Susanne Zahradnik

Susanne Zahradnik

Susanne Zahradnik
Wien
Österreich
Interviewer: Tanja Eckstein
Datum des Interviews: Januar 2003

Susanne Zahradnik wohnt in einem alten Wiener Mietshaus, ganz in der Nähe des Gürtels. Sie erfuhr durch einen Bekannten in Prag vom Institut Centropa in Wien und stellte sich für ein Interview zur Verfügung. Sie ist eine große, jung wirkende, sehr freundliche Frau, die seit 1985, dem Tod ihres dritten Mannes, allein lebt. Frau Zahradnik hat sich auf das Interview sehr gut vorbereitet, viele Daten und Fotos herausgesucht.

Meine Familiengeschichte
Meine Kindheit
Während des Krieges
In Theresienstadt
Nach dem Krieg

Meine Familiengeschichte

Mein Name ist Susanne Zahradnik. Meine Großmutter mütterlicherseits Hermine Levray, geborene Kohn, war Jüdin, und da sie meinen Großvater Gustav Levray liebte, wollte sie ihn heiraten und konvertierte zum Christentum. Meine Mutter heiratete meinen Vater Ernst Adler, einen Juden aus Preßburg. Wir lebten in Preßburg und waren eine glückliche Familie. Komischerweise immer, wenn ich an die glücklichen Zeiten denke, muß ich weinen.

Mein Urgroßvater väterlicherseits, David Adler, wurde 1812 geboren. Er war akademischer Graveur, Medailleur und Bildhauer und kam 1847 aus Dunaszerdahely, das war ein kleiner Ort in der Mittelslowakei, nach Bratislava. Im Jahre 1848 gründete er in Bratislava, in der Venturgasse 15, seinen wirklich namhaften Betrieb. Er war sehr angesehen und beeinflußte viele Jahre das künstlerische Treiben in Bratislava. In seiner Todesanzeige aus dem Jahre 1884 steht: Todesfall. Heute Morgens 7 Uhr starb nach langem schmerzhaftem Leiden der akademische Graveur D. Adler im 72. Lebensjahre. Der Verstorbene war in seinem Fache einer der geschicktesten und gesuchtesten Geschäftsleute in Pressburg und erfreute sich infolge seines tadellosen Charakters der allgemeinen Achtung.

Nach seinem Tod im Jahre 1884 übernahm mein Großvater Eduard Adler den Betrieb. Der Großvater hatte drei Schwestern und einen Bruder.
Seine Schwester Betty Adler heiratete einen Herrn Spielmann.

Seine Schwester Mathilde Adler heiratete Leo Fisch. Sie lebten in Pressburg und Leo Fisch arbeitete als Vertreter. Diese Familie war sehr religiös. Sie hatten eine Tochter Rosa, die lebte in Brünn und hatte zwei Kinder: Desider und Elisabeth. Desider hatte eine Tochter Eva, die in England lebt. Elisabeth hatte einen Sohn Stefan, der in der Schweiz überlebte und einen Sohn Peter, der in Basel lebt. Die andere Tochter hieß Irene, lebte in Prag und war mit Dr. Peter Wertheimer verheiratet. Sie hatten zwei wunderschöne Töchter, Judith und Hanni. Sehr viele aus dieser Familie wurden ermordet: Mathilde, Leo, Rosa, Desider, Elisabeth, Irene, Dr. Peter Wertheimer, Judith und Hanni.

Seine Schwester Julie Adler heiratete einen Herrn Obernbreit. Sie hatten zwei Söhne, Peter und Georg.

Sein Bruder Heinrich Adler war Arzt in Wien, der Sohn Friedrich Adler war Stadthauptmann in Wien. Bei meinem Onkel Fritz, so wurde er genannt, übernachteten wir manchmal, wenn wir uns einige Tage in Wien aufhielten. Ich kann mich erinnern, wir gingen in Wien in die Oper, aber meist waren es reine Familienbesuche. Friedrichs Sohn hieß Robert Adler. Er emigrierte in die USA und lebt dort 92jährig als Robert Attler.

Mein Großvater Eduard Adler wurde um das Jahr 1860 in Pressburg geboren. Er heiratete am 13. November 1887 im Tempel der Israelitischen Religionsgemeinde in der Kisfaludgasse meine Großmutter Etelka Ehrenwald, Tochter des Bauholzhändlers Ehrenwald. Etelka Ehrenwald wurde 1868 in Bratislava geboren. Sie starb im Kindbett, als mein Vater, Ernst Adler, am 28.8.1888 in Pressburg geboren wurde. Das war neun Monate nach ihrer Hochzeit, mein Vater muß in der Hochzeitsnacht gezeugt worden sein.
Mein Großvater heiratete nach dem Tod seiner Frau deren Schwester Gisela Ehrenwald. Etelka und Gisela hatte einen Bruder der Hermann Ehrenwald hieß. Er hatte drei Söhne, Josef, Ludwig, und Fritz.

Ludwig Ehrenwald besaß eine Holzhandlung und hatte einen Sohn Ferry. Ferry Ehrenwald war mit Anna, einer Christin, verheiratet. Er wurde 1944 deportiert, obwohl die Mischehen geschützt waren. Er ist nie zurück gekommen. Sein Sohn Paul Ehrenwald wurde 1935 geboren. Er hat den Krieg überlebt und lebt in Bratislava.

Fritz war nie verheiratet, lebte in Fiume, damals Italien, heute heißt die Stadt Rijeka und gehört zu Kroatien. Ich weiß nur, daß sie ein sehr schönes Familienleben hatten. Sie wohnten in Bratislava, in der Bozena Nemcova Straße, in der Villa Gisela. Das Haus existiert heute noch in gutem Zustand.

Josef Ehrenwald war Baumeister und magyarisierte seinen Namen. Er hieß dann Josef Erdely. Er heiratete seine Nichte Rosa Adler, die Schwester meines Vaters.
Ob mein Großvater das Haus für seine Frau Gisela bauen ließ und es deshalb diesen Namen trägt, das weiß ich nicht, aber ich weiß, das es das Haus noch immer gibt.

Angeblich kam mein Großvater künstlerisch an den Urgroßvater nicht heran. Meine Großeltern habe ich leider nicht kennengelernt, mein Großvater starb 1920, in dem Jahr, in dem ich geboren wurde und die Großmutter starb schon viel früher.

Mein Vater hatte drei Stiefschwestern, Rosa, Margit und Elsa.

An die Tante Elsa Vas, geborene Adler, kann ich mich nicht mehr erinnern. Sie war sehr krank, litt an Depressionen, und ich glaube, als ich acht Jahre alt war, starb sie. Sie war verheiratet mit Fredy Vas, die Ehe war kinderlos. Sie war Hausfrau und ihr Mann war Kabarettist in Wien am Naschmarkt. Tante Elsa starb 1928 in Purkersdorf, Onkel Fredy starb Anfang der 30er Jahre.

Die Tante Rosa wurde 1896 in Pressburg geboren. Sie heiratete ihren Onkel, den Baumeister Josef Erdely. Sie hatten zwei Töchter, Maria und Anna. Meine Tante Rosa war Hausfrau und starb 1942 in Pressburg, wahrscheinlich an Darmkrebs. Der Onkel Josef wurde im Winter 1944 deportiert und ermordet. Maria und Anna flüchteten nach Ungarn und arbeiteten dort zuerst als Gärtnerinnen. Dann mußten sie in ein Lager, überlebten aber beide den Holocaust. Maria heiratete Franz Kurzmann. Sie bekamen eine Tochter Elisabeth und lebten in Wien. Sie ließ sich in den 50er Jahren scheiden und heiratete 1958 Victor Varga. Beide leben in Wien. Anna studierte nach dem Krieg in Prag Chemie, wurde Ingenieur und heiratete Herrn Feigenbaum, der seinen Namen später in Fabry änderte. Sie starb 1998 in Prag an Krebs.

Die Tante Margit Adler war zweimal verheiratet. Ihr erster Mann hieß Friedrich Schwitzer und ihr zweiter Mann Eugen Keßler. Sie hatten keine Kinder und lebten in Budapest. Eugen Keßler war Hautarzt, er starb 1936. Tante Margit war Kosmetikerin und starb 1976.

Meine Großeltern mütterlicherseits hießen Levray, der Urgroßvater kam aus Frankreich. Mein Großvater Gustav wurde am 26.7.1854 in Windisch-Feistritz geboren. Windisch-Feistritz war damals Österreich, denn mein französischer Urgroßvater Auguste Levray war Offizier und wurde immer versetzt.

Den Großvater Gustav Martin Levray kannte ich nicht mehr, er starb am 7.3.1920 in Pressburg, da war meine Mutter hochschwanger und das war schrecklich, denn sie hat ihn heiß geliebt. Er arbeitete als Stationsvorsteher bei der Bahn. Er hatte zwei Schwestern, Emma und Angelika. Angelika starb in jungen Jahren. Emma lebte in Graz und starb in Amsterdam.

Meine Mutter erzählte, daß ihr Vater nicht erlaubte, daß sie und ihre Schwester Französisch lernen, weil er glaubte, es sei zuviel für die armen Kinder, Ungarisch in der Schule und Deutsch zu Hause mit der Mutter. Meine Mutter ärgerte sich später darüber, sie hätte gern auch noch Französisch gekonnt. Mein Großvater war perfekt im Französischen, denn es gab Briefe von ihm, geschrieben in französischer Sprache. Ich weiß, daß er einmal zu Fuß von Innsbruck nach Wien ging. Das hat mich sehr beeindruckt. Kleine Strecken fuhr er mit der Bahn, aber die größte Strecke legte er zu Fuß zurück. Zu der Zeit war er noch nicht verheiratete. Geheiratet haben meine Großeltern in Pressburg in der Dreifaltigkeitskirche.

Meine Großmutter hieß Hermine, war eine geborene Kohn und wurde am 24.8.1877 in Wien geboren. Sie ließ hat sich ihrem zukünftigen Mann zu Liebe taufen, weil der Großvater Levray kein Jude war. Die Großmutter hatte zwei Brüder und drei Schwestern, die waren alle jüdisch.

Den Onkel Albert Kohn habe ich gekannt. Wir haben ihn oft in Wien besucht und bei ihm im 2. Bezirk in der Unteren Donaustraße gewohnt. Er hatte zwei Töchter Käthe und Friederike, die ungefähr 10 bis 15 Jahre älter waren als meine Schwester und ich. Onkel Albert war Witwer, die Töchter emigrierten in die USA, wo sie irgendwann starben. Was aus Onkel Albert wurde, weiß ich nicht.

Den Onkel Moritz Kohn, den habe ich nicht gekannt, ich weiß nur, daß er in Wien Schauspieler war. Ich weiß nicht, in welchem Theater er gespielt hat. Er ist sehr jung gestorben.

Die Tante Charlotte Kohn hatte einen Herrn Kommen geheiratet. Sie war oft in Pressburg. Sie wurde in Auschwitz ermordet [Anmerkung: Charlotte Kommen geb.13.5.1864, deportiert am 12.3.1941 von Wien nach Lagow-Opatow, DÖW. Namentliche Erfassung der Holocaustopfer].

Tante Amalie Kohn war verheiratet mit Herrn Link. Herr Link war Christ, sie hatten einen Sohn Viktor, der in Brünn lebte. Tante Amalie war durch ihren Mann geschützt. Viktor zog nach dem Krieg nach Villach, seine Tochter lebt in Tübingen.

Die Tante Regine lebte in Basel, deren Tochter hieß Käthe, die kannte ich nicht.

Meine Mutter hieß Katharina Adler, geborene Levray und wurde am 2.5.1895 in Köbölkut geboren. Sie besuchte die Handelsschule und arbeitete vor ihrer Heirat mit meinem Vater in einer Bank. Ihre Muttersprache war Deutsch.

Eine Schwester meiner Mutter hieß Wilma und wurde am 4.6.1894 geboren. Sie war Beamtin in einer Molkerei und heiratete Kalman Varady, der von Geburt Jude war, aber zum Katholizismus übertrat. Sie hatten einen Sohn Georg. Sie überlebten den Krieg in Budapest, Georg wurde Bankbeamter und Tante Wilma starb am 5.6.1976.

Meine Mutter ging mit meiner Tante Rosa Adler, der Schwester meines Vaters, zusammen in die Handelsakademie, sie waren beste Freundinnen. Sie arbeiteten nach der Handelsakademie sogar zusammen in einer Bank. Dadurch war meine Mutter sehr oft im Adler-Haus eingeladen und lernte dort meinen Vater kennen. Das war eine große Liebe! Sie musizierten zusammen, mein Vater spielte Geige, meine Mutter spielte Klavier. Bei einer Arie von Bizet hat meine Mutter sich in meinen Vater verliebt. Sie heirateten am 24.5.1918 in Pressburg.

Meine Kindheit

Ich wurde am 16.5.1920 geboren und meine Schwester Dr. Martha Kralowa, geborene Adler, am 28.8.1921. Wir wurden nicht getauft, das hat meine Mutter nicht erlaubt, weil mein Vater Jude war und die Mutter meiner Mutter eine getaufte Jüdin war.
Wir wohnten mit der Tante Rosa, ihrem Mann Josef und den Töchtern Maria und Anna in einem Haus zusammen. Wir vier Mädchen wuchsen zusammen auf. Zuerst wohnten wir in der Bozena Nemcova Straße und 1928 übersiedelten wir in eine Villa, die mein Onkel, der Baumeister Josef Erderly gebaut hatte. Unsere Familie wohnte im ersten Stock und die Tante, der Onkel und unsere Cousinen wohnten im zweiten Stock. Wir waren immer zusammen, wir waren eine große Familie. Das Haus hatte einen großen Garten und wir feierten alle Feste zusammen. Bei uns gab es jede Woche Hausmusik. Es wurde , jeden Samstag Quartett gespielt. Meine Schwester war gerade 14 Jahre alt, da konnte sie schon die "Kleine Nachtmusik" spielen. Auch ich bekam Klavierunterricht, gab dann aber auf, weil ich sah, daß meine Schwester sehr begabt war und ich nicht.

Ich kann mich erinnern, daß wir uns einmal am Versöhnungstag [Anmerkung: Yom Kippur] im Garten zurückhalten mußten, um keine Nüsse zu essen, denn da mußten wir fasten. Nach Sonnenuntergang gab es immer ein großes Abendessen mit Gans und Fächertorte, die mit Marmelade, Apfelmuß, Nuß und Mohn zubereitet wurde.
Pesach haben wir allein gefeiert. Meine Mutter hat das sehr schön gemacht.

Meine Eltern waren sehr ernste Menschen, sie waren nicht sehr fröhlich. Sie haben sehr viel gesungen und es gab sehr viel Musik in unserem Haus, aber sie waren ernste Menschen. Wir wurden aber überhaupt nicht streng erzogen. Mein Vater war ein hundertprozentiger Freigeist. Er las und schrieb viel, zum Beispiel für die Pressburger Zeitungen Musikkritiken. Die Musik war sehr wichtig für ihn. Wir gingen oft in die Oper und nach der Aufführung sprach man darüber. Wir hatten ein wunderschönes zu Hause.

Die Großmutter war ganz anders. Sie war immer fröhlich, brachte uns manchmal harmlose zweideutige Lieder bei, sang viel Operetten, die es bei uns zu Hause nicht zu hören gab, weil mein Vater nur die klassische Musik liebte. Gern spielte mein Vater mit uns das Lexikon Spiel, er schlug das Lexikon auf und sagte: "Hier sehe ich Giuseppe Verdi, was hat er komponiert?" Unsere musikalische Bildung war sehr wichtig für ihn, und ich sehe heute, wie wichtig das auch jetzt noch für uns ist.

Wir hatten sehr viel Personal, meinen Eltern ging es sehr gut. Mein Vater hatte einen sehr guten Ruf als Graveur, er war auch in Ungarn bekannt. Die Familie Esterhazy [Anmerkung: Ungarische Adelsfamilie] ließ 24 Gläser und Pokale mit ihrem Familienwappen von meinem Vater gravieren. Das hat natürlich viel Geld eingebracht.. Es war ein kleines Geschäft und hinter dem Geschäft befand sich die Werkstatt. Er hatte zwei Angestellte, aber graviert hat nur er. Er hat aber auch Stampiglien [Stempel] gehabt.

Meine Schwester und ich gingen in die evangelische Volksschule und in den jüdischen Religionsunterricht.
Später besuchten wir das deutsche Staatsrealgymnasium und auch dort bekamen wir jüdischen Religionsunterricht. Im Gymnasium waren wir dreizehn jüdische Kinder in der Klasse. Antisemitismus lernte ich in dieser Zeit überhaupt nicht kennen. 1936 traten wir dem jüdischen Sportverein "Bar Kochba" bei. Dieser Sportverein wurde 1897 gegründet und war jüdisch-national. Meine Schwester und ich waren im Schwimmverein, aber wir haben dort auch Lieder gelernt. Einige Jugendliche sagten, sie wollten nach Palästina, aber Zionismus war nicht vordergründig im Verein. Meine Schwester besitzt ihr Schwimmtrikot noch heute. Im Jahre 1937 oder 1938 gewann "Bar Kochba" die Schwimmeisterschaften in der Tschechoslowakei.
Ich maturierte im Jahre 1938. Mit einigen meiner Klassenkameraden, jüdischen und christlichen treffe ich mich noch ein Mal in Monat.

Während des Krieges

1939 warf man uns eine Petarde, das ist eine kleine Knallbombe, in den Keller. Da sagte mein Vater: "Kinder, ihr müßt weg, aber Mama und ich bleiben hier." Meine Schwester hatte Glück, sie bewarb sich als Krankenschwester in England und bekam die Einreise. Sie emigrierte am 28. August 1939, das ist ihr Geburtstag.

Ich wollte keine Krankenschwester sein, aber vielleicht mit Kindern arbeiten. Das wurde abgelehnt, also blieb ich in Pressburg. Damals hatten meine Schwester und ich nicht ein so enges Verhältnis zueinander, aber jetzt hat sich das verändert. Jetzt haben wir nur noch uns zwei und eine Cousine. Sonst haben wir eigentlich niemanden mehr.
Ich blieb mit den Eltern, der Tante Rosa, meinen Cousinen Maria und Anna Erdely und der Großmutter Hermine in der Villa in Pressburg.

Die Familie meines Vaters mußte auf alle Fälle weg. Wir hätten noch bleiben können, weil ein Teil des Hauses auf den Namen meiner Mutter geschrieben war. Dann wurde unsere Villa arisiert, und die Deutsche Luftwacht zog ein.

Wir zogen in eine Wohnung um. Auf der Universität besuchte ich einen Kurs für praktisches Französisch, legte eine Prüfung ab, danach besuchte ich einen Nähkurs, dann einen Konditoreikurs. Ich dachte, ich könnte das brauchen, Bonbons und kleine Bäckereien herstellen.

Ich glaube meine Eltern hatten keine Angst, sie sahen die Gefahr nicht. Mein Vater baute 1937 ein Haus und sagte, daran kann ich mich genau erinnern: "So, jetzt habe ich für meine Enkelkinder ausgesorgt", wie in dem Buch von Stefan Zweig "Die Welt von Gestern", da kommen fast die gleichen Worte vor.

Im Jahre 1941 durften Juden nicht mehr in Pressburg leben, sie mußten in Kleinstädte übersiedeln. Wir zogen nach Nove Mesto nad Vahom. Unsere Großmutter blieb in Pressburg, sie hatte eine kleine hübsche Wohnung in dem neu gebauten Haus meines Vaters, und sie hat geglaubt, sie ist getauft, ihr kann nichts passieren. Dann wunderte sie sich, als die Gestapo kam und sie abholte, meine arme Großmutter.
In Nove Mesto nad Vahom hatten wir eine kleine Wohnung, Zimmer, Küche und Badezimmer zur Untermiete.
Die Tante Rosa mit ihrem Mann und den zwei Töchtern hatten auch in Nove Mesto nad Vahom eine Untermietwohnung.

Ich wollte eigentlich überhaupt nicht arbeiten, aber ich gab dann doch Volksschulkindern Deutschunterricht. Freunde redeten mir ein, ich solle mich taufen lassen, das würde mir helfen, also ließ ich mich taufen.
In Nove Mesto nad Vahom lernte ich meinen ersten Mann kennen. Er war ein slowakischer getaufter Jude und hieß Jan Tauber. Seine Mutter war eine sehr bekannte Gesellschaftsdame meine Mutter spielte bei ihr Bridge. Wir lebten zu dieser Zeit mehr oder weniger normal.

Schlimm wurde es, als im März 1942 die ersten Mädchentransporte nach Auschwitz weggingen. Wir dachten, die Mädchen würden in Polen arbeiten. Natürlich hörte man dann wenig von ihnen. Wir waren völlig ahnungslos und völlig naiv, obwohl eine alte Tante, eine Schwester meines Großvaters, bereits vor 1942 nach Polen deportiert wurde. Sie schrieb uns noch und wir schickten ihr Lebensmittel. Mein Gott, sie war damals schon 75 oder 78 Jahre alt, wir haben nichts mehr von ihr gehört.

In Nove Mesto nad Vahom mußte ich den gelben Stern tragen und hielt beim Gehen immer meine Tasche so vor den gelben Stern, daß er verdeckt war. Ein slowakischer Nazi brüllte mich einmal an, ich solle die Tasche sofort herunter nehmen. Als ich nach Hause kam, hatte ich Fieber und bekam Diphtherie. Wahrscheinlich war das mein Glück, weil ich nicht mehr ausgehen konnte. Und dann wurde ich notgetauft.

Meine Eltern blieben in Nove Mesto nad Vahom, ich heiratete Jan Tauber, den ich dort kennen gelernt hatte und zog mit ihm nach Pressburg in eine Untermietwohnung. Er rückte sogar in die slowakische Armee ein, denn er hatte ein Dokument, das besagte, er sei ein Mischling. Ein Christ hatte geschworen, daß er sein Vater sei. Es gab brave Menschen, denn schließlich und endlich war Nove Mesto nad Vahom ein kleiner Ort und man redete darüber. Dadurch hatte mein Mann einen offiziellen Mischlingsausweis. Und mit Geld und guten Worten habe ich dann auch einen Mischlingsausweis bekommen. Letzten Endes hat mir der Ausweis aber nicht viel genützt.

So langsam bekam ich Angst. Ich besorgte mir falsche Papiere unter dem Namen Maria Luzova und wurde Kindermädchen bei einem sehr bekannten Arzt. Zu diesem Arzt kam sogar der Innenminister Sano Mach zu Besuch. Das war schrecklich für mich, aber ich wurde nach ½ Jahr gekündigt. Dann besorgte ich mir einen anderen Ausweis auf den Namen Eva Gallova. Eines Nachts, das war 1944, kam die Gestapo in unsere Wohnung. Ich war bis zum Hals zugedeckt und habe schrecklich gezittert. Aber der Ausweis war gut und sie sind wieder weg gegangen.
Einmal sah ich eine alte Schulkollegin auf der Straße, da bin ich auf die andere Seite. Ich hatte gefärbte Haare, meine Haare waren ursprünglich rot und ich hatte sie dunkelbraun gefärbt, man erkannte mich nicht sofort.

1944 war der slowakische Partisanen-Aufstand und da wurde keine Mischehe und auch keine Mischlinge mehr geschont. Der Onkel Josef Erderly war Baumeister und zuerst geschützt, weil er wirtschaftlich wichtig war. Aber 1944 wurde auch er deportiert und ermordet.

1945 wurden wir alle zur Gestapo in Bratislava gebracht: Meine Eltern, meine Großmutter und ich. Mein Mann wurde viel später verhaftet, der war ihnen entwischt. Zu mir haben sie gesagt: "Was? Sie wollen mir einreden, daß Sie keine Jüdin sind?" Ich hatte gesagt, mein Großvater sei Christ. Ich hörte, wie sie meine Mutter fragten, wo ich sei. Sie wußte nicht, daß sie mich auch schon gefangen hatten und sie wollte es ihnen natürlich nicht sagen, da haben sie meine Mutter geschlagen. Als ich meinen Vater sah, hätte ich ihn fast nicht erkannt, er trug einen Schnurrbart und bildete sich ein, man würde dadurch nicht erkennen, daß er Jude sei. Blöd waren wir, man kann sich gar nicht vorstellen, wie blöd wir waren.

In Theresienstadt

Sie brachten uns alle nach Sered, da war ein Konzentrationslager, da mußten wir schwer arbeiten. Dort waren wir vielleicht vier Wochen und dann wurden wir nach Theresienstadt deportiert. In Theresienstadt waren wir die letzten 2½ Monate vor der Befreiung. Zu dieser Zeit wurden keine Gefangenen mehr aus Theresienstadt nach Auschwitz deportiert und vergast. Es kamen Leute vom Roten Kreuz und haben das Lager kontrolliert. Ich hatte Glück, ich wurde Kinderbetreuerin, wir hatten sogar Leintücher. Ich habe erst nach der Befreiung von den Deportationen, über das KZ Auschwitz und die Ermordung der Juden erfahren.

Wir hatten uns sogar eingebildet, Theresienstadt sei gar nicht so schlimm gewesen. Die Russen haben uns befreit. Sie waren sehr lieb und haben uns Zuckerln [Anm. Bonbons] hingeworfen. Und dann kamen die Transporte mit den halb verhungerten Menschen aus den KZs, das war fürchterlich. Es waren Ungarn, Deutsche, Tschechoslowaken, ganz gemischt. Sie haben fast nichts erzählt, sie waren fast keine Menschen mehr. Sie wurden in Theresienstadt erst einmal betreut. Man hat uns gesagt: "Werft ihnen kein Brot zu, sie werden sich gegenseitig töten, um das Brot zu bekommen."

Meine Schwester war in England und hatte keine Nachricht von uns. Sie arbeitete als Krankenschwester und meldete sich freiwillig nach Theresienstadt, obwohl dort Flecktyphus war. Sie hatte keine Ahnung, daß wir dort waren. Sie wollte nur nach Hause und uns suchen. Wir waren aber zu dieser Zeit schon nicht mehr in Theresienstadt, wir waren schon befreit.
Meine Schwester Martha betreute in Theresienstadt all diese traurigen Gestalten. Ich sage immer, mit dem ersten Flugzeug ist der Benesch gekommen, der ehemalige Präsident der Tschechoslowakei, mit dem zweiten Flugzeug ist die Martha gekommen.
1948 kam der Kommunismus und meine Ehe mit Jan Tauber ging auseinander. Allerdings muß ich sagen, daß diese Ehe vorher auch schon nicht gut war.

Meine Schwester und meine Eltern verkauften die Villa und wohnten mit meiner Schwester in dem Zinshaus, das mein Vater 1937 für "seine Enkel" gebaut hatte. Mein Vater bekam seine Werkstatt nicht zurück, auch keine Wiedergutmachung. Er arbeitete noch einige Jahre mit anderen Graveuren in einer Werkstatt, und meine Eltern versuchten ein normales Leben zu leben. Sie fuhren in den Urlaub zum Beispiel 1948 nach Luhacovice in Mähren. Meine Großmutter Hermine Levray, geborene Kohn, starb im Jahre 1947 in Bratislava. Meine Schwester studierte in Bratislava Psychologie und arbeitete als Psychologin.

Ich trat nach dem Krieg aus der katholischen Religion aus.

Nach dem Krieg

Mein geschiedener Mann Jan Tauber hatte einen Freund in Guatemala, der ihm ein Visum verschaffte. Er wollte nicht in der Tschechoslowakei bleiben, weil er ein großes Mundwerk hatte und gegen den Kommunismus war, da hätte man ihn eingesperrt. Er sagte, wenn er in Guatemala sei, solle ich zu ihm kommen. Aber man gab mir keinen Paß. Ein lieber Advokat, den wir sehr gut kannten sagte: "Da gibt es nur eines. Du läßt Dich scheiden und heiratest irgend einen Ausländer." Das habe ich dann auch getan. Ich heiratete pro forma einen Holländer, das mußte man bezahlen und außerdem mußte man unterschreiben, daß, wenn man in Holland sei, sich nach drei Jahren wieder scheiden lasse. Das war 1948. Ich arbeitete zwei Jahre in Holland als Dienstmädchen. Im dritten Jahr war ich schon Wirtschafterin, habe holländisch gesprochen und war schon wieder geschieden.

Mein Mann bombardierte mich mit Briefen. Ich solle nach Guatemala kommen, er hätte sich geändert und er liebe mich. Ich ließ mich überreden und fuhr 1952 nach Guatemala, leider!

Er war dort mit einer Einheimischen liiert und die sagten, wenn er sie nicht heiratet, müsse er das Land verlassen. Ich begann in einer österreichischen Import-Export-Firma zu arbeiten. Ich lernte ganz schnell aus einem Handelsbuch Englisch - Französisch und war dort für die Korrespondenz zuständig. Dann besuchte ich einen Kurs auf der Universität als Bibliothekarin, damit ich die Aufenthaltsbewilligung bekäme.

Nach einigen Jahren lernte ich meinen zweiten Mann, Gilbert Letellier kennen. Er war aus Frankreich und in Orleans geboren. Ich fiel auf ihn rein, weil er so gebildet war, ich mag gebildete, höfliche Menschen sehr. Eigentlich war er Journalist und ich weiß nicht, warum er in Guatemala lebte. Er hatte eine kleine Farm gekauft, wieder verkauft und zu meiner Zeit war er Gutsinspektor. Acht Jahre waren wir in Guatemala zusammen. 1962 flog ich von Guatemala nach Wien und ließ mich scheiden. Meine Cousine Maria, die in Wien lebt, sagte: "Du wirst doch nicht nach Bratislava in den Kommunismus gehen, bleib' lieber hier." Mein Mann blieb in Guatemala und ich habe mir hier von ihm scheiden lassen.

Zuerst bekam ich eine Stelle als Sekretärin und dann als Directrice in einer Pension. Die Eigentümer der Pension waren Juden, dort blieb ich 16 Jahre, die Arbeit hat mir sehr gut gefallen. Da habe ich natürlich auch vieles neu lernen müssen, ich hatte keine Ahnung von Lohnverrechnung und solchen Sachen.

In Wien habe ich keinen Freundeskreis, ich habe meinen Freundeskreis eher in Bratislava. Das sind hauptsächlich Juden, die ich noch vor dem Krieg kannte, aber auch später kennengelernt habe.

Eine Bekannte war auch in Theresienstadt, Steiner heißt sie, sie besitzt in Bratislava ein sehr großes und gutes Bücherantiquariat. Sie kam aus Theresienstadt 1945 nach Pressburg zurück und alle ihre Verwandten waren ermordet, die Brüder, die Eltern, sie hat niemanden mehr gehabt. Jetzt hat sie sich an meine Schwester angeschlossen und sie sind sehr befreundet. Mein dritter Mann, Otto Zahradnik, wurde 1914 in Wien geboren. Nur mein erster Mann war jüdisch. Otto Zahradnik studierte Philosophie und Naturwissenschaften und arbeitete als Mittelschulprofessor für Naturwissenschaften. Er hatte ein Faible für Botanik und das hatte ich auch, das ist mein Hobby.

Durch mein Leben spreche ich sieben Sprachen, Französisch, Slovakisch, Ungarisch, Holländisch, Spanisch und Englisch.

Ich besitze eine Sammlung Blumenbriefmarken. Früher hatte ich den Haushalt, ich habe gekocht, gewaschen, gebügelt und sogar gebastelt und gemalt, jetzt bin ich faul.

Im Jahre 1983 trafen sich auf Initiative von Herr Weinmann aus Wien, einem ehemaligen Mitglied des Vereins "Bar Kochba" 125 ehemalige Mitglieder diese Sportvereins, die in aller Welt verstreut leben. Herr Weinmann gab dann eine Zeitschrift heraus und 1994 sagte er: "Jetzt habe ich das schon so lange gemacht, ich habe genug, ich bin müde und ich bin krank." Da sagten meine Schwester, die in Bratislava wohnt, sie ist geschieden und lebt auch allein, und ich, das kann man nicht aufgeben, das muß weitergemacht werden, weil wir ehemaligen Mitglieder in Verbindung bleiben müssen. Und so machen wir das seit 1994, alle drei Monate stellen wir eine Zeitschrift her. Unlängst hatten wir 25jähriges Jubiläum, wir haben schon 25 Zeitschriften herausgebracht. Meine Schwester und ich sind sehr viel zusammen, ich besuche sie in Bratislava, oder sie besucht mich in Wien

Die ehemaligen Mitglieder von "Bar Kochba" treffen sich alle zwei, drei Monate. Die vorletzten zwei Jahre trafen wir uns in Israel, in Shavei Zion, das ist in der Nähe von Akko, und es war dort sehr schön. Zu den letzten Treffen kamen ungefähr 30 Leute . Es sind jetzt noch insgesamt 65 Personen in 14 Länder und fünf Kontinenten. Aber das letzte Mal, im Juli 2002, haben wir uns in Trencianske Teplice, das ist ein sehr hübscher Badeort getroffen, leider waren wir nur vierzehn Leute. Die aus Amerika und Kanada haben sich nicht in ein Flugzeug getraut. Es kamen vier aus Israel, einer aus England, und eine aus der Schweiz und die anderen aus Tschechien und der Slowakei.

Ich war schon vier Mal in Israel. Ich habe dort sehr gute Freunde und fühle mich in Israel sehr gut. In Israel, in Ramat Hasharon, lebt auch mein Jugendfreund Fritz Steiner, den hätte ich heiraten sollen, da ist der Hitler dazwischen gekommen. Er ist jetzt schon 84 Jahre alt. Fritz Steiner war mit seiner Frau und mit seinem Sohn auch schon einige Male in Wien. Dem Sohn habe ich das erste Mal Wien gezeigt, da war er 17 Jahre alt, und da hat er immer gefragt: "Was ist das für ein Palais?" Und da habe ich gesagt: "Das ist kein Palais, das ist ein ganz gewöhnliches Bürgerhaus."

Wir schicken unsere Zeitung nach Tel Aviv, nach München, nach Florida und nach Schweden. Und wenn wir uns treffen, nennen wir das die "Bar Kochbiaden". Und dann gibt es die Mini-Bar-Kochbiaden und die Mini-Mini-Bar Kochbiaden. Vor zwei Wochen traf ich eine Münchnerin, das ist schon eine Mini-Mini-Bar Kochbiade.

Wir haben sie alle zusammen gebracht und sie loben uns sehr und sagen, ohne die "Bar Kochbiaden" würden wir auseinander fallen. Wir sind im ständigen Kontakt miteinander, aus Los Angeles ruft oft einer an, aus Nahariya ruft mich einer fast täglich an, Herr Weinmann, der mit der Zeitschrift begonnen hatte, ruft mich auch fast jeden Tag an. So ist man nicht allein, das sind richtige Freundschaften.