Hanny Hieger

Hanny Hieger

Hanny Hieger
Wien
Österreich
Interviewer: Tanja Eckstein
Datum des Interviews: Oktober 2002

Hanni Hieger empfängt mich in ihrer in altrosa gehaltenen hübschen kleinen Wohnung im 14. Bezirk. Sie ist sehr gepflegt und bietet mir nach kurzer Unterhaltung das Du an. Wir unterhalten uns so intensiv über Politik und Kultur, Österreicher und Deutsche, daß ich gar nicht dazu komme, mein Tonbandgerät einzuschalten und mit dem Interview zu beginnen. Sie sieht wesentlich gesünder aus als sie ist, sie hat eine Bypassoperation hinter sich und sie hat gesundheitliche Probleme. Beim zweiten Besuch klappt es dann, ich bekomme mein Interview, aber es werden hoffentlich noch viele Besuche folgen. Im März 2003 stirbt ihr Bruder Fritz Spiegl in England.

Meine Familiengeschichte
Meine Kindheit
Während des Krieges
Nach dem Krieg
Glossar

Meine Familiengeschichte

Mein Urgroßvater väterlicherseits hieß Simon Spiegl. Meine Urgroßeltern müssen in Gattendorf gelebt haben. Ich habe auf dem Friedhof in Gattendorf das Grab eines Simon Spiegel gefunden, es ist durchaus möglich, daß das mein Urgroßvater ist. Die Urgroßmutter hieß Sally. Vor einigen Jahren war jemand hier, der einen Stammbaum für einen Parndorfer, der Markhauser hieß, zusammengestellt hat. Er hat den Stammbaum seiner Enkelin zur Bar Mizwah geschenkt. Er ist durch die Lande und Kontinente gefahren und hat Spuren gesucht und ist draufgekommen, daß meine Urururgroßeltern um 1700 in Gols, in Westungarn geboren wurden. Heute ist Gols ein sehr bekannter Weinort. Wahrscheinlich haben die Urgroßeltern vom Getreidehandel gelebt. Das war damals üblich, Getreidehandel und wahrscheinlich auch Pferdehandel.

Mein Großvater väterlicherseits hieß Fritz Philipp Spiegl, wurde 1848 in Gattendorf geboren, das gehörte zu dieser Zeit auch zu Westungarn. Ich besitze die Fotokopie seiner Geburtsurkunde. Später ist die Familie dann nach Zurndorf übergesiedelt. Meine Großmutter wurde in Wien geboren, hieß Johanna Spiegl und war eine geborene Tauber.

Mein Großvater hatte eine Ausbildung als Kaufmann und war Sodawasserfabrikant. Mein Vater hat sich immer damit gerühmt, daß mein Großvater in seinem ganzen Leben keinen einzigen schriftlichen Vertrag aufgesetzt hat, sondern, daß jedes Geschäft mit den Bauern mit Handschlag abgewickelt worden. Der Handschlag war so gut wie ein schriftlicher Vertrag. Meine Großvater richtete für seine acht Kinder Existenzen ein. Ich bin mir sicher, meine Großeltern haben die hohen Feiertage gefeiert, aber viel mehr weiß ich nicht. Der Großvater starb 1921 in Zurndorf. Ich bin 1923 zur Welt gekommen, ein Jahr später, als ursprünglich geplant war, denn meine Eltern hatten alles für die Hochzeit vorbereitet, aber da starb mein Großvater und meine Eltern haben das Trauerjahr berücksichtigt. Die Großmutter starb 1923.

Mein Vater hatte sieben Geschwister: Onkel Wilhelm Spiegl war Kaufmann und heiratete Felicitas Fischer. Sie hatten drei Kinder, Judith, Andreas und Margarete. Alle konnten in die USA emigrieren.

Onkel Nathan Spiegl hatte eine Fleischhauerei und heiratete Gisela Tauber, die seine Cousine war. Sie hatten zwei Kinder, Kurt und Trude. Alle vier konnten sich vor dem Holocaust in die USA retten.

Onkel Louis Spiegl war Kaufmann und heiratete Helene Wengraf. Sie hatten einen Sohn Fritz. Alle drei konnten sich vor dem Holocaust in die USA retten.

Tante Fanny, geborene Spiegl heiratete einen Herrn Barany. Sie hatten zwei Kinder, Ernst und Alice. Alle vier konnten sich in die USA retten. Tante Fanny starb an Krebs.

Tante Emma, geborene Spiegl heiratete den Kaufmann Hugo Rosenfeld. Sie hatten keine Kinder und starben vor 1938. Sie liegt auf dem jüdischen Friedhof in Gattendorf begraben. Sie ist jung gestorben, sie war vielleicht 43 oder 44 Jahre alt.

Tante Emma und Tante Josefine erbten, bevor sie heirateten, von ihrem Vater eine Gemischtwarenhandlung und das elterlichen Wohnhaus.

Tante Josefine, geborene Spiegl heiratete Max Steiner. Sie starb im Kindbett. Tante Josefine ist in Gattendorf auf dem jüdischen Friedhof begraben, die war 41, als sie an Krebs starb.

Mein Vater Rudolf Spiegl erbte von seinem Vater die Sodawasserfabrik und verkaufte außerdem landwirtschaftliche Maschinen.

Mütterlicherseits habe ich nur meinen Großvater Max Geiringer gekannt. Er wurde in Stampfen geboren, war Kaufmann und starb Ende der 20er Jahre.

Die Großmutter, Fanny, geborene Weinberger starb 1925 oder 1926, ich war noch sehr klein. Eine Geschichte wurde mir aber erzählt: Als ich 18 Monate war, hatte ich eine doppelseitige Lungenentzündung und Keuchhusten. Meine Großmutter kam, um meine Mutter zu unterstützen, weil meine Mutter mich Tag und Nacht gepflegt hat. Aber wenn meine Mutter sich mal hingelegt hat, und meine Großmutter hat meinen Kinderwagen geschoben hat, hab ich das angeblich sofort gemerkt und hab gesagt: Nicht Omama hutschen, Mama hutschen. Der Großvater hat in Wien gelebt und ist im Sommer immer zu uns ins Burgenland gekommen. Mein Bruder hat ihm einmal ein Hufeisen auf die Zehen fallen lassen, und er hat eine blaue Zehe gehabt, daran erinnere ich mich. Und ich erinnere mich genau an seine Morgentoilette: Er hatte einen aufgezwirbelten Schnurrbart und der wurde jeden Morgen mit Bartwichs gekämmt. Dann band er eine Schnurrbartbinde um, die um die Ohren gewickelt wurde und so hat er sich rasiert. Er muß auch sehr bald darauf gestorben sein. Aber ich sehe ihn noch vor mir.

Mein Vater war in dem heutigen Sopron beim Militär. Meine Mutter, Josefine Spiegl, geborene Geiringer wurde am 27.1.1890 in Wien geboren. Sie lebte in Wien und war Direktrice in der größten Seidenhandlung von Wien, dem Seidenhaus Kari am Lugeck. Da hat sie gearbeitet, bevor sie meinen Vater geheiratet hat. Wo sich meine Eltern kennengelernt haben, weiß ich nicht, aber es war keine besprochene Ehe, wie es damals üblich war, sondern sie haben sich wirklich ineinander verliebt. Meine Mutter war sehr aktiv im Brigittenauer Frauenverein. Das war eine Wohltätigkeitsorganisation, denn sie war schon als junges Mädchen sozial tätig. Auch meine beiden Tanten, die jüngeren Schwestern meiner Mutter, haben abwechselnd in der sozialistischen Leihbibliothek Dienst gemacht. Meine Mutter hatte sechs Geschwister:

Meinen Onkel Ignatz Geiringer habe ich nicht kennengelernt. Er starb als Soldat im I. Weltkrieg.

Meine Tante Elisa Geiringer habe ich nicht kennengelernt. Sie starb 1918 an der Spanischen Grippe.

Mein Onkel Willi war Fürsorgerat. Onkel Willi ist sehr früh gestorben. Im Zusammenhang mit Onkel Willi habe ich das erste Mal meine revolutionäre Gesinnung zur Schau getragen. Ich kann nicht älter als sechs Jahre gewesen sein, weil Onkel Willi starb, als ich sieben war. Wir waren wieder einmal in Wien in den Ferien, und ich wurde in den Augarten geschickt, weil es da, so wie heute, ein Kinderfreibad gab. Das war 1929/30 und war von den Sozialisten finanziert. Man mußte seine Sachen zu einem Packerl zusammen legen und mit einer Schnur umwickeln, und diese Schnur hatte eine Nummer. Und die gleiche Nummer wurde den Kindern um den Hals gehängt. Ich kam vom Baden zurück und hab mein Packerl bekommen, aber die Schuhe haben gefehlt. Ich war ganz entsetzt, daß ich ohne Schuhe mein Packerl wiedersehe. Ich hab gesagt: "Ich will meine Schuhe haben." Da hat die Angestellte gesagt: "Du bist sicher ohne Schuhe gekommen." Ich hab gesagt: "Das gibt es nicht, meine Mama läßt mich nie barfuß gehen", was ja auch gestimmt hat. Aber die hat gesagt: "Du hast keine Schuhe gehabt." Und da hab ich die Wut gekriegt und hab gesagt: "Wenn Sie mir nicht gleich meine Schuhe geben, sag ich's meinem Onkel Willi, und an diesem Baum wird er Sie aufhängen." Ich sehe mich noch ganz genau. Sie hat gesagt: "Mäderl, wer ist denn Dein Onkel? Und dann hab ich gesagt: "Mein Onkel ist der Herr Willi Geiringer, und der ist Fürsorgerat." Die Fürsorgeräte waren die heutigen Sozialarbeiter. Damals gab es große Arbeitslosigkeit und die Leute waren schrecklich arm. Onkel Willi war verheiratet mit Irma, geborene Löffler. Sie hatten vier Kinder: Alfred, Martha, Erich und Trude. Onkel Willi hatte ein Caféhaus. Und nachdem er, statt zahlende Gäste heranzuziehen, die halben Obdachlosen und armen Leute bei sich beherbergt hat, sind natürlich die Gäste weggeblieben und er hat mit diesem Caféhaus Pleite gemacht. Er hat das ganze Geld verschenkt, Obdachlosen und Bedürftigen Essen und Trinken und vor allem Wärme gegeben. Damals hat man zu Hause kaum heizen können und das Caféhaus war gut geheizt. Onkel Willi hat das wohl in erster Linie seiner armen Kundschaft wegen getan, weil er Mitleid hatte. Das Cafehaus war Ecke Rauscherstraße und Wasnergasse im 20. Bezirk. Da ist heute eine Wäscherei. Er ist 1930 Anfang 40jährig an einer Herzkrankheit gestorben. Seine vier Kinder konnte studieren, und was das damals für eine Witwe geheißen hat, vier Kinder studieren zu lassen, das war also schon allerhand. Meine Mutter hat dann Tante Irma und vor allem die zwei Neffen und zwei Nichten unterstützt. Die haben wohl gearbeitet, waren sogenannte Werkstudenten, aber sie haben trotzdem ihr Studium vorangetrieben, und meine Mutter hat das sehr unterstützt. Alfred wurde Journalist, und hat die Hilfe meiner Mutter honoriert, indem er 1938 meinen Bruder und mich nach England geholt hat. Tante Irma Geiringer, Alfred, und Erich konnten sich vor dem Holocaust nach England retten. Meine Cousinen Martha, die am 28.8.1912 geboren wurde, und Trude flüchteten nach Belgien. Martha war eine sehr begabte und kluge Frau. Sie hatte in Wien Biologie studiert und arbeitete im Vivarium 1. Sie hatte aber auch Soziologie studiert und arbeitete an vielen bedeutenden Studien mit. Nebenher machte sie Häkelarbeiten, weil sie wenig durch ihre Forschungsarbeiten verdiente. Trude flüchtete weiter nach England und Martha bekam ein berufliches Angebot von den Philippinen. Sie war schon auf den Philippinen, hatte aber eine sehr gute Freundin in Belgien zurück gelassen. Deshalb fuhr sie dann doch zurück nach Belgien, wurde dort denunziert, in das Internierungslager Malines gesperrt, am 15.1.1943 nach Auschwitz deportiert und ermordet.

Vor ein paar Monaten kam die jüngere Tochter meines Cousins Alfred, Susan, also eine richtige zweite Cousine, nach Wien. Sie hat nach dem Tod ihres Vaters erfahren, daß er in Wien Verwandte hat. Er hat sowohl seine jüdische Herkunft wie auch seine Wiener Herkunft vor seinen Kindern geheim gehalten. Er hatte eine Engländerin geheiratet, die hieß Margret und war die Tochter eines sehr bekannten liberalen Zeitungsmannes. Alfred selbst wurde auch Journalist und hatte einen guten Posten bei der Nachrichtenagentur Reuter. Er hat ein Stipendium ausgeschrieben, hatte eine Stiftung ins Leben gerufen für junge österreichischen Journalisten, damit sie ein Jahr in Oxford studieren können. Dieses Stipendium wurde von der APA ausgeschrieben und trägt seinen Namen, das "Alfred Geiringer Stipendium". Das zeigt, daß er trotz Verleugnung seiner Herkunft doch eine gewisse Bindung zu Wien hatte.

Alfreds Bruder Erich Geiringer hat Medizin studiert, ist nach Neuseeland und hat dort weiter studiert. Ich glaub, er war dreifacher Doktor. Er hat eine Ärztin geheiratet, eine Gynäkologin, und hat dort als Arzt gearbeitet, war furchtbar verfemt und verrufen, weil er in diesem viktorianischen Ambiente das Wort "Sexualität" in den Mund genommen hat und im Radio Vorträge über Sexualität gehalten hat. Und das war dieser Gesellschaft in Neuseeland einfach zuviel. Aber er war sehr bekannt, und als ich in Neuseeland war, von Wellington nach Auckland gefahren bin, hat mich der Buschauffeur gefragt: "Was macht eine Österreicherin in Wellington?" Und da hab ich gesagt: "Ich hab meinen Cousin besucht." Hat er gesagt: "Den Erich Geiringer?" Also er war bekannt wie ein bunter Hund. Als er starb, hat er einen Teil seiner Asche in Wellington ausstreuen lassen, einen Teil in Schottland, wo er Medizin studiert hat und einen Teil im Augarten in Wien. Und das zeigt diese ambivalente Haltung vieler Emigranten.

Onkel Josef Geiringer war Bankier und heiratete Paula Klein. Sie hatten ein Tochter, Alice, Lizzi genannt. Alice emigrierte mit einem illegalen Transport über Budapest mit einem Schiff nach Palästina. Dort war sie in der englischen Armee und war auch in Alexandria stationiert, wo sie ihren Mann, einen Engländer kennenlernte. Mit ihm ging sie nach dem Krieg nach England, wo sie noch heute leben. Mit Alice, die sechs Wochen älter als ich war, verband mich eine enge Freundschaft. Ich lebte auch einige Zeit bei ihr und ihren Eltern und wir bekamen immer gleichzeitig neue Mäntel, Kostüme oder Kleider. Am 12. März 1938 sollte unsere erste Tanzstunde in der Tanzschule in der Werdertorgasse sein. Die hat Hitler mit seinem Einmarsch nach Österreich vereitelt. Onkel Josef und Tante Paula flüchteten nach Shanghai.

Meine Tante Katharina Geiringer emigrierte nach England. Sie hat bei meinem Bruder und mir während der Emigrationszeit die Mutterstelle übernommen. 1941 lebte ich mit ihr in einem Zimmer in einem Heim für politische Flüchtlinge. Ein halbes Jahr lebte ich mit Tante Kitty in einem Zimmer in diesem Heim und wir waren dort als Putzfrauen angestellt. Tante Kitty heiratete nach dem Krieg Fritz Gutter. Meine Tante Else Geiringer heiratete Leo Schulzer, der am 16.9.1892 geboren wurde. Sie hatten keine Kinder. Sie starb 1933 und ihr Mann Leo Schulzer wurde am 20.10.1939 nach Nisko deportiert.

Meine Kindheit

Ich wurde als Hanny Spiegl am 27. Juni 1923 in Wien geboren. Mein Bruder Fritz Spiegl ist genau zweieinhalb Jahre jünger und wurde am 27.1 1926 in Zurndorf geboren..

Ich bin in Wien geboren, weil ich das erste Kind war, Zurndorf war ein kleiner Ort und meine Eltern haben darauf geachtet, daß ich einen richtigen Gynäkologen und eine richtige Geburtsstation bekomme. Ich wurde im Sanatorium Lucina in der Stromstraße im 20. Wiener Bezirk geboren. Dort sind alle "besseren Kinder" zur Welt gekommen. Nach 14 Tagen ist meine Mutter mit mir nach Zurndorf gekommen, und meine Tante Emma, die Schwester meines Vaters hat in meine Wiege geschaut und gesagt: "Was? Und wegen der habt ihr euch so viel Sorgen gemacht, um die wär' kein Schad' gewesen." Daraufhin hat mein Vater seine ältere Schwester hinausgeschmissen und nie wieder ein Wort mit ihr gesprochen. Wir wurden angehalten, Tante Emma zu grüßen, aber das war's dann auch.

Ich hatte eigentlich eine schöne Kindheit, aber es gab einen Makel, wir waren Juden. Ich wußte, ich bin anders, weil ich jüdisch bin.

Bis 1933 wohnten Medizinalrat Dr. Michael Wollner mit seiner Frau Leontine in Zurndorf, aber wegen des Antisemitismus übersiedelten sie nach Wien, wurden 1938 deportiert und ermordet. Dann gab es die jüdische Familie Steiner. Sie waren arme Juden und wurden von anderen jüdischen Familien unterstützt. Sie hatten eine Tochter Julia, die nach Kanada auswanderte und von dort noch Familienmitgliedern zur Flucht verhalf. Frau Steiner und Herr Steiner starben vor dem Holocaust. Ich kann mich auch noch gut an die "Schnorrer" erinnern, die von den wohlhabenden jüdischen Familien unterstützt wurden, so daß auch sie nicht im Elend leben mußten. Zwei Brüder und zwei Schwestern meines Vaters lebten in Zurndorf. Mein Vater und die Onkeln sind nicht in Wirtshäuser gegangen und wir Kinder haben nicht auf der Straße barfuß gespielt. Man hat ein behütetes Leben geführt. Innerhalb dieses behüteten Lebens war es sehr nett, weil wir Cousins und Cousinen hatten und immer mit Gleichaltrigen zusammen waren. Aber durch die Ausgrenzung war es keine so schöne Kindheit. Ich wurde viel von anderen Kindern geärgert, wir waren eben anders.

Ich durfte nicht in den Kindergarten gehen, weil es ein katholischer Kindergarten war und man mich nicht genommen hätte. Es wäre für mich schön gewesen, in den Kindergarten zu gehen. Mein Cousin Andy, der jetzt in Amerika lebt, hat dann mit uns Schule gespielt. Wir hatten eine Tafel, er war der Lehrer und es gab eine richtige Pause, für die meine Mutter Eier gekocht und Brote gemacht hat. Wir haben dieses Spiel sehr ernst genommen, mit dem Resultat, daß mein Bruder mit vier Jahren Lesen und Schreiben konnte und dann von der richtigen Schule nach Haus gekommen ist und gesagt hat, da geh ich nicht mehr hin, das kann ich schon.

Dadurch, daß meine Mutter aus Wien war und ihre Geschwister in Wien hatte, und Cousins und Cousinen meines Vaters auch in Wien lebten, sind wir öfter nach Wien gefahren. Ich erinnere mich, das erste Ballett, das ich sah, war die "Puppenfee". Ich erinnere mich auch, daß ich mit meinem Bruder ins "Theater in der Josefstadt" gegangen bin, und er hatte Hunger und ich hab eine Wurstsemmel gekauft und die schwesterlich geteilt. Ich weiß sogar noch, was er angehabt hat und ich weiß, was ich angehabt hab. Ich habe zu diesem Zweck das obligate dunkelblaue Samtkleid mit einem rosa Spitzenkragen getragen, und mein Bruder hat einen sogenannten "Mozartanzug" getragen, das war elegant.

Wir sind auch zum Kinderarzt nach Wien gefahren. Es gab in Zurndorf den Dr. Braci, der war also ein richtiger Landarzt, aber man ist lieber in Wien zum Kinderarzt gegangen.

Meine Eltern hatten die Sodawasserfabrik, da wurde auch Limonade erzeugt. Für die Limonade nahm man richtige Fruchtsäfte und die mußten aufbereitet werden. Das hat meine Mutter überwacht. Aber meine Mutter hatte Dienstpersonal. Es war nicht so, daß sie schwer arbeiten mußte, sondern sie hat ihrem Mann geholfen, und mein Vater hatte ja zusätzlich noch die Vertretung von landwirtschaftlichen Maschinen und war ziemlich viel unterwegs. Es gab drei Leute mit Autos in Dorf, und einer davon war mein Vater. Der andere war der Bäckermeister, und der dritte war ein großer LKW, der gehörte einem Gastwirt. Das war auch schon ein Sonderstatus, ein Auto zu fahren. Für meinen Vater war das Auto wichtig, weil er ja durch seine Arbeit im gesamten nördlichen Burgenland damit herumgefahren ist.

Am Yom Kippur haben meine Eltern gefastet, das war sehr lustig. Zurndorf ist von Gattendorf vielleicht 4 km entfernt. Man ist im Gänsemarsch zu Fuß nach Gattendorf gegangen, weil da die Synagoge war. Die Männer und die Erwachsenen haben gefastet. Es wurde ein Dienstmädchen mitgenommen, damit die Kinder auch genügend zu essen haben, und das Essen wurde in großen weißen Servietten verpackt, und zwar war das meistens Huhn und Challe und Obst, und wir wurden dann versorgt, während die Eltern in der Synagoge waren und gebetet haben. In Gattendorf trafen sich Juden aus der ganzen Umgebung, sogar aus Bratislava und Budapest, die man ewig nicht gesehen hatte. Wir Kinder sind mal in die Synagoge rein und wieder raus, wie das halt so üblich war. Der Rabbiner war gleichzeitig der Schächter. Rabbiner waren damals ja nicht sehr gut gestellt, und er kam regelmäßig nach Zurndorf und schächtete das Fleisch für die Umgebung bei meinem Onkel Nathan, dem Bruder meines Vaters, der eine Fleischerei hatte. Wir haben nur rituell geschlachtetes Fleisch gegessen, das gehörte bei uns zur Tradition. Das war etwas teurer, weil der Herr Jelenko ja dafür was bekommen hat, aber man hat gleichzeitig eine Mitzwe getan, indem man eben das koschere Fleisch gegessen hat, damit der Herr Jelenko was verdient. Der Rabbiner Jelenko hat sich, wie viele Juden, selber seine Gesetze gemacht. Meine Mutter wollte einmal ein Stück koschere Kalbsleber. Und da hat der Herr Jelenko uns eingeredet, wir wussten ja wenig vom Judentum, es ist ein Gesetz, daß die Kalbsleber dem Schächter gehört. Und wir haben das natürlich geglaubt, und viel später sind wir dann draufgekommen, daß das sein eigenes Gesetz war, weil seine Frau gerne Kalbsleber gegessen hat. Vor dem Fasten am Yom Kippur wurde immer das gleiche Essen gegessen. Das war Tradition. Es war das einzige Mal im Jahr, daß mein Vater beim Essen einen Hut aufgesetzt hat. Es gab Nudelsuppe, Huhn mit Selleriesauce und Kartoffeln, danach Zwetschken- und Apfelkompott. Und zur Krönung des Ganzen gab es einen Mokka, und mein Vater hat die letzte Zigarette geraucht.. Dann haben die Feiertage begonnen. Beim Onkel Nathan gab es genau das gleiche Menü und beim Onkel Willi gab es auch genau das gleiche Menü. In Zurndorf haben wir zuerst Religionsunterricht bei dem Rabbiner Friedjung, einem alten Herrn, gehabt. Bei ihm habe ich Hebräisch lesen gelernt und er hat uns viele Geschichten erzählt. Dann lernten wir beim Rabbiner Jelenko, und wenn wir schwänzen konnten, haben wir geschwänzt.

Es gab kein Kulturleben in Zurndorf, so luden sich meine Eltern Besuch aus Wien ein oder fuhren nach Wien. Einmal kam zu uns ein Japaner zu Besuch. Er hieß Yoshiokondo, er war ein Studienkollege meiner Cousine Martha. Er ist in Wien in der Straßenbahn gefahren und hat das Wort "Kiritag" gehört. Im burgenländischen Dialekt sagt man "Kiritag" statt Kirtag. Das hat so japanisch geklungen, und da hat er die Martha gefragt, was "Kiritag" ist. Dann hat sie ihm das erklärt und hat ihn eingeladen, den "Kiritag" bei uns zu verbringen. Das war natürlich eine Sensation im Dorf, daß ein Japaner im Dorf ist. Damals gab es bei uns im Dorf noch Kommunikation in Form eines Trommlers. Wenn irgendwelche Verlautbarungen, neue Gesetze oder Vorschriften waren, ging zweimal am Tag der Trommler durch Dorf. Er hat sich an verschiedenen Stellen aufgestellt und getrommelt. Dann sind die Leute zusammengelaufen und er hat zum Beispiel gesagt: !Es wird kundgemacht, daß die Gänse Morgen schon um halb sechs auf die Weide geführt werden und die Kühe erst eine halbe Stunde später, damit die sich nicht ins Gehege kommen. Die Milchabgabe erfolgt heute um 14 Uhr." Das waren die Nachrichten, die er getrommelt hat. Und dann hat er den Japaner gesehen und hat gesagt: "Wos is' der?" Und er hat unseren Gast gefragt: "Bist du a Chines' oder bist Du a Japaner?" Und meine Eltern haben geantwortet: "Das ist ein Japaner." "Des sind die ganz G'fährlichen. Erst schluckt's China, und dann kommen wir dran," hat unser Trommler gesagt. Das war im Jahr 1935. Und fünf Jahre später haben die Japaner China geschluckt. Also irgendwie von einem einfältigen Bauern eine weise Voraussicht.

Die vierte Volksschulklasse habe ich in Wien absolviert. In Zurndorf in der Schule gab es schon antisemitische Strömungen, und ich hab sehr unter dem ausgegrenzt werden gelitten. Meine Eltern haben mich darauf hin zu den Eltern meiner Cousine Alice geschickt. Alice Vater war der Bankier Josef Geiringer, der Bruder meiner Mutter. Später habe ich auch bei einer Cousine meines Vaters gewohnt.

Ich hab jedes Jahr die Schule gewechselt. Ich war in ganz gewöhnlichen Schulen, aber ich hatte immer jüdischen Religionsunterricht, der war ja obligat.

Während des Krieges

Mit 12 Jahren hatte ich in Wien meine Bat Mitzwah zusammen mit meiner Cousine Alice und meiner Freundin Inge Bräuner. Die Bat Mitzwah fand in der Synagoge in der Tempelgasse im Zweiten Wiener Gemeindebezirk statt. In der Tempelgasse Nummer 5 im Zweiten Wiener Gemeindebezirk stand die "Große Synagoge", die zwischen 1853-1858 in maurischem Stil erbaut wurde. Sie war der größte Tempel Wiens. Am 9. November 1938, in der Reichspogromnacht, wurde sie in Brand gesteckt und zerstört. Nach den Feierlichkeiten in der Synagoge, an der meine Familie und Alices Eltern, Onkel Josef Geiringer und Tante Paula teilnahmen, gingen wir in ein Restaurant in den Prater. Ich weiß noch, daß ich ein Buch über Paula Wessely geschenkt bekam, weil ich sie sehr geliebt habe.

Mein Bruder hat die vier Klassen Volksschule in Zurndorf absolviert. Da gab es den Sohn eines Tierarztes, der hieß Fritz Tauscher. Fritzi Spiegl und Fritzi Tauscher sind in eine Klasse gegangen. Fritzi Tauscher saß hinter meinem Bruder, und mitten im Unterricht ist mein Bruder aufgestanden und hat dem Fritzi Tauscher eine verpaßt und hat sich wieder hingesetzt. Das Ganze hat sich wortlos abgespielt. Der Lehrer hat gesagt: "Fritzi Spiegl, was hast du gemacht? "Bitte, ich hab ihm eine runter gehauen." "Und warum hast du das getan?" "Bitte, weil er hat Saujud zu mir gesagt hat." "Fritzi, dann mußt Du es mir sagen und dann werde ich ihn strafen." "Bitte Herr Lehrer, wenn ich es Ihnen sag', sagen Sie nur: Du, Du, Du Fritzi, das darfst Du nicht mehr sagen. Und das hat er bestimmt gleich vergessen. Aber die Ohrfeige merkt er sich." Mein Bruder muß vielleicht damals acht oder neun Jahre alt gewesen sein, der wußte sich zu wehren. Er ist dann ins Gymnasium nach Eisenstadt gekommen. Das hieß Bundeskonvikt, aber er hat nur zwei Jahre diese Schule besucht und ist dann 1938 rausgeschmissen worden. Er hat dann in Wien das Chajes-Gymnasium besucht. Das war damals Anfang 1938 noch ein jüdisches Gymnasium im 20. Bezirk, und genau gegenüber haben wir gewohnt. Wenn die erste Glocke geläutet hat, ist mein Bruder aus dem Bett gestiegen. 1938 mußten wir weg aus Zurndorf, mein Vater war verhaftet worden, und wir sind zur Tante Kitty, der Schwester meiner Mutter nach Wien gegangen. Mein Vater wurde im März 1938 wurde im Landesgericht in Wien festgehalten. Er wurde als Jude verhaftet und außerdem ist ihm der Ruf vorausgeeilt, er sei Kommunist, weil wir einen tschechischen Wagen, einen "Tatra", besaßen und mein Vater oft nach Bratislava gefahren ist. Das war aber immer nur eine halbe Stunde, um das Auto warten zu lassen oder einfach um Kaffee zu trinken. Das war damals so kleiner Grenzverkehr. Und die Bauern haben gesagt, er hat von Bratislava aus mit Moskau Funkverkehr. Im Sommer wurde er entlassen, unser Besitz wurde arisiert. Einige Dorfbewohner schämten sich und brachten anonym meiner Mutter, die nichts mehr besaß, Lebensmittel und Geld. Als meine Großeltern in den 20er Jahren starben, hat man gefragt, ob die Familie etwas dagegen hat, wenn die Kirchenglocken läuten. Und als die Särge von Zurndorf nach Gattendorf transportiert wurden, haben den ganzen Weg über die Kirchenglocken geläutet. Das war schon ein Zeichen von Achtung und Akzeptanz. Aber das hat sich dann mit der Zeit immer mehr verändert. Zurndorf war als Nazigemeinde bekannt. Zurndorf und Gols waren die beiden Hochburgen der Nazis im nördlichen Burgenland. Dazu kam noch, daß diese Gemeinden, und das ist auch symptomatisch, in erster Linie protestantisch waren. Dadurch waren für mich Protestanten lange Zeit Nazis.

Zu der Tante Kitty in Wien kam eine Nachbarin und hat gesagt, sie muß die Wohnung räumen, sie kann aber ihre Wohnung haben. Das war eine Zimmer-Küche- Wohnung mit Toilette und Wasser am Gang. Und dann sind wir da eingezogen, Tante Kitty, meine Mutter, mein Bruder, und ich, und dann, als mein Vater aus dem Gefängnis entlassen wurde, auch mein Vater. Auch nach Wien bekamen wir noch Lebensmittelpakete ohne Absender aus Zurndorf.

Als ich die Schule verlassen mußte und meine Mutter beschlossen hat, daß "das Kind was lernen muss, um sich auf die Emigration vorzubereiten", hab ich im Modesalon "Hilda & Loni" eine Schneiderlehre begonnen. Der Salon war Ecke Liechtensteinstraße/Thurngasse. Wir haben im 20. Bezirk gewohnt, und ich bin in der Mittagspause immer nach Haus gegangen. Einmal wurde ich bei der Grünentorgasse von ein paar SS- Leuten gefangen und in die Schule in die Grünentorgasse gebracht. Das war eine SS-Kaserne. Und da mußte ich sauber machen und danach mußte ich "Spiegel", diese Pajetten, die man an der Uniform hat, annähen. Ich weiß nicht, wie lange ich da war, dann hat einer gesagt, ich soll Kohlen aus dem Keller holen und ist mit mir die Treppe runter mit zwei Kohlenkübeln. Ich hab seitdem Angst vor Kellern. Dann ist der mit mir in den Keller gegangen, hat laut geschimpft, hat die Kohlen in die Kübel gefüllt, hat sie bis zur Treppe getragen und dann erst hat er sie mir übergeben. Danach hat er mich nach Haus geschickt.

Im November 1938 ist mein Vater in Wien verhaftet worden. Er war auf der Rossauerlände und dann im Landesgericht eingesperrt. Eines Abends war furchtbares Gepolter an der Haustür. Wir sind zu Haus gesessen und haben gezittert. Da kam ein SS-Mann die Treppe rauf, hat an die Tür gepoltert und hat Einlaß verlangt. Und dann hat er gesagt: Ich wollte Ihnen nur sagen, Ihr Mann ist auf der Elisabethpromenade, und es geht ihm gut. Wollen Sie ihm irgendwas schicken? Es gab eben auch solche Geschichten.

Meine Mutter hat dann verschiedene Leute, so auch den bolivianischen Konsul, versucht zu bestechen, um irgendein Visum zu bekommen. Sie hat ihm erzählt, daß mein Vater der größte Agrarexperte der Welt ist und die bolivianische Landwirtschaft ohne das Know-how meines Vaters nicht existieren könnte. Ich weiß nicht, ob mein Vater den Unterschied zwischen Gerste und Weizen und Hafer gewußt hätte. Wir sind zwar auf dem Land groß geworden, aber er hat mit der Landwirtschaft herzlich wenig zu tun gehabt. Aber das hat dann funktioniert. Dann ist meine Mutter zur Gestapo am Morzinplatz zum Eichmann oder Hoess gegangen und hat gesagt: "Wenn Sie meinen Mann frei lassen, garantiere ich Ihnen, daß wir innerhalb von kürzester Zeit das Land verlassen. Das war 1939, nachdem mein Bruder und ich nach England emigriert waren. Ich bin im Februar 1939 nach England, mein Bruder ist im März 1939 nach England emigriert. Ich war gerade 16 Jahre alt.

Eichmann und Hoess waren für die burgenländischen Juden zuständig. Hoess hat traurige Berühmtheit unter anderem dadurch erlangt, daß seine Frau Ilse, die ebenso wie er zum Tod verurteilt wurde, aus Judenhaut Lampenschirme hat herstellen lassen.

Ich war 16 Jahre alt, aber für die Behörden war ich 15, damit ich noch mit dem Kindertransport der Kultusgemeinde fahren durfte. Am 20. Februar 1939 um 20.00 Uhr mußte ich mit einem Gepäckstück am Westbahnhof sein. Die Abschiedsszenen waren schrecklich. Wir älteren halfen den jüngeren Kindern. In London wurden wir in einer Kirche in der Church Hall empfangen. Ich hatte Glück, weil mein Cousin Alfred mich dort abholte, mit mir in das "Lyons Corner House", einem Treffpunkt der Emigranten ging und mich dort bewirtete. Er hatte eine Familie für mich gefunden.

Es gab viele Kinder, die kein Glück hatten und die da in den Hallen gesessen sind. Es war Februar und es war kalt und es war neblig und es war unwirtlich und ungastlich, wie es in England ist. Und die, die schon eine Adresse hatten, wo sie hin konnten, wurden abgeholt. So wurde ich von meinem Cousin Alfred abgeholt. Aber andere Kinder sind einfach dagesessen, und dann sind die Familien gekommen und haben ausgesucht. Das war wie ein Markt. Das war furchtbar. Es war ganz schlimm, mit einer Tafel um den Hals. Da hat einer gesagt: "I take that one. No no no, I take that one." Und Buben wollten sie nicht, sondern eher Mädchen. Und die, die dann übrig geblieben sind, die hat man in irgendwelche Heime gesteckt.

Danach setzte mich Alfred in einen Zug zu meiner Gastfamilie. Einen Penny hat er mir noch in die Hand gedrückt. Mein Cousin Alfred war selber ein Emigrant, der hat auch nichts gehabt. Englisch konnte ich fast überhaupt nicht, das war schlimm. Ich hab mich in die Ecke gedrückt und hab die Augen ganz fest zugemacht und hab geweint, in der Hoffnung, daß man mich nicht sieht, wenn ich die Augen zu habe. Das Abteil war voll mit Leuten und sie wollten mir helfen. In Crewe mußte ich auch noch umsteigen. Und kalt war's und geregnet hat's und ich war schrecklich allein. Als ich in Cheadle Hulme ankam, hätte mich mein Ziehvater, ein Mr. Jones, ein Universitätsprofessor, abholen sollen. Da hat so ein Gaslampe gebrannt und alles war finster und es hat geregnet. Das Einzige, was ich hatte, war ein Zettel, da stand drauf: Mr. Jones, Cheadle Hulme, nicht einmal eine Adresse. Ein Bahnhofsbeamter hat sich der ans Telefon gesetzt und hat alle Jones's angerufen, und Jones ist kein seltener Name. Endlich hat er den Richtigen gefunden, der gesagt hat, ja, wir erwarten ein Refugee-Kind. Die Mrs. Jones hat ein bißchen Deutsch gesprochen. Bei der Familie Jones mußte ich arbeiten, die dachten, ich bin ein Dienstmädchen. Aber ich war noch zu jung für ein Dienstmädchen. Ich habe aber Dienstmädchenarbeit verrichten müssen, das hat mich nicht gestört. Ich hab meiner Mutter geschrieben, sie soll mir bitte das Rezept für Apfelstrudel schicken. Ich hab mich dort durchgesetzt. Mr. Jones hat aber nicht nur gedacht, daß er ein Dienstmädchen kriegt, sondern auch gleich ein jüngeres Spielzeug. Da hab ich jeden Abend alle meine Kraft zusammengenommen und hab das Bett vor die Tür geschoben. Die haben geglaubt, ich mach' das, weil ich Angst hab, daß die Nazis kommen. Ich hab mich aber auch nicht getraut, irgend jemand was zu sagen, weil ich ja Angst hatte, daß die mich dann zurückschicken. Und ich wußte ja auch, wenn ich jetzt zurückgeschickt werde, daß meine Eltern dann nicht weg können. Das war eine ziemlich miese Situation. Bei Mr. Jones hab ich jeden Dienstag Nachmittag frei gehabt. Jede Woche bekam ich nur Sixpence Taschengeld. Die Fahrt nach Manchester hat einen Shilling gekostet. Wenn ich das Auto gewaschen hab, hab ich einen Penny und zwei Briefmarken bekommen. Die Briefmarken hab ich gebraucht, aber wenn ich dann einen Shilling und einen Penny hatte, bin ich nach Manchester gefahren, dort in die Bibliothek gegangen und hab gelesen. Gegenüber am Albert Square war das Quäker Meeting House, dann bin ich da hingegangen, hab einen Tee getrunken und einen Bun gegessen. Danach bin ich spazieren gegangen, hab mir die Geschäfte angeschaut. Das war mein Dienstag, mein freier Nachmittag.

Dann langsam hab ich Leute kennen gelernt, Österreicher. Und dadurch ist es mir ein bißchen besser gegangen. Dann habe ich Leute vom "Young Austria" kennengelernt und jemand vom Komitee hat gemerkt, daß mit mir irgendwas nicht stimmt. Ich hab dann über Mr. Jones erzählt und kam als Kindermädchen zu einer Familie in den nächsten Ort. Als der Krieg ausbrach, ist der Mann sofort zum Militär gegangen, und die konnten sich kein Kindermädchen mehr leisten. Dann bin ich in ein Jugendheim gekommen und hab schon in Fabriken Uniformen genäht.

Mit meinen Eltern hatte ich ab und zu Kontakt und wußte, daß sie sich nach Bolivien gerettet hatten. Mein Vater war Leiter der Wäscherei und hat Indios unter sich gehabt. Damals hat man in den Hotels noch die Wäsche mit der Hand gewaschen.

Zu meinem Bruder hatte ich wenig Kontakt. Er war bei der Familie Margesson, die die Kinder in die Schule geschickt haben. Da war ein ganz berühmter Verleger in Wien namens Neurath. Dessen Sohn Walter und seine junge Frau wurden auch nach England gebracht, und dieser Captain Margesson war Minister im Kabinett Chamberlains. Er hat ein Haus zur Verfügung gestellt für die Neuraths mit der Auflage, daß sie drei Refugee-Kinder mit aufnehmen müssen, er ist für alles aufgekommen. Einer davon war mein Bruder. Dann war da noch ein Mädchen namens Ruth und ein Bub namens Stefan. Die haben sich dort kennen gelernt. Die Ruth war damals acht, Stefan war zehn oder zwölf Jahre alt. Fritz war zwölf Jahre alt. Die Ruth und der Stefan sind ein Paar geworden und haben geheiratet.

Mein Bruder schrieb am 8. März 1942 in einem Brief an meine Eltern, in dem Brief lag ein Foto auf dem unsere Tante Kitty, ich und mein Bruder zu sehen sind: "Liebe Eltern! Dieser Brief gilt der Mama zum Muttertag. Also alles, alles Gute, Mama! Es folgen noch mehr Bilder. Ich hab gute Nachrichten für euch. Mein Chef hat mir nach Ablauf der Probezeit vorige Woche gesagt, daß er mich anstellen will und das ich ein Pfund per Woche bekomme. Die Arbeit freut mich sehr. Mein Bruder hat eine Lehre und Anstellung als Grafiker bekommen. Er zeichnet und schreibt sehr gut, ist sehr talentiert. "Ich schreib euch noch mehr ausführlich in einem anderen folgenden Brief. Ihr könnt am Bild sehen, wie ich gewachsen bin. Ich hab beim Fotografieren nicht gemogelt und mich auf die Zehenspitzen gestellt. Im Gegenteil, die Füße gespreizt ein wenig. Recht viele Bussi. Fritz." In einem anderen Brief: "Liebe Eltern, danke für euren Brief vom 20.2.1942, den wir vorgestern am 20.3.1942 erhielten. Auch für die zwei Bilder, mit denen wir uns sehr freuten. Also ich arbeite schon seit 3. Feber als Reklamezeichner. Das heißt, ich arbeite, während ich lerne. Ich bekomme ein Pfund per Woche bezahlt. Ganz schön, glaub ich. Die Arbeit freut mich riesig. Mehr darüber in gewöhnlicher Post." Heute Sonntag, waren wir, Erich, Trude, Käthe und ich bei der Matthäus- Passion von Bach im Konzert. Unheimlich schön. Wir sind noch ganz betrunken von der Musik. Ich hab seit gestern eine neue Flöte. Sehr groß, 3/4 m lang. Sie hat 30 Schilling gekostet. Von eigenem Ersparten, aber die Käthe hat was beigesteuert. Meine Kleine, die eine Oktave höher spielt, habe ich der Trude geborgt. Wir haben grad nach Noten das erste Duett gespielt. Sehr klass. Viele Bussi. Fritz."

Das ist deshalb so interessant, weil er mit 16 Jahren bereits begonnen hat, sich für die Musik zu interessieren und vier Jahre später an der Royal Academy of Music ein Stipendium bekommen hat. Also deshalb ist es so interessant, daß er mit 16 bereits die Matthäus-Passion so empfunden hat. Das war der Beginn einer Kariere meines Bruders als Musiker und Autor. Er wurde erster Flötist im Liverpool Philharmonic Orchester, Gründer und Dirigent des Liverpool Wind Ensembles, Kolumnist und Autor zahlreicher Artikel und hat eine eigene Radiosendung in der BBC. Mit seiner zweiten Frau Ingrid lebt er in Liverpool.

Am schlimmsten dran waren die, die zwischen 1922 und 1925 geboren wurden. Die hatten bereits die Pflichtschule absolviert, und da ist es vom Verständnis der Zieheltern abgehangen, ob sie weiter studieren oder ob sie eine höhere Schule besuchen dürfen oder ob sie arbeiten müssen.

Es war gedacht, daß wir nur kurze Zeit in England bleiben und dann zu den Eltern nach Bolivien gehen. Aber da kam der Krieg dazwischen, und dann war Bolivien abgeschrieben. Meine Eltern wollten zuerst einmal, daß wir nach England gehen und dort eine Schule besuchen, denn Bolivien war ja ein schwarzer Fleck auf der Landkarte. In Bolivien gingen Polizisten zu dieser Zeit noch barfuß, und wenn es ganz kalt war, dann haben sie Autoreifen zerschnitten und sich die als Sohle um die Füße gebunden. Auf der Straße sind die Indios gesessen und haben ihre Kinder gelaust und die Läuse aufgefressen. Das kann man sich wirklich nicht vorstellen. Bolivien und Kolumbien ist eigentlich erst durch die Emigranten aufgeblüht.

Argentinien, Brasilien und Uruguay waren schon etwas weiter. Die hatten eine Mittelschicht, was die anderen ja nicht hatten.

Bei "Young Austria" habe ich begeistert mitgearbeitet. Da hat es sich dann so langsam entwickelt, daß wir nach Österreich zurückgehen sollten, um mitzuhelfen, daß eine Demokratie entsteht. Das hat sich dann als Trugschluß herausgestellt, es hat in Wirklichkeit kein Mensch geschert, ob die Emigranten zurückkommen, im Gegenteil. Es wäre den Österreichern wahrscheinlich lieber gewesen, wir wären weg geblieben. Ich hab in England Franz Czechmann, einen politischen Emigranten kennen gelernt. Man hat mich ununterbrochen wegen meiner bürgerlichen Herkunft ein bißchen scheel angeschaut, und da hab ich mir gedacht, wenn ich einen Proletarier heirate, dann werde ich zur Proletarierin. Aber das ist ein Irrtum. Wir haben geheiratet und am 22.2.1944 kam unsere Tochter Marion in London zur Welt.

Nach dem Krieg

Am 22. September 1946, also ein Jahr und ein paar Monate, nachdem der Krieg zu Ende war, kamen wir nach Wien zurück. Meine Familie gab es in Wien nicht mehr.

Die einzigen, die in Wien waren, waren die Eltern meines damaligen Mannes, und sein Bruder. Zuerst haben wir bei den Schwiegereltern gewohnt, und dann hat uns die Partei eine Wohnung zugewiesen. Das war ein Zimmer mit drei Türen und einem Fenster. Ein Bett, ein Tisch und ein Stuhl standen in dem Zimmer. Das Bett hatte einen Strohsack, nicht einmal eine Matratze. Da haben wir mit dem Kind gehaust.

Meine Mutter ist Ende der 40er-Jahre sehr krank geworden und hat vorgeschlagen, daß ich zu ihr nach Uruguay komme, um meinen Eltern zu helfen.

Von meinem Mann hatte ich mich scheiden lassen. Die Ehe war von Anfang an ein Blödsinn. Wir waren zu verschieden, ich war noch minderjährig und hab die Erlaubnis meine Eltern aus Bolivien gebraucht, das hat ewig gedauert, bis die kam, und als die kam, hatte ich es mir eigentlich schon überlegt und wollte gar nicht mehr heiraten. Aber er hat gedroht, er bringt uns um, wenn wir nicht heiraten. Und wer will schon mit 19 Jahren sterben? Und da hab mir gedacht, so schlimm kann's auch nicht sein.

Das uruguaysche Gesetz besagte, daß Kinder ihre Eltern anfordern dürfen. Aber nicht Eltern ihre erwachsenen Kinder. Meine Tochter Marion war Engländerin und hatte einen englischen Paß. Engländer brauchten kein Visum, weil sie bei den Alliierten waren. Wir sind nach Italien gefahren, meine Tochter hat ein Visum bekommen und ist zu meinen Eltern nach Uruguay gefahren. Dann hat sie durch Beziehungen, die meine Eltern hatten, mich angefordert. Und ich bin dann am 1. Februar 1951 nach Uruguay gefahren.

Da hab ich meine Eltern das erste Mal wieder gesehen. Meine Mutter war damals schon in einem sehr schlechten gesundheitlichen Zustand und wollte auch noch meinen Bruder sehen. Sie ist dann nach England gefahren, hat in England einen Herzinfarkt bekommen, ist aber gerettet worden und ist wieder zurückgekommen. Sie starb September 1953. Wir hatten noch eineinhalb Jahre miteinander. Mein Vater ist dann 1954 zurück nach Wien, und ich war, ehrlich gesagt, zu feige, nach Wien zurückzugehen, nachdem ich mit fliegenden Fahnen nach Uruguay gegangen bin. Das ist etwas, das ich nie wieder gutmachen kann, denn ich hätte, wenn ich Anfang 1950 nach Wien zurückgegangen wäre, noch irgendein Studium beginnen können. Damals gab schon die ersten Studienbeihilfen und die Möglichkeiten zu studieren und einen Abschluß zu machen. Ich hab aber trotzdem einige Jahre bei den Vereinten Nationen gearbeitet und mich dann entschlossen, meine Tochter ist nach England gegangen, nach Österreich zurückzugehen, weil ich nicht mehr in Südamerika bleiben wollte. Ich hab gemerkt, daß ich doch dem europäischen Kulturkreis zu sehr verhaftet.

Meinen zweiten Vertrag bei den Vereinten Nationen habe ich gekündigt in der Hoffnung, daß ich einen dritten Vertrag irgendwo bei einem europäischen Projekt bekomme. Das war der politischen Umstände wegen kaum möglich, denn ich war in der Administration und bei Feldprojekten, und die waren meistens in Krisengebieten. Ich hab dann durch Zufall einen Posten im Außenministerium bekommen und bin wieder nach Südamerika, um vier Jahre an einer österreichischen Botschaft in Südamerika zu arbeiten. In Südamerika lernte ich auch meinen zweiten Mann kennen, von dem ich mich aber nach einiger Zeit scheiden ließ. Nach fünf Jahren hab ich mich wieder nach Österreich versetzen lassen in der Hoffnung, noch einen anderen Posten irgendwo zu bekommen. Ich hab in der Zwischenzeit von der DDR gehört und gelesen, und es hat mich doch sehr gereizt, weil ich der Meinung war, daß das ein Land ist, das meinen Idealen entspräche. Kein Faschismus, kein Antisemitismus und eine wahre Demokratie. Als ich's geschafft hatte, dorthin versetzt zu werden, hat's nicht lang gedauert, bis ich gemerkt habe, daß mein Ideal nicht dem entsprochen hat, was ich mir vorgestellt hab. Und ich habe dann begonnen, meine Arbeit in eine Art Hilfe umzuwandeln, weil ich mich mit den Opfern identifiziert habe. Es hat mich gestört, wenn ich mit Leuten zusammen war, die nicht einmal einen Kilometer weiter nach Westberlin konnten. Ich habe mich immer geschämt, daß ich diese Privilegien hatte. Ich bin auch dort in die jüdische Gemeinde gegangen und habe mich vorgestellt und habe Herrn Dr. Kirchner kennen gelernt. Und Herr Dr. Kirchner hat mich behandelt, als ob ich eine Bittstellerin wäre. Es war kurz vor Seder, und ich habe gefragt ob es möglich wäre, am Seder teilzunehmen. Und Herr Dr. Kirchner hat gesagt, das wäre leider nicht möglich, denn es gäbe keinen Platz mehr. Und dann hab ich eines Tages Herrn Dr. Kirchner ziemlich direkt meine Meinung gesagt: "Ich weiß es nicht, wie viel Sie vom Judentum wissen. Ich weiß wenig, aber das Wenige, das ich weiß, ist noch immer viel mehr als das, was Sie wissen. Ich habe noch nie erlebt, daß man einen Juden, wenn er von auswärts kommt, nicht an den Sabbattisch oder am Sederabend teilnehmen läßt. Das ist im Judentum, das ich gelernt habe, nicht üblich."

Eigenartigerweise spüre ich einen sehr latenten traditionellen Antisemitismus. Zum Beispiel: Man muß doch einmal vergessen können, oder: Wir haben Juden geholfen. Meinem Vater hat unser Nachbar die Koffer zur Bahn getragen, - ob er sich nachher an dem Mobiliar, das zurückgeblieben ist, bereichert hat, wird wohlweislich verschwiegen. Oder: Was wollt ihr denn? Es geht euch doch schon wieder gut! Das stört mich. Es gibt eine gewisse traditionelle antisemitische Mittelschicht. Die gab's und die gibt's und die wird's immer geben. Wobei sie sich nie als Antisemiten deklarieren würden, sondern das sind so hintergründige Bemerkungen, die aber unüberhörbar sind.

Glossar

 1. Vivarium: Diese biologische Forschungseinrichtung wurde im Kontext des Wiener jüdischen Groß- und Bildungsbürgertums gegründet und zum Zentrum von Innovationen auf einer Reihe von Wissen(schaft)sgebieten. Das Vivarium wurde im Zuge des "Anschlusses" 1938 geschlossen, seine Forscher/innen vertrieben oder in der weiteren Folge ermordet. Aus dem Internet.