwa: [od. Bar Mizwa; aramäisch: Sohn des Gebots], ist die Bezeichnung einerseits für den religionsmündigen jüdischen Jugendlichen, andererseits für den Tag, an dem er diese Religionsmündigkeit erwirbt, und die oft damit verbundene Feier. Bei diesem Ritus wird der Junge in die Gemeinde aufgenommen.

14 Ulpan: Klasse oder Schule für intensiven Hebräischunterricht.

15 Chuppe [jidd.; hebr.: Chuppa]: der Traubaldachin bei einer jüdischen Hochzeit - bedeutet das "Dach über dem Kopf" und besagt, dass ein Haus gegründet wird.