Leon Nachwalger

Leon Nachwalger

Nachwalger, Leon
Wien
Österreich
Datum des Interviews: Oktober 2003
Interviewer: Tanja Eckstein

Leon Nachwalger ist ein sehr alter, gebeugter Mann. Er wurde 1912 geboren und hat große gesundheitliche Probleme. Bevor ich ihn kennen lerne erfahre ich, dass er schwerhörig ist, was unsere Konversation am Telefon anfangs sehr beeinträchtigt, ich schreie ins Telefon, und er versteht so gut wie gar nichts. Bei unserem ersten Zusammentreffen in seiner großen Altbauwohnung im 8. Wiener Gemeindebezirk, stelle ich fest, dass er fast alles versteht, wenn deutlich artikuliere, leise und ruhig mit ihm spreche. Ich kann mir gut vorstellen, dass er ein attraktiver Mann war, sehr anziehend sind seine oft lachenden Augen. Jiddisch ist seine Muttersprache, und es fällt mir manchmal schwer, ihn zu verstehen. Was ich mir kaum vorstellen kann, ist, was dieser Mann jahrelang an unvorstellbarer Grausamkeit sehen und erleben musste, und ich frage mich, wie es einem Menschen gelingt, danach noch mit seinen Augen lachen zu können.

Leon Nachwalger hielt seine Erinnerungen vor und während des Holocaust in einem Buch fest. In der Zeit, in der ich Leon Nachwalger kenne, gelingt es mir, einen Verlag für sein Buch zu finden. Leon Nachwalger stirbt im Januar 2005. Er wurde nach Israel überführt und in Kiriat Shaul, bei Tel Aviv, begraben.

Meine Familiengeschichte
Meine Kindheit
Während des Krieges
Im Ghetto
Flucht nach Obertyn
Nach dem Krieg
Palästina
Rückkehr nach Wien
Glossar

Meine Familiengeschichte

Meine Geburtsstadt Obertyn [heute Ukraine] gehörte zu Ostgalizien und lag 23 Kilometer von Kolomea und 60 Kilometer von Stanislau entfernt. In Obertyn lebten 6000 bis 7000 Einwohner, Polen, ungefähr 2000 Juden, aber der überwiegende Teil der Bevölkerung in Obertyn waren Ukrainer. Es gab eine wunderschöne Synagoge und einen jüdischen Friedhof.
Die meisten Leute in Obertyn waren arm.

Mein Großvater väterlicherseits, Alter Nachwalger, wurde 1850 geboren. Er war Landwirt und ein harter und jähzorniger Mann. Einmal schlug er sogar mich. Man erzählte sich, dass er, um nicht im Militär dienen zu müssen, den Zeigefinger seiner rechten Hand in einen Häcksler steckte. Den verstümmelten Zeigefinger kannte ich. Den Namen seiner ersten Frau, meiner Großmutter, kenne ich nicht. Sie hatten einen Sohn, meinen Vater Mordechai Melach Nachwalger, der 1874 in Obertyn geboren wurde. Sie starb, da war mein Vater noch ein kleines Kind. Woran sie starb, weiß ich nicht, ich war noch nicht geboren.

Es dauerte lange, bis der Großvater eine andere Frau fand. Nach dem jüdischen Gesetz war er ein Cohen, ein Priester, und ein Cohen darf weder eine Witwe, noch eine geschiedene Frau heiraten - nur eine Jungfrau. Es war nicht leicht für ihn, eine Jungfrau zu finden. Er brauchte dafür ungefähr 20 Jahre. Sie hieß Sara, und sie gebar ihm drei Söhne: Hermann, jüdisch Zwi, drei Jahre älter als ich, Gershon und Elijahu. Dadurch war meine älteste Schwester Shifra drei Jahre älter als ihr Onkel.

Mein Großvater betrieb außer seiner Landwirtschaft in seinem Haus ein kleines Geschäft Er besaß das Salzmonopol in dieser Gegend, und er verkaufte Salz en gros. Ich weiß aber nicht, wie er zu dem Salzmonopol kam. Er hatte einen Bruder, aber ich kann mich weder daran erinnern, wie der Bruder hieß, noch wo er lebte.

Der Vater meiner Mutter hieß Jona Rottman. Er war ein sehr angesehener und feiner Mensch. Er sprach jiddisch und lebte in einem Dorf neben Otynia [heute Ukraine]. Er arbeitete in der Jüdischen Gemeinde und starb während des 1. Weltkrieges. Woran er starb, weiß ich nicht.
Über meine Großmutter mütterlicherseits weiß ich nur, dass man erzählte, sie wäre von einer Katze gekratzt worden und darum an einer Blutvergiftung gestorben.

Meine Kindheit

Meine Mutter hieß Mina Nachwalger. Sie wurde 1884 in Czernolozce [heute Ukraine] geboren. Sie sprach jiddisch, deutsch, polnisch und ukrainisch. Sie hatte eine Schwester, die Nadworna hieß. Meine Tante Nadworna hatte einen Sohn Chaim. Sie lebten auch in Ostgalizien. Wer der Vater von Chaim war, weiß ich nicht mehr.

Die Ehe meiner Eltern kam natürlich durch einen Schadchen, einen Heiratsvermittler, wahrscheinlich 1905, zustande. Aber mehr weiß ich darüber nicht.

Meine Schwester Shifra war die älteste von uns Geschwistern. Sie wurde 1906 in Obertyn geboren. Meine Schwester Chana wurde 1908 in Obertyn geboren, ich, Leon, jüdisch Arie, wurde am 26. August 1912 in Obertyn geboren, und Towa, die jüngste, wurde 1917 in einem Dorf neben Debrecen [Ungarn] geboren. Unsere Muttersprache war Jiddisch.

Mein Vater und mein Großvater arbeiteten zusammen in der Landwirtschaft. Mein Vater war ein herzensguter Mensch, sehr warmherzig und lieb - das ganze Gegenteil von seinem Vater.

Als ich zwei Jahre alt war, begann der 1. Weltkrieg. Meine Familie und die Familie meines Großvaters flohen gemeinsam auf einem Pferdefuhrwerk vor den russischen Soldaten, die die Grenze zu Galizien überschritten hatten und sich Obertyn näherten.

Meine erste bewusste Erinnerung ist, dass wir an der ungarischen Grenze waren und ein schreckliches Gewitter begann. Da nahm meine Mutter alle sechs Kinder, meine Schwester Towa war noch nicht geboren, und klopfte, bereits in Ungarn, an ein jüdisches Haus. Es öffnete eine orthodoxe Jüdin mit einem Scheitl 1, und meine Mutter bat um Schutz, bis das Gewitter vorbeigezogen wäre. Die ungarische Jüdin sagte zu meiner Mutter: ‚Ihr tragt eure Haare, und wir scheren uns unsere Haare ab und tragen die Perücke.’ Für sie war das eine große Sünde, dass meine Mutter keinen Scheitl trug, und sie ließ uns nicht hinein. Meine Mutter war eine modern orthodoxe Frau. Sie hat noch Jahre später diese Geschichte erzählt, aber ich bin sogar sicher, dass ich mich daran erinnere.

Wir kamen dann in ein Dorf in der Nähe von Debrecen [Ungarn] und blieben dort vier Jahre, bis der Krieg zu Ende war.

Der Großvater wohnte mit seiner Frau und seinen drei Buben zusammen, und wir wohnten zusammen: zuerst bei einem Ungarn, der war sehr oft betrunken und dann schlug er seine Frau. Er gab ihr immer Stöße, und sie fiel von einer auf die andere Seite. Nach einiger Zeit übersiedelten wir zu einem reichen Juden. In seinem Speicher hatten wir eine schöne kleine Wohnung. Dort wurde auch meine jüngste Schwester Towa geboren.

Mein Vater hatte ein gewisses Kapital, in Obertyn war er ein vermögender Mann gewesen. Aber er ahnte schon am Anfang, dass das Geld knapp werden könnte. Deshalb begann er sofort in einer Weinkellerei zu arbeiten. Das war in dieser Gegend noch sehr primitiv, er musste die Trauben noch mit den Füßen treten, damit der Saft heraus kam. Aber nach zweieinhalb Jahren wurde er zum Militär einberufen. Durch eine Krankheit rückte er doch nicht ein, konnte aber nicht wieder zu uns zurückkommen, und meine Mutter machte sich anfangs große Sorgen um ihn.

Als ich vier Jahre alt war, führte mich meine Mutter in den Cheder [religiöse Schule].
Im Cheder waren lauter reiche Kinder, und wir waren arme Flüchtlinge. Ich war ein Fremder, und so benahmen sich die anderen Kinder mir gegenüber. Einmal ließ der Melamed [Lehrer für die unteren Klassen] uns allein, da begannen sie zu spielen und mich als Pferd zu benutzen. Sie ritten auf mir, und ich weinte. Sie ließen mich nicht in Ruhe, das werde ich nie vergessen. Ich lernte Schreiben und Lesen auf jiddisch. Aber weil mich die anderen Kinder immer ärgerten, nahm mich meine Mutter dann aus dem Cheder und ich konnte jeden Tag von der Früh bis zum Abend spielen.

Meine Mutter war eine starke Frau. Als sie mit uns Kindern allein war, eröffnete sie eine Küche mit koscherem [koscher: nach jüdischen Speisevorschriften rituell; rein] Essen. Jüdische Soldaten aus Galizien, sogar aus unserer Gegend, waren in unserem Ort stationiert, und sie baten meine Mutter, koscheres Essen für sie zu bereiten. Viele Soldaten kamen aus gutsituierten Familien, sie hatten genug Geld, und meine Mutter war froh, eine Aufgabe zu haben und uns finanziell versorgen zu können. Die Soldaten brachten ihr zum Beispiel ein Kalb. Meine Mutter ging mit dem Kalb zum Schochet [Fleischhauer], es wurde koscher geschlachtet, alle waren zufrieden. Leider wurden nach sechs Monaten die Soldaten aus dem Dorf abgezogen, und meine Mutter war wieder ohne Arbeit und oft traurig und depressiv.

Nach vier Jahren war der Krieg beendet. Wir fuhren zuerst nach Lemberg, denn mein Vater war in Lemberg. Dort ging ich in den Cheder, meine Eltern unterrichteten mich in jiddisch, und ich kam in die erste Klasse der polnischen Schule. Ich war ein schlechter Schüler, denn in Ungarn hatte ich ungarisch gelernt, und in der Schule in Lemberg wurde natürlich auf Polnisch gelehrt. Zwei Jahre lebten wir in Lemberg. In dieser Zeit brach der Krieg zwischen Polen und der Ukraine aus, es ging um die Eroberung Lembergs. Meine Eltern schickten mich nicht mehr in die Schule, weder in die polnische noch in den Cheder, weil diese Zeit sehr gefährlich für die Juden war. Beide kriegsführenden Gegner waren Judenhasser.

Ich erinnere mich an einen Schabbat, die Schabbat Kerzen brannten und standen abgeschirmt, damit sie von draußen nicht sichtbar waren, denn das wäre sehr gefährlich gewesen. Es war Mitternacht und die Männer sangen das Freitagabend Dankgebet. Ich werde diese leisen, traurigen und zugleich ängstlichen Gesänge nie vergessen. Ich glaube, in dem Moment begann ich, das leidvolle Schicksal meines Volkes zu verstehen.

Mein Großvater fuhr sofort nach dem Krieg mit seiner Familie zurück nach Obertyn. Als wir nach Obertyn zurückkamen, war unser Haus vom Krieg noch sehr beschädigt und musste erst repariert werden. Das dauerte sechs Monate. In dieser Zeit lebten wir bei einem Landwirt, der drei erwachsene Söhne, zwei Töchter und einen kleinen Sohn hatte. Er besaß Felder und einen großen Obstgarten. Mein Vater brachte mich, kaum dort angekommen, sofort in den Cheder. Etwas später ging ich auch in die polnische Schule.

Als ich älter war, lernten wir im Cheder Chumasch und Raschi [Fünf Bücher Mose; Grundwissen, das ein religiös erzogenes jüdisches Kind mitbekommt]. In einem zweiten, größeren Cheder, schon Gemara [Vervollständigung; zusammen mit Chumasch und Raschi Talmud].

Nachdem ich die polnische Sprache gelernt hatte, wurde ich ein guter Schüler. Meine besondere Liebe galt dem Zeichnen und den Handarbeiten. In diesen Fächern wurde ich sogar Schulbester.

In meiner Klasse in Obertyn waren jüdische, polnische und ukrainische Schüler. Dominiert aber haben die jüdischen Schüler in jeder Hinsicht - in der Anzahl, den Lernerfolgen und sogar im Prügeln belegten wir den ersten Platz. Wir mussten oft mit den christlichen Schülern kämpfen, weil sie Christen waren und wir Juden und sie uns deshalb angriffen. Es gab die wildesten Prügeleien. So war das eben, weil es diesen starken Antisemitismus unter den Kindern gab. Ich war der Favorit, ich war ein guter Schüler, und so führte ich den Kampf an.

Meine Schwestern gingen auch in Obertyn in die Schule. Meine Mutter kümmerte sich um alles, denn wir hatten kein Dienstmädchen und kein Kindermädchen - das gab es in Obertyn nicht. Nicht, weil wir arm gewesen wären, aber ich weiß, dass es in Obertyn keine Kindermädchen gab. Meine älteren Schwestern kümmerten sich um mich. Ich verstand mich sehr gut mit allen meinen Schwestern. Eigentlich war vor mir noch eine Schwester, aber die starb, bevor ich geboren war.

Meine Mutter hatte niemals einen Urlaub. In Obertyn gab es so etwas überhaupt nicht. Erst als ich Obertyn verließ, erfuhr ich, wie primitiv unser Leben war, aber es war sehr reich an Wärme und voller Kultur.

Als wir nach Obertyn zurückgingen, kaufte mein Vater von seinem Cousin, den Namen des Cousins weiß ich nicht mehr, seine Eisenwarenhandlung, weil der Cousin nach Stanislau übersiedelte. Dadurch wurde mein Vater ein Geschäftsmann. Wir hatten ein Haus mit einer großen Wohnung, aber ohne elektrischen Strom, es gab nur Petroleumlampen und ein Plumpsklo. Wasser wurde aus dem Brunnen geholt. Es gab ein Bad, das gehörte der jüdischen Gemeinde. Freitag am frühen Nachmittag und an jüdischen Feiertagen gingen alle Juden in das Schwitzbad und verließen es mit nassen Bärten und tropfenden Pejes [Schläfenlocken]. Die Frauen badeten in der Woche in den Wannenbädern. Es war alles recht primitiv, aber so war es in diesen Zeiten in allen kleinen Städten in Galizien. Der alte Itzig kam oft zu uns zu Besuch. Das war für uns Kinder immer sehr aufregend, weil er spannende Geschichten erzählte und viele Witze kannte.

Am Erew Schabbat [Vorabend des Schabbat] zündete meine Mutter die Kerzen und sprach das Gebet, das war Frauensache. Danach gab es ein Festessen: Suppe mit Nudeln und Fleisch. Meine Mutter und meine Schwestern buken für die ganze Woche Brot und Challah [Brot in Zopfform], weil es keinen Bäcker im Ort gab. Ich erinnere mich, sie buken auch süße Kipferln. Die waren so gut, dass ich fast ein ganzes Backblech davon essen konnte. Donnerstagnacht wurde das Essen für den Schabbat [siebente Tag der Woche, Ruhetag, höchster Feiertag des Judentums] bereitet und in der Früh war dann alles fertig. Es gab eine wunderbar schmeckende Speise, Kartofflanik, das waren auf dem Blech gebratene Kartoffeln mit Rahm. Ich wurde immer Freitag früh zwischen fünf und sechs Uhr geweckt, um etwas davon zu essen, das war wunderbar.

Als es dann einen koscheren Bäcker im Ort gab, wurde das Brot beim Bäcker gekauft.

Solange mein Vater lebte, feierten wir den Sederabend 2 immer bei uns zu Hause. Als der Vater gestorben war, bat meine Mutter den Großvater, mich zu seinem Seder mitzunehmen.

Mein Vater erkrankte an Magenkrebs und starb im Jahre 1923. Da war ich elf Jahre alt. Ein Jahr lang ging ich jeden Früh ins Bethaus und sprach Kaddisch 3 für meinen Vater.
Danach ging ich nach Hause, aß etwas zum Frühstück und ging in die Schule. Um zwölf Uhr mittags war die Schule beendet, ich ging nach Hause, machte meine Hausaufgaben und dann ging ich am Nachmittag in den Cheder. Im Winter ging ich sogar am Abend noch einmal in den Cheder.

Kurze Zeit nach meinem Vater starb auch der Großvater. Seine Söhne Gershon und Elijahu führten das Geschäft des Großvaters weiter.

Im Jahre 1925 wurde in Obertyn die erste hebräische Schule von jüdischen Eltern gegründet. Sie war im ersten Stock des Bethauses untergebracht. Es gab zuerst nur eine Lehrerin, die aber ausgezeichnet war. Dort lernten wir jiddische Literatur und jüdische Geschichte vom Altertum bis in die Neuzeit. Im Cheder lernten wir Religion, und so war ich war den ganzen Tag beschäftigt. Ich hatte gar keine Freizeit, ich war nur mit Lernen beschäftigt.

Nach der 7jährigen polnischen Volksschule besuchte ich in Lemberg eine Gewerbeschule. Ich lebte im Internat und ich ging oft zu Veranstaltungen der zionistischen Hitachdut-Partei und ihrer Jugendorganisation Gordonia.

Als ich 15 Jahre alt war, gründeten mein Onkel Gershon und ich mit Hilfe anderer Juden in Obertyn die zionistische Jugendorganisation Gordonia. Ich war ein Sozialist und die Gordonia war auch eine sozialistische Organisation. Es gab bereits die Partei der Allgemeinen Zionisten, in der auch meine Schwestern waren. Sie besaßen einen großen Saal und eine große Bibliothek. Sie hatten eine Jugendorganisation, die hieß Achwa. Die Mitglieder dieser Organisation waren älter als wir. Wir waren alle zwischen 15 und 17 Jahre alt. Mein Onkel Gershon wurde als Vorsitzender gewählt und ich als sein Stellvertreter. Es begann ein reges politisches und kulturelles Leben in Obertyn. Es wurden Bücher gelesen, Geld für Israel gesammelt, gesungen, Theater gespielt und viel diskutiert. Wir gestalteten eine Wandzeitung, und fast jeden Tag war ein Bericht über uns in der Zeitung. Wir bekamen auch Besuche von der Zentrale in Lemberg. Das war eine wunderbare, aufregende Zeit.

Nach dem Tod meines Vaters führten meine Mutter und meine Schwester Chana das Geschäft weiter.

Wir hatten einen Nachbarn in Obertyn, sein Name war Mordechai Engelstein, der sich für meine älteste Schwester Shifra interessierte, sie waren miteinander befreundet. 1928 wanderte er nach Paraguay aus, weil er sagte, die Juden hätten in Polen keine Zukunft. Shifra folgte ihrem Chussen [jidd: Bräutigam]. In Paraguay heirateten sie und bekamen zwei Söhne: Izchak und wie der andere Sohn heißt, weiß ich nicht mehr. Ein Sohn meiner Schwester Shifra lebt in Brasilien und ist Unternehmer, mehr weiß ich nicht. Der andere Sohn lebt in Israel.

Jabotinsky 4 kam einige Male nach Polen, er war eine beeindruckende Persönlichkeit und ein erstklassiger Redner. Er warnte die Juden vor einer kommenden Gefahr und versuchte sie zu überzeugen, nach Palästina auszuwandern. Jabotinsky war russischer Jude, aber er lebte nicht in Palästina, sondern irgendwo in Amerika. Aber er war ein guter Jude. Wir hatten gute Führer, große Idealisten! Als ich acht Jahre alt war, gab es die ersten Radios. Ein Radio gab es im Saal der Allgemeinen Zionisten, und wenn man den Sendungen zuhören wollte, musste man fünf Groschen Hörgebühr bezahlen. Später besaßen mehrere Leute ein Radio, auch unser Nachbar. So konnten wir auch die Reden Hitlers hören. Wir wussten also von der Bedrohung. Was Hitler wollte, hatte er oft genug öffentlich gemacht, das konnte jeder hören und verstehen. Aber die meisten von uns hörten nicht auf Jabotinsky und andere warnende Stimmen.

Meine Schwester Towa ging schon 1935 nach Palästina, mein Onkel Zwi ging auch vor dem Krieg nach Palästina, Chana und Onkel Elijahu schafften es, kurz vor dem Krieg illegal in Palästina einzureisen.

Während des Krieges

Nur meine Mutter und ich waren noch in Obertyn. Ich hatte zuletzt das Geschäft geführt, sollte es liquidieren und mit der Mutter auch nach Palästina fahren. Wir hatten schon unsere Zertifikate 5. Meine Schwestern hatten in Palästina geheiratet, Towa war mit Herrn Orenstein verheiratet und Chana hatte Wolf, jüdisch Zeef, Schächter geheiratet. Beider waren Obertyner. Dadurch hatte meine Mutter in Palästina schon zwei Schwiegersöhne, und die hatten das Recht, uns aufzunehmen, denn die Engländer als Mandatsmacht verhinderten die Einreise von Juden nach Palästina.

Meine Mutter hatte noch nicht alle Papiere zusammen. Sie musste noch ihren Geburtsschein aus ihrem Heimatort holen, kam zurück, und dann brach der Krieg aus. Wir kamen nicht mehr weg. Meine Mutter wurde getötet, wie die meisten Juden, und ich habe mit Kunzen [jidd: Kunststücke] überlebt.

Zuerst kamen die Russen. Als der Krieg ausbrach zitterten wir, dass der Hitler kommt. Aber die Russen hatten eine Abmachung mit Deutschland getroffen, sich Polen zu teilen 6. Das ehemalige Galizien war der Teil, den die Russen bekamen.

Erlaubt waren nur noch die Kommunistische Partei und die Jugendorganisation Komsomol. Die einzige Ausnahme war der dramatische Kreis des Hitachdut. Aber schon nach dem ersten Stück, dass wir einstudierten, wurde behauptet, es sei ein konterrevolutionäres Stück, und wir lösten uns auf. Nun gab es keine jüdische Institution mehr. Aber wir hatten unsere absolute religiöse Freiheit: Bethäuser, Rabbiner und sogar unsere rituellen Schächter waren erlaubt. Juden waren keinen Beschränkungen unterworfen, und die Juden verhielten sich dem System gegenüber loyal.

Es gab viele Ukrainer, die in die von den Deutschen besetzten Gebiete Polens übersiedelten. Die Ukrainer waren sehr deutschfreundlich, und sie arbeiteten im Untergrund für die Deutschen, was leicht war, weil viele in staatlichen Ämtern arbeiteten. Sie hassten die Juden, weil sie uns sowieso hassten und weil die Russen auch viele Ämter mit Juden besetzt hatten.

In meiner Schulzeit war ich der beste Zeichner der ganzen Schule, und so begann ich, als Schildermaler, zusätzlich zu unserem Geschäft, Geld zu verdienen.

Am 1. Juli 1941 verließen die Sowjets Obertyn, und die Ukrainer begannen für kurze Zeit mit dem Regieren. Unter Anleitung des Pfarrers und des Arztes in Nieswisk, einem Dorf in unserer Nähe, wurden alle Juden aus den umliegenden Dörfern auf den Fluss Dniestr mit Booten gebracht und ertränkt. Auch die Juden von Obertyn sollten, so beschlossen diese Verbrecher, ermordet werden. Das scheiterte aber an der Gegnerschaft des Leiters der ukrainischen Molkerei und dem ukrainischen Kommandanten.

Dann besetzten ungarische Truppen unsere Gegend und danach kamen im August 1941 die Deutschen, und es begann die Vernichtung der Juden. Zuerst versteckten meine Mutter und ich uns, wenn Gefahr drohte, mit zwei weiteren Familien in einem Nachbarhaus. Wir gruben uns im Keller einen zweiten Keller. Darin gab es Platz für sieben Erwachsene und zwei Kinder. Unsere Lebensbedingen waren sehr schwer, und dann kam die Verordnung, alle Juden sollen sich innerhalb von acht Tagen im Ghetto von Kolomea einfinden. Einige flohen und versteckten sich im Wald, aber es war schwer, sich zu verstecken. Viele verrieten die Juden an die Deutschen oder an die Ukrainer. Sie verrieten sie, nachdem sie das Geld und den Besitz der Leute an sich genommen hatten. Ständig gab es Razzien, und wer Juden versteckt hatte, wurde sofort mit den Juden zusammen ermordet. Die Lebensbedingungen wurden so schwer, dass meine Mutter und ich beschlossen, ins Ghetto nach Kolomea zu gehen. Es waren 23 Kilometer die wir zu Fuß zurücklegen mussten. Ukrainische und deutsche Soldaten mit Gewehren und Knüppeln bewachten uns.

Im Ghetto

Im Ghetto lebten statt 50 000 Menschen eine Million Menschen. Wir bekamen bei einer alten Frau ein Zimmer in ihrer Zweizimmerwohnung, und ich fand bald eine Arbeit. Es herrschten großer Hunger und Krankheiten. Durch Bestechung des Kreisleiters der Stadtverwaltung wurden einige Leute, darunter auch meine Mutter und ich, bald aus dem Ghetto heraus geschmuggelt und wir lebten wieder in Obertyn in unserer vollständig geplünderten Wohnung. Aber es war kein Vergleich zum Ghetto. Unsere Aufgabe war es, mit einem Handwagen Häute, Felle und Wolle, das waren kriegswichtige Produkte, von Bauern zu holen, sie zu konservierten und trocknen und ins Hauptquartier der Bezirksstadt zu bringen. Es dauerte aber nicht lange, da sollten sich wieder alle Juden sammeln. Wir versteckten uns, aber es war sehr schwer etwas Essen zu besorgen. So gingen meine Mutter und ich zurück ins Ghetto.

Mein Onkel Gershon war Hauptbuchhalter in der ukrainischen Kooperative. Er hatte Betka Kriegl geheiratet, und sie hatten ein Baby. Ihm wurde versichert, er sei unabkömmlich und man werde ihn schützen. Ich habe nie mehr etwas von ihm und seiner Familie gehört.

Die Menschen aus dem Ghetto wurden sofort im Wald erschossen, deportiert, sie starben an Krankheiten oder verhungerten. Etwas geschützter war man mit einer Arbeit. Eine Zeit lang konnte ich als Schildermaler arbeiten.

Am 5. November 1942 wurde das Ghetto von den Deutschen angezündet. Fünftausend Menschen verbrannten. Meine Mutter und ich konnten sich verstecken und retten. Dann wurde ich krank, ich bekam Typhus. Meine Mutter ging eines Tages aus dem Haus, um etwas zu erledigen und kam nie mehr zurück.

Es ist ein Wunder, dass ich überlebt habe. Ein Nachbar fand mich, ich wog nur noch 40 Kilo. Einer Razzia entkam ich nur dadurch, dass ich mich mit meinen 40 Kilo unter meiner völlig verdreckten Decke versteckte und sie nicht sahen, dass darunter ein Mensch liegt und sie sich auch vor dem Dreck ekelten.

Flucht nach Obertyn

Nachdem ich mich ein wenig erholt hatte, floh ich aus dem Ghetto nach Obertyn. Im Dunkeln schlich ich mich zum Haus des Vaters meines Schuldirektors. Er war früher mein Geschäftspartner, und ich war sicher, dass er mich verstecken würde. Die erste Nacht verbrachte ich im Stall in einem Futtertrog. Am nächsten Tag entdeckte mich ein Sohn des Alten. Er war sehr gut zu mir, brachte mir Essen und Trinken und riet mir, für den Rest des Krieges in seinem Stall zu bleiben. Aber am Abend musste er mich wegschicken, weil sein Vater darauf bestand. Der Mond schien und es war sehr gefährlich, also musste ich bis 4 Uhr in der Früh warten. Vorsichtig schlich ich den weiten Weg bis ich zu einem Bekannten, dem Bauern Jurko Jakubowsky. Dort versteckte ich mich bis zum Morgen im Plumpsklo.

Nur durch seine Hilfe überlebte ich den Holocaust. Er versteckte mich zuerst auf dem Dachboden des Stalls. Es war Dezember, und ich dachte, ich müsse erfrieren. Im Stall war es aber zu gefährlich, denn es hätten mich andere Bauern oder Familienmitglieder entdecken können. Ich hab deshalb im Hühnerstall eine Grube aus: 75 cm hoch, 70 cm breit und 1,70 m lang. Darin lebte ich 15 Monate. Nur in der Nacht verließ ich mein Versteck.

Es war ein gutes Versteck, aber wirklich sicher war ich nie. In der ersten Zeit dachte ich, ich werde wahnsinnig. Ich zählte bis eine Million, bis zehn Millionen, zwölf Millionen. Der Hühnerstall war nicht hoch, und im Stall waren die Hühner. Ich teilte den Stall mit ihnen, ich hatte die 75 Zentimeter, und der Rest gehörte ihnen.

Jurko brachte mir Essen, aber am Sonntag zum Beispiel hatte er immer Gäste und konnte mir nichts bringen.

Dabei ging es mir noch gut, ich hatte einen festen Platz. Es gab welche, die mussten sich jede Nacht ein anderes Versteck suchen. Die letzten drei Wochen des Krieges verbrachte ich im Garten eines Bauern. Es regnete ununterbrochen, aber er hatte Angst, mich in sein Haus zu nehmen. Er brachte mir jeden Tag etwas zu essen. Es war eine sehr gefährliche Zeit, weil es ehrgeizige Bürger in dieser Stadt gab, die noch jedes jüdische Leben vor dem Einmarsch der Russen vernichten wollten.

Aus Obertyn konnten 26 Juden ihr Leben retten. Nach dem Krieg blieben wir 26 ganz eng zusammen. Einige von uns machten sich auf den Weg nach Kolomea, um zu erfahren, was die überlebenden Juden in Kolomea vorhatten. Von 22 000 Juden in Kolomea hatten 42 überlebt.

Nach dem Krieg

Wir beschlossen erst einmal nach Czernowitz [heute Ukraine] zu fahren, Czernowitz gehörte noch zu Rumänien. Mit Pferdewagen erreichten wir die Stadt. Die jüdische Kultusgemeinde gab uns eine Unterkunft in einem ehemaligen jüdischen Waisenhaus, dort schliefen wir in Eisenbetten ohne Matratze und Bettwäsche. Die WIZO 7 Frauen gaben uns zu essen. Der Vorsteher der Kultusgemeinde teilte uns an verschiedene jüdische Familien auf, damit wir am Schabbat an einem Festessen teilnehmen konnten.

Ich ging nirgendwo hin. Ich hatte mich so lange unter den schrecklichsten Umständen versteckt, hatte wie durch ein Wunder den Holocaust überlebt, und nun war ich frei. Aber alles was vor dem Holocaust für mich wichtig war, gab es nicht mehr: Meine Familie, meine Freunde, unser Haus. Ich hatte in den letzten Jahren so schreckliche Dinge mit eigenen Augen gesehen, wie sollte je wieder Normalität in mein Leben kommen? Mir wurde plötzlich klar, dass ich keine Heimat mehr hatte, dass ich ein Flüchtling war.

In Czernowitz versuchte ich mich als Händler auf dem Markt. Ich kaufte mit meinem Freund Rosenkranz in Geschäften des 70 Kilometer entfernten kleinen Ortes Dorohoi [Rumänien] Kleidung und Schuhe, und verkaufte die Sachen teurer illegal auf dem Markt in Czernowitz. Das klappte aber nur eine kurze Zeit, denn wir waren nicht die Einzigen, die sich diesen Markt erschlossen. Danach lebten wir von Gelegenheitsarbeiten. Bald übersiedelten wir nach Dorohoi, um uns unsere Lebensbedingungen zu erleichtern. Wir fanden dort als Unterkunft leerstehende Häuser, deren Besitzer geflohen waren, und ich fand sehr schnell eine Möglichkeit als Schildermaler zu arbeiten. Leider war das nur für eine kurze Zeit. Wir verdienten uns unseren Lebensunterhalt und sogar etwas mehr durch den Verkauf von Rohöl aus einer Zisterne, das uns ein russischer Soldat, der dort Wache hielt, gegen Wodka, den wir billig besorgen konnten, eintauschte. Das Rohöl verkauften wir in Geschäften, die Petroleum führten.

Aber Rumänien war nur als Zwischenstation gedacht, wir wollten nach Palästina. Langsam trafen zwölf unsere Freunde aus Czernowitz bei uns ein, und wir planten nach Bukarest zu fahren. Für diese Zwecke organisierten wir Geld für ein Pferdefuhrwerk. Durch einige Unannehmlichkeiten konnten wir dann doch nicht auf den Kauf des Pferdefuhrwerks warten, sondern schlugen uns nach Jassi [Rumänien] durch. Dort verdienten wir unser Geld durch den Verkauf von Wodka und Slivovitz. Wir kauften bei Rumänen und verkauften an Russen.

Palästina

Im November 1944 stiegen wir, insgesamt ungefähr 600 Juden, polnische Holocaustopfer und rumänische Flüchtlinge, in Bukarest in den Zug nach Palästina. In Bulgarien, in der Stadt Stara Sagora, hielten uns die Russen auf. Sie ließen uns nicht weiterfahren, weil sie glaubten, russische Juden aus der Armee hätten sich bei uns versteckt. Aber sie fanden niemanden.
Der Zug fuhr nicht weiter, und wir hatten jeden Tag nur eine Suppe. Die bulgarischen Juden in Stara Sagora halfen uns, so gut sie konnten. Da es sehr kalt war, gaben sie den alten Leuten und den Kindern Unterkunft.

Dann erfuhren wir, dass die Russen den Zug freigegeben hatten, aber die Engländer [Anm.: zu dieser Zeit Mandatsmacht in Palästina] die Weiterreise vereitelten. Nach einigen Verhandlungen und noch mehreren Aufenthalten führte uns der Weg über die Türkei, Syrien und den Libanon nach Palästina. Das erste Mal sah ich etwas von der Welt.

Wir erreichten Palästina am 11. Januar 1945. Juden waren nie Landwirte, aber in Palästina erlernten sie die Landwirtschaft; und sie wurden gute Soldaten. Das ganze Land war organisiert bevor der Staat entstand, alles war schon alles vorbereitet.

Als der Staat Israel im Mai 1948 ausgerufen wurde, war ich sehr froh, denn ich war Zionist. Wir wollten doch endlich unser eigenes Land haben. Es gab einen riesigen Freudentaumel, die Menschen umarmten sich, tanzten, sangen, lachten und weinten.

Ich fühlte mich sehr gut in Palästina. Ich war kein Fremder, ich war Jude unter Juden. Alles war mir nahe und vertraut. Anfangs lebte ich mit meiner Familie zusammen, die sich in Ramat Gan angesiedelt hatte. Meine Schwestern hatten bereits Kinder: Towa hat zwei Söhne, einer heißt Chaim, wie der andere heißt, weiß ich nicht mehr und Chana hat eine Tochter Chedwa und einen Sohn Mordechai. Mein Onkel Zwi mit Familie und mein Onkel Elijahu lebten auch in Ramat Gan. Mein Onkel Elijahu war Beamter, wurde sehr krank und starb mit 44 Jahren. Mein Onkel Zwi arbeitete sehr schwer auf dem Bau und starb im Alter von 50 Jahren.

Als erstes bewarb ich mich als Schildermaler, aber ich fand keine Arbeit. Dann wurde ich Baumeister. Mein Schwager arbeitete als Baumeister, er hatte in Palästina diesen Beruf gelernt, und ich half ihm bei seiner Arbeit. Ich erlernte den Beruf, wurde selbständig und baute Häuser. In den 12 Jahren, die ich in Israel lebte, baute ich vielleicht 15 Häuser in Ramat Gan. Das waren richtig große Häuser, wir hatten uns das nicht zugetraut, aber es ist gelungen.

Nachdem ich als Bauingenieur etwas Geld verdient hatte, eröffnete ich ein Geschäft mit Antiquitäten. Die Antiquitäten kaufte ich von den Olim [Neueinwanderern] und verkaufte sie in meinem Geschäft. Ich lebte in Ramat Gan in einer kleinen Zweizimmerwohnung. Jeden Samstag ging ich die sechs Kilometer zu Fuß nach Tel Aviv und schwamm im Meer.

In die Synagoge ging ich selten, ich war Sozialist, da musste ich nicht so fromm sein.

Eine gewisse Zeit war ich Reservist bei der Armee. Ich wohnte mit anderen Reservisten in einer Hütte, und es hieß, ich sei Soldat. Aber wir waren keine richtigen Soldaten, ich war ja auch schon beinahe 50 Jahre alt.

Mit den Arabern in Israel wollte ich nichts zu tun haben. Zum Beispiel auf dem Markt in Ramat Gan verkauften sie Kartoffeln. Sie füllten einen Sack und die untere Hälfte des Sackes war voller Paradeiser, weil Kartoffeln teurer als Paradeiser waren. So haben sie die Juden beschwindelt.

Rückkehr nach Wien

Nach zwölf Jahren in Israel bekam ich eine tropische Krankheit, und die Ärzte rieten mir nach Europa zu fahren um mich in Europa zu kurieren. Das war im Jahre 1958. Ich kam nicht nach Wien um hier zu bleiben, aber dann blieb ich doch. Ich wollte mich nur kurieren, aber inzwischen hatte man mir zugeredet ich solle ein Geschäft aufmachen. Das habe ich gemacht, und das hat mich an Wien gebunden.

Ich eröffnete im 1. Bezirk eine kleine Fabrik in der Bräunerstraße mit Röcken und wurde ein Fachmann. Ich machte sogar Rockverzierungen selber. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich das Geschäft hatte. Ich baute ein schönes Haus in Grinzing, aber wie die Gasse heißt, habe ich vergessen. Da ich damals die Gesetze Österreichs nicht kannte, verlor ich mein Haus wieder. Nachdem ich das Haus verloren hatte, mietete ich eine Wohnung im 8. Bezirk, in der ich noch heute mit meiner Lebensgefährtin Berta Gluszecka, auch sie ist Jüdin, lebe. Berta wurde in Teschen, in der Tschechoslowakei, im Jahre 1925 geboren. Sie überlebte mehrere kleinere Lager, aber zum Schluss war sie im KZ Bergen-Belsen [Deutschland]. Nach dem Krieg machte sie eine Ausbildung als Krankenschwester und lernte den Arzt Doktor Marian Auerhahn-Gluszecki, kennen. Doktor Auerhahn war Arzt im Ghetto von Olkusz [Polen].

Ich ging in Wien in die Synagoge, aber ich ging zu Chabad [Teil der chassidischen Bewegung], sie gefielen mir. Die Chabadnikim sind feine Leute. Aber mit den anderen Juden in Wien hatte ich nichts Gemeinsames. In dieser Zeit, in der ich zu Chabad ging, ging ich auch jeden Samstag beten. In die Synagoge in der Seitenstättengasse ging ich nur zu Vorträgen, die mich interessierten.
Mit den Österreichern verstand ich mich gut, aber ich weiß, dass sie leider Antisemiten sind.

Natürlich hatte ich immer Sehnsucht nach meiner Familie in Israel, und ich fuhr jedes Jahr zwei - bis dreimal zu ihnen. Nur das Klima in Israel gefiel mir nicht, es war mir zu heiß. Towa, die jüngste meiner Schwestern lebt noch in Israel. Shifra und Chana sind bereits gestorben.

Über die politische Situation in Israel bin ich sehr traurig.

Vor 13 Jahren, im Jahre 1991 besuchte ich meine Stadt Obertyn. Ich besuchte die Familie des Bauern Jurko, der mich gerettet hatte. Der Bauer Jurko lebte nicht mehr, aber seine Tochter und dessen Familie, und sie empfingen mich sehr freundlich. Ich begegnete einer Ukrainerin, die mich noch von früher kannte. Ihr Vater war Schlosser und er schickte sie manchmal zu uns in Geschäft, Nägel und solche kleinen Sachen kaufen. Ich wollte mein Haus sehen, aber ich fand nichts. Wo unser Haus stand, war kein Zeichen, kein Stein war dort geblieben, ich konnte mich überhaupt nicht orientieren. Das war schrecklich für mich, keine Orientierung mehr zu haben. Ich suchte den Platz, wo die wunderschöne Synagoge gestanden hatte, und ich fand eine Weide mit Kühen und Pferden. An Stelle des jüdischen Friedhofs befand sich eine Kolchose. Man hatte die Gräber zubetoniert.

Diese Geschichte soll sich vor meiner Zeit zugetragen haben - ich habe das nicht erlebt - aber ich kannte das Mädchen, die Frime: in Obertyn gab es ein Einkehrhaus. Am Stadteingang war ein großes Tor, und wenn ein Fuhrwerk aus der Provinz kam und einen oder zwei Tage in Obertyn blieb, wurde das Fuhrwerk in dem Einfuhrhaus abgestellt. Da in Obertyn kein Zug fuhr, kamen viele mit Fuhrwerken. Nach dem 1. Weltkrieg führten drei jüdische Mädchen das Einkehrhaus, und die jüngste, sie hieß Frime, war wunderschön. Dem Einfuhrhaus gegenüber wohnte ein polnischer Bankier. Er verliebte sich in Frime. Sie sollte mit ihm nach Lemberg gehen, sich taufen lassen und dann wollten sie heiraten. Das erfuhren die frommen Juden in Obertyn. Sie setzten sich vor das Haus des polnischen Bankiers und sangen in traurigem leisen Ton: ‚Gib uns zurück die jüdische Tochter, gib uns zurück die jüdische Tochter, gib uns zurück die jüdische Tochter...!’ Sich taufen lassen, bedeutete für die frommen Juden gestorben. Nicht einmal die Polizei konnte helfen, die Juden blieben sitzen und sangen. Sie sangen so lange, bis der junge polnische Bankier heraus auf den Balkon trat und sagte:
‚Geht nach Hause, ich verspreche, eure jüdische Tochter zurück zu geben. Sofort verließen die Juden das Grundstück, die Heirat kam nie zustande.

Diese Zeit ist lange vorbei, in Obertyn leben keine Juden mehr, das osteuropäische Judentum und seine Kultur wurden vernichtet.

Glossar

1 Scheitl [Scheitel]

Die von orthodox-jüdischen Frauen getragene Perücke.

2 Seder [hebr

: Ordnung]: wird als Kurzbezeichnung für den Sederabend verwendet. Der Sederabend ist der Auftakt des Pessach-Festes. An ihm wird im Kreis der Familie (oder der Gemeinde) des Auszugs aus Ägypten gedacht.

3 Kaddisch [hebr

: kadosch = heilig]: Jüdisches Gebet zur Lobpreisung Gottes. Das Kaddisch wird auch zum Totengedenken gesprochen.

4 Jabotinsky, Vladimir, jüd Zeev, wurde 1880 in Odessa geboren und starb 1940 in den USA

Er war Gründer der jüdischen Legion im 1. Weltkrieg, Leiter der zionistischen ‚Betar’ [Trumpeldor-Bund]; Literat, Dichter, charismatischer Rhetoriker.

5 Zertifikat

Einwanderungserlaubnis in das von Großbritannien verwaltete Mandatsgebiet Palästina.

6 Hitler-Stalin-Pakt

Nach monatelangen Geheimgesprächen unterschrieben in Anwesenheit Stalins am 23.August 1939 der deutsche Außenminister Joachim v. Ribbentrop und der Vorsitzende des Rates der Volkskommissare Wjatscheslaw M. Molotow in Moskau den als ‚Hitler-Stalin-Pakt’ bekannten deutsch-sowjetische Nichtangriffs-Vertrag. Der auf zehn Jahre abgeschlossene Vertrag enthielt neben dem offiziellen Vertragstext ein geheimes Zusatzprotokoll. Dieses Zusatzprotokoll regelte die Aufteilung Polens zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion.

7 WIZO [Women's International Zionist Organization], internationale zionistische Frauenorganisation wurde 1920 in London gegründet, um Frauen in Palästina eine berufliche und landwirtschaftliche Ausbildung und Kindern soziale Fürsorge zu gewährleisten