Heinz Bischitz

Heinz Bischitz
Wien
Österreich
Interviewer: Tanja Eckstein 
Datum des Interviews: März 2003 

Heinz Bischitz wohnt in einem Haus der Jüdischen Kultusgemeinde im 2. Bezirk.

Ich hatte ihn schon vor sechs Monaten gebeten, mir ein Interview zu geben, was er aber nach einiger Überlegung ablehnte.

Deshalb war ich sehr überrascht, als ich von ESRA 1 erfuhr, dass er doch bereit sei, mir ein Interview zu geben.

Heinz Bischitz ist ein großer, kräftiger Mann mit vollem Haar. Er wirkt sehr ruhig und ausgeglichen, ein Eindruck, der durch sein Pfeifen rauchen noch verstärkt wird.

Heinz Bischitz ist 2012 gestorben.

  • Meine Familiengeschichte

Mein Großvater väterlicherseits hieß Moritz Bischitz. Er wurde ungefähr 1870 in Mattersburg geboren [geboren am 9.3.1872; Quelle: DÖW Datenbank] und war ein traditioneller Jude. Seine Muttersprache war Deutsch. Ich nehme an, er war in der k.u.k. Armee 2, aber komischerweise hat nie jemand darüber gesprochen.

Der Großvater hatte den Beruf des Tischlermeisters gelernt und arbeitete als Modelltischler. Er hatte einen Zwirbelschnurrbart, rauchte eine lange Pfeife, und ich kann mich erinnern, in seiner Tischlerwerkstatt roch es immer nach Leim.

Ich glaube, mein Großvater arbeitete allein in der Werkstatt - ich sah nie Angestellte. Er war Modelltischler, das war fast künstlerische Schnitzarbeit, die er gemacht hat. Er hatte sich auch spezialisiert auf Gussformen für die Industrie, das war Präzisionsarbeit.

Der Großvater hatte Geschwister, zwei oder drei Brüder und Schwestern, die haben den Krieg nicht überlebt. Zu denen hatte ich vielleicht Kontakt, als ich ganz klein war, aber ich kann mich überhaupt nicht erinnern. Ich weiß auch nicht, wie die hießen.

Meine Großmutter väterlicherseits hieß Caroline Bischitz und war eine geborene Glaser. Sie wurde in Schottwien geboren, aber ich weiß nicht wann [geboren am 10.1.1879; Quelle: DÖW Datenbank]. Schottwien liegt zwischen Wien und dem Semmering.

Die Großmutter war eine ziemlich große kräftige Frau. Sie hatte eine Schwester, Johanna Glaser. Beide kamen in Theresienstadt 3 um. Die Schwestern und mein Großvater Moritz wurden zusammen aus Wien am 28.7.1942 nach Theresienstadt deportiert.

Johanna Glaser starb einen Monat später, am 28.8.1942 in Theresienstadt, Caroline und Moritz Bischitz wurden weiter in das Vernichtungslager Treblinka deportiert und ermordet [Quelle: DÖW Datenbank].

Die Brüder der Großmutter hießen Moritz Glaser und Bernhard Glaser. Beide emigrierten 1938 mit ihren Familien nach Argentinien und kehrten nicht mehr nach Österreich zurück.

Die Großeltern wohnten bis 1938 in Teesdorf bei ihrer Tochter Martha und dem Schwiegersohn Leo Lichtblau. Sie wohnten in einem großen Haus, in dem der Großvater auch seine Werkstätte hatte. Es war ein für österreichische Dörfer typisches einstöckiges Haus. Vorn war das Geschäft, dahinter die Wohnung mit einem Garten und der Werkstatt meines Großvaters. Im Haus war es sehr dunkel.

Meine Großeltern mussten 1938 nach Wien übersiedeln und wohnten dann im 2. Bezirk bis sie nach Theresienstadt deportiert und ermordet wurden.

Die Großeltern hatten zwei Söhne und eine Tochter. Mein Vater hieß Fritz Bischitz und wurde in Mattersburg im Jahre 1904 geboren. Er war der Älteste der Geschwister. Mein Vater war ein traditioneller Jude, zu den hohen Feiertagen ging er in den Tempel, und er fastete zu Jom Kippur 4.

Mein Onkel hatte einen ungarischen Namen, er hieß Geza Bischitz. Er wurde so um 1908/1909 geboren und war mit Gisela Tichler verheiratet. Sie hatten einen Sohn, Peter, der 1935 geboren wurde. Onkel und Tante hatten in Traisen, das ist in Niederösterreich, bis 1938 einen Gemischtwarenladen. Dort gab es alles zu kaufen, wie das damals üblich war.

1938 emigrierten alle zusammen nach England und kamen nicht mehr nach Österreich zurück. Mein Onkel Geza und die Tante Gisela hatten nach dem Krieg in London ein kleines Geschäft. Mein Cousin Peter lebt in London, der Onkel und die Tante sind schon lange tot.

Mit meinem Cousin bin ich in Verbindung. Er kommt relativ oft nach Wien. Vor zwei Jahren hat er in St. Pölten das ehemalige Dienstmädchen der Familie besucht und sie sprachen über die alten Zeiten. Sie ist uralt und hat sich noch an ihn erinnern können.

Wir waren oft bei den Großeltern, meiner Tante Martha, der Schwester meines Vaters und dem Onkel Leo zu Besuch. Wir lebten in Ober Waltersdorf, Tante Martha in Teesdorf, das sind zwei Dörfer weiter, und Traisen ist auch nicht sehr weit entfernt. Ich habe damals alles auseinander genommen, also sozusagen repariert. Deshalb bekam ich zu meinem Geburtstag von meiner Großmutter immer einen alten Wecker zum 'reparieren', das hat mich sehr glücklich gemacht.

Der Kontakt zwischen meinem Vater und seinen Geschwistern war immer da, nur in der Kriegszeit nicht. Mein Cousin Peter hat drei Söhne. Die leben alle in England. Der Älteste heißt Keith, der Mittlere heißt Ian und der Jüngste heißt Neil. Auch zwischen den Cousins und Cousinen und den Kindern der Cousins und Cousinen besteht noch eine Verbindung.

Tante Martha Lichtblau, geborene Bischitz, war die Schwester meines Vaters. Sie war mit Leo Lichtblau verheiratet. Die Martha und der Leo waren beide gelernte Schneider. Ihre Tochter Susi wurde 1933 geboren, sie ist leider vergangenes Jahr gestorben. Mein Onkel und meine Tante besaßen in Teesdorf auch einen Gemischtwarenladen.

Sie emigrierten 1938 nach England und sind nach dem Krieg dort geblieben. Nach dem Krieg hatten meine Tante und mein Onkel in London so eine Art Trafik. Nur verkauften sie auch Schokolade; ein Drugstore war das. Meine Cousine Susi hatte zwei Söhne: Rufus und Giles. Sie leben in London, aber der Kontakt zwischen uns ist nicht sehr groß.

Mein Großvater mütterlicherseits hieß Armin Knöpfler. Soweit ich weiß, wurde er um 1870 in Budapest geboren. Seine Muttersprache war Ungarisch. Von Beruf war er Kaufmann. In welcher Branche weiß ich nicht. Es war irgendetwas mit Textilien, nehme ich an. Ich vermute, dass er irgendwann in der ungarischen k.u.k. Armee gedient hat. Sicher hatte er Brüder und Schwestern, aber gekannt habe ich keine.

Meine Großmutter, Maria Knöpfler, war eine geborene Fleischer. Ich nehme an, sie wurde in Budapest geboren, auf alle Fälle aber in Ungarn. Ihre Muttersprache war ungarisch. Sie war eine religiöse Frau. Die Großmutter trug meistens ein Kopftuch - meine Mutter glaubte, ihre Mutter hätte eine Perücke getragen. Wahrscheinlich war das selbstverständlich und man sprach nicht darüber. An Geschwister der Großmutter kann ich mich nicht erinnern.

Meine Großeltern waren religiös, aber sie führten keinen koscheren Haushalt 5, weil sie zusammen mit ihrer Tochter Magda lebten, die mit einem Christen verheiratet war. Den Schabbat 6 hielten sie, und jeden Freitag wurden Kerzen gezündet, solange das möglich war. Mein Großvater ging auch jeden Schabbat in die Synagoge. Die Synagoge, eine richtige große Synagoge, kein Bethaus, war in der Nähe ihrer Wohnung.

Ich kann mich sehr gut an die Sederabende 7 mit den Großeltern erinnern und auch daran, dass sie nie zu Ende gingen. Der Großvater hat von A bis Z alles durchgebetet, also die ganze Hagadah 8. Da hat man das Essen ständig unterbrochen, dann ist weiter gebetet worden.

Es wurde alles so gemacht, wie es in der Hagadah steht - er hat nicht einmal einen Beistrich oder einen Punkt ausgelassen. Ich habe den Großvater nach dem Krieg einige Male besucht, da saß er meistens in der Küche und rauchte eine lange Pfeife. Beide Großväter rauchten lange Pfeifen, und beide trugen den gleichen Schnurrbart. Der Großvater Knöpfler besuchte uns vor dem Krieg jeden Sommer für einige Wochen in Ober Waltersdorf.

Von Beruf war er Kaufmann, in welcher Branche weiß ich nicht, es war irgendetwas mit Textilien, nehme ich an. Den Holocaust überlebten die Großeltern in Budapest, versteckt von ihrer Tochter Magda und deren christlichen Ehemann. Meine Großmutter starb 1947 oder 1948, mein Großvater 1949 oder 1950, einige Jahre nach dem Krieg, in Budapest. Da war schon Kommunismus in Ungarn, und meine Mutter durfte nicht zum Begräbnis fahren; sie haben sie nicht reingelassen.

Die Großeltern hatten sechs Kinder. Meine Mutter wurde als Irene Knöpfler am 23. Jänner 1906 in Nitra geboren. Nitra ist in der heutigen Slowakei. Warum und wann die Familie von Nitra nach Budapest zog, weiß ich nicht. Meine Mutter war eine gelernte Schneiderin. Sie war sehr bewusst jüdisch, aber sie führte nie einen koscheren Haushalt, und wir feierten auch den Schabbat nicht. An den Feiertagen fuhren meine Eltern nach Baden oder nach Wien.

Die älteste Schwester meiner Mutter war die Tante Ilona Knöpfler. Ich glaube, sie wurde 1898 geboren. Sie heiratete nie und lebte immer mit uns zusammen - dadurch hatte ich zwei Mütter. Sie führte den Haushalt, weil meine Mutter immer arbeitete. Wir emigrierten zusammen nach Ungarn, gingen zusammen nach Wien und zusammen nach Argentinien. Sie starb am 5. Juni 1967 in Buenos Aires.

Der Onkel Manfred Knöpfler wurde 1901 geboren. Er war verheiratet mit einer Christin, leider half ihm das im Holocaust nicht - er wurde trotzdem deportiert. Er hatte einen Sohn Georg, der lebt noch heute in Budapest.

Tante Magda Joo, geborene Knöpfler, war mit Oszkar Joo verheiratet. Er war nicht jüdisch und arbeitete während des Krieges als Chauffeur in der Japanischen Botschaft. Wo er vor dem Krieg gearbeitet hat, weiß ich nicht. Sie hatten einen Sohn Alexander.

Die jüngste Schwester meiner Mutter wurde immer nur Nuschi genannt, ich weiß nicht, wie sie wirklich hieß. Sie war mit Manfred Schlanger verheiratet. Er war Jude, sie hatten zwei Kinder: Kathalina und Karoly. Manfred Schlanger war Kaufmann, aber ich weiß nicht mehr in welcher Branche. Sie überlebten den Holocaust versteckt in Budapest.

Anton Knöpfler, der jüngste Bruder meiner Mutter, wurde am 12. Dezember 1912 geboren. Er hatte einen kaufmännischen Beruf. Er war ein sehr sportlicher Mann. Er wurde in ein KZ deportiert, überlebte mit einem Gewicht von 32 Kilo. Nach dem Krieg heiratete er eine Belgierin und wanderte einige Monate nach dem Krieg aus Budapest nach Belgien aus. Dort starb er relativ jung in den 1960er-Jahren.

Meine Großeltern väterlicherseits und mütterlicherseits verstanden sich gut und so lange es ging, besuchten sie sich gegenseitig. Es war immer, trotz der Entfernung - die einen lebten in Österreich, die anderen in Ungarn - eine Verbindung da. Die Tanten, Onkel und mein Vater hatten alle ein Auto, so konnte man sich oft besuchen.

Meine Eltern waren sehr jung, als sie sich kennen lernten. Einige Jahre haben mein Vater und seine Geschwister in Budapest die Schule besucht. Die Geschichte von Mattersburg und vom Burgenland ist eine österreichisch- ungarische Geschichte.

Das Burgenland gehörte eine Zeit lang zu Ungarn, dann kam es zu Österreich. Mein Vater wuchs zweisprachig auf und absolvierte seine letzten zwei, drei Schuljahre aus irgendwelchen Gründen, in Budapest. In dieser Zeit lernte er wahrscheinlich auch meine Mutter kennen. Meine Eltern heirateten 1930 in Budapest in der Synagoge. Das war dieselbe Synagoge, in die mein Großvater immer zum Beten ging. Damals hieß die Straße Arena utca.

Nachdem meine Eltern geheiratet hatten, zog meine Mutter zu meinem Vater nach Ober Waltersdorf. Ober Waltersdorf ist heute ein Städtchen, damals war es ein Dorf. Aber es gab eine eigene Eisenbahnstation. Die nächste Synagoge war in Baden.

Vor uns war dort kein jüdisches Geschäft. Vielleicht ist das der Grund, weshalb sich meine Eltern dort ansiedelten. Aber vielleicht auch deshalb, weil das Dorf in der Nähe von Teesdorf lag, in dem meine Großeltern lebten. Der Verkaufsraum des Geschäfts bestand aus 100 Quadratmetern.

Es gab Lebensmittel frische Lebensmittel und Lebensmittel in Dosen, Wein, Bier, Seife und Textilkurzwaren - das waren Hemden, Unterhosen, Socken, Schürzen, Stoffe und Garne. Mein Vater hat auch Nähmaschinen verkauft, er hatte sogar eine Nähmaschinenvertretung.

Die Beziehung der Ober Waltersdorfer zu uns war bis zum März 1938 sehr gut. Ich weiß nicht, ob wir die einzigen Juden im Ort waren, vielleicht hat es aber noch zwei, drei jüdische Familien gegeben; mehr waren es aber sicher nicht.

  • Meine Kindheit

Ich wurde am 19. April 1932 in Baden geboren, denn in Ober Waltersdorf gab es kein Spital. An dem Tag meiner Geburt pflanzte mein Vater in unserem Garten einen Nussbaum. Vor einem Jahr fuhr ich mit meinem Sohn an dem Garten vorbei, der Nussbaum steht in voller Pracht.

Bevor meine Eltern das Geschäft in Ober Waltersdorf hatten, haben sie Urlaub am Plattensee gemacht, ich glaube, sie waren auch einmal in Italien. Später haben wir sehr oft gemeinsam Tagesausflüge zum Semmering oder auf die Rax gemacht, denn das Geschäft war nur sonntags geschlossen.

Meine Eltern waren zum Vergnügen auch sehr oft in Baden. Sie gingen dort ins Theater, in dem Operetten gespielt wurden, ins Kaffeehaus Withalm am Josefsplatz zum Tanz, und sie trafen sich oft mit der Schwester meines Vaters und hielten Familiensitzungen ab. Das Kaffeehaus Withalm gibt es noch heute. In Wien gingen meine Eltern bestimmt ins Kino.

Mein Vater hatte durch seine sportlichen Aktivitäten viele Bekannte. Sie trafen sich aber eher im Lokal, als bei uns zu Hause. Er spielte in der Fußballmannschaft und fuhr Motorradrennen, das Motorrad hatte einen Beiwagen, für Ober Waltersdorf. Der Fußballplatz war vis-à-vis von uns.

Für das Geschäft besaß mein Vater auch ein Mottorad, aber ein besonderes, denn er lieferte Ware und musste Ware einkaufen. Wir besaßen auch ein Auto, ich habe sogar noch den Beleg über die Konfiszierung des Autos durch die Nazis:

Im Jahre 1938, als wir bereits aus Ober Waltersdorf vertrieben waren, wurde unser Auto 'arisiert', das heißt gestohlen. Das lief alles sehr bürokratisch ab, wir bekamen diesen Brief mit einem Foto unseres Autos, in dem stand:

Ober-Waltersdorf, 17. Okt. 1938 Herrn Fritz Bischitz in Wien 2., Bezirk

Ich teile Ihnen mit, daß ihr Kleinauto vom ehemaligen Führer des Sturmes 35 (Kral) beschlagnahmt und zum Sitze des Sturmes nach Leobersdorf gebracht wurde. Wo sich das Auto dzt. befindet, ist mir unbekannt.

der Führer des Sturmes 18/84.

Selbst das Fahrrad haben sie konfisziert.

Mein Vater war ein großer Hobbyfotograf. Ich glaube, er hatte eine deutsche Kamera, die Voigtländer hieß. Eine Leica hat er sich sicher nicht leisten können. Eine Zeitlang bildete er sich ein, er könne aus seiner Fotografie- Leidenschaft einen Beruf machen und er studierte sogar ein oder zwei Jahre nebenbei Fotografie. Da es noch keine Farbfotos gab, lernte er, die Fotos zu kolorieren. Mit Fotofarben, die waren in kleinen Fläschchen und mit Pinseln, hat er die Fotos bemalt: das war eine Kunst.

Er war ein lustiger und temperamentvoller Mensch und hatte einen ausgeprägten Humor. Ich habe sehr viel in den ersten Jahren meines Lebens gelacht, weil mein Vater so ein lustiger Mensch war. Aber er stritt auch viel und oft mit jedem, und wenn er sich aufregte, dann brüllte er, das war kein Schreien mehr.

Er stritt mit meiner Mutter, mit meiner Tante, mit mir und mit jedem. Da brüllte er sich aus, dann war er beruhigt. Fünf Minuten lang war er böse mit der ganzen Welt und dann war wieder alles in Ordnung. Er konnte sich über alles aufregen, was ihm nicht passte. Manchmal raufte er auch. Sogar als er schon ein älterer Mann war. Er hatte einen Kunden in Argentinien, der nicht zahlen wollen, den wollte er verprügeln.

Meine Mutter sprach Deutsch mit ungarischem Akzent. Sie war auch sehr lustig, hatte eine wunderbare Stimme und sang gern ungarische Volkslieder und Lieder aus Operetten. Sie arbeitete sehr gern im Geschäft, der Haushalt war nicht so sehr ihre Sache. Tante Ilona hat den Haushalt geführt. Tante Ilona war von Anfang an da. Als meine Eltern heirateten, kam sie mit. Sie kochte wunderbar. Mittags wurde das Geschäft geschlossen und wir aßen alle gemeinsam.

Es gab Bekannte im Ort, die waren am Anschlusstag 9 sofort bei uns. Nicht alle, aber einige holten sich Sachen von uns. 1938 kam der Onkel Oszkar, der Mann der Tante Magda aus Budapest - er war ja Christ - und holte uns alle nach Ungarn.

Mich holte hat er zum Beispiel mit den Papieren seines Sohnes geholt, und die anderen mit gefälschten Papieren. Das passierte langsam, im Laufe von einigen Monaten. Er holte meine Mutter, meinen Vater, meine Tante Ilona und mich. Er hat uns alle gerettet.

In Budapest mieteten wir im 13. Bezirk, das war ein Arbeiterbezirk, ein Zimmer in einer großen Wohnung einer ungarisch-jüdischen Familie. Die Küche und das Bad durften wir mitbenutzen.

Ich kam dann in die erste Klasse, ich war sechs Jahre alt. Das war eine ganz normale staatliche Schule, es gab ein paar Juden, aber nicht allzu viele. Zuerst kam ich mit der ungarischen Sprache nicht richtig zurecht, aber ich lernte die Sprache schnell.

Mein Vater und seine Geschwister gingen ja in Budapest eine Zeitlang in die Schule und waren dort berüchtigt. Sie besaßen einen eher ausgefallenen Witz und waren bekannt für ihre Streiche. Als ich das erste Mal in die Schule kam, wurde ich dem Direktor als Flüchtling vorgestellt.

Der Direktor war ein ehrwürdiger alter Herr mit gestreifter Hose und weißem Bart, und er fragte mich: 'Na, wie heißt du?' ,Bischitz.' Bischitz', wiederholte er und dachte eine Weile nach. 'Bist du irgendwie mit einem Fritz Bischitz verwandt?' 'Ja, das ist mein Vater.' 'Um Gottes Willen, jetzt schickt er mir auch noch seinen Sohn.' Also, an die Bischitz Kinder konnte er sich genau erinnern.

Meine Eltern fanden Arbeit, die Mutter als Schneiderin, der Vater zuerst als Lastwagenchauffeur in einer Lederfabrik, und sie verdienten so viel, dass wir genug zu essen hatten.

Bis 1942 arbeiteten meine Eltern und ich durfte in die Schule gehen. Ich war sogar ein relativ guter Schüler. Ab 1942 gab es die Judengesetze 10. Meine Eltern hatten sich nie für Politik interessiert. Der einzige der Familie, der gern politisierte, schon als Kind, war ich. Als ich neun oder zehn Jahre alt war, hörte ich oft heimlich am Abend Radio London in ungarischer Sprache. Ich wusste, dass die Invasion in der Normandie begonnen hatte.

In unserem Haus wohnten ziemlich viele Juden. Die Familie, bei der wir wohnten, hatte eine Tochter, die war zwei, drei Jahre älter als ich. Ich habe oft mit ihr gespielt. Das Haus wurde, als die Deutschen 1944 einmarschierten, zum so genannten 'jüdischen Haus' deklariert.

Ein großer Judenstern wurde aufs Haus gemalt und viele Juden darin zusammengepfercht. Dadurch konnten wir aber dort wohnen bleiben, wir mussten nicht in ein anderes 'jüdisches Haus' übersiedeln. Wir durften zwei Stunden in der Früh und zwei Stunden am Abend einkaufen gehen, aber als das Tragen des Judensterns Pflicht wurde, war es für uns gefährlich.

Ich las, beschäftigte mich mit Politik, und ein älterer Herr, der auch im Haus lebte, hat mir das Schachspielen beigebracht. Wir spielten gemeinsam Schach und politisierten dabei. Ihm gehörte ein Ledergeschäft, das sich im selben Haus befand. Er überlebte den Holocaust und wurde sehr alt.

  • Während des Krieges

Zuerst wurde mein Vater Soldat der ungarischen Armee, weil er falsche Papiere hatte. Dann kamen sie dahinter, dass er Jude war, und er wurde zum Arbeitsdienst eingezogen, ich glaube, das war 1942. Er wurde nach Russland geschickt.

In Russland rettete mein Vater eine Thorarolle aus einem Museum. Das Museum wurde geplündert und angezündet. Statt sich Juwelen zu nehmen, rettete mein Vater die Thorarolle. Er rettete sie über den ganzen Krieg und schenkte sie danach der Synagoge, in der er meine Mutter geheiratet hatte.

Heute gibt es die Synagoge nicht mehr, die Kommunisten haben sie zu einem Speicher umgebaut. Ich kenne das Gebäude, ich war dort und habe es mir angeschaut. Was mit der Thorarolle geschah, die mein Vater gerettet hatte, weiß ich nicht. Als die Russen dann vormarschierten, schaffte es mein Vater nach Ungarn zurückzukommen.

Bevor das Ghetto 1944 in Budapest nach dem Einmarsch der Deutschen entstand, wurden jüdische Frauen, Männer waren ja fast keine mehr da, deportiert; auch meine Mutter. Meine Tante Ilona war etwas verkrüppelt und gehbehindert, sie wurde nicht deportiert, sie ging mit mir zusammen ins Ghetto.

Sie versuchte immer, mich zu beschützen. Ich war groß gewachsen, das war ein Problem, weil sie mich fast deportiert hätten. Sie wollten nicht glauben, dass ich erst zwölf Jahre alt bin. Ich sah mit meinen zwölf Jahren aus wie Fünfzehn. Darum ging ich dann immer gebückt. Als wir ins Ghetto marschierten, holten sie auch noch Leute aus den Reihen, um sie zu deportieren. Im Ghetto lebten zehn Menschen in einem Zimmer.

Als die Alliierten begannen, Budapest 1944 zu bombardieren, freute ich mich über jede Bombe. Wir wussten, wenn man das Pfeifen der Bomben hörte, war die Gefahr, getroffen zu werden, vorüber. Ich hatte keine Angst. Ich war noch ein Kind, aber in dieser Zeit wurde ich erwachsen, das war ein komisches Gefühl.

Wir hatten die Adresse meiner Tante Magda und des Onkels Oszkar. Dadurch fand mich mein Vater nach seiner Rückkehr aus Russland, weil Onkel und Tante immer wussten, wo wir waren. Es war besprochen, dass man im Notfall und unter Lebensgefahr, zur Tante und zum Onkel gehen konnte.

Mein Onkel holte mich aus dem Ghetto, als er erfuhr, dass das Ghetto angezündet werden sollte. Er kam und brachte eine Lederjacke mit Pfeilkreuzler Armband 11 für mich ins Ghetto, ich weiß nicht, woher er die hatte. Gemeinsam marschierten wir mit einem 'Heil Hitler' aus dem Ghetto.

Mein Onkel brachte mich dann mit gefälschten Papieren in einem Kloster unter. Nach zwei Wochen, am Weihnachtsabend 1944, kamen Pfeilkreuzler in das Schlafzimmer des Klosters, ich glaube, wir waren zwanzig Buben dort. Ich wusste, dass ich Jude bin, aber ich wusste nichts über die anderen Burschen, und die anderen wussten nichts über mich.

In vielen Klöstern waren Juden versteckt. Die Pfeilkreuzler kamen mitten in der Nacht und sagten: 'Alle aufdecken!' Und dann gingen sie von Bett zu Bett, entdeckten sofort die beschnittenen Juden. Ich war zufällig der Letzte in der Reihe. Ich bin ein sehr ruhiger Mensch, aber in diesem Moment brüllte ich: 'Von mir aus nehmt's diese ganzen Saujuden jetzt mit, aber ich will schlafen', zog mir die Decke über den Kopf, drehte mich um, und die gingen wieder.

Eigentlich durfte niemand das Kloster verlassen, aber ich dachte, ich muss da raus, die kommen wieder. Im Kloster stand ein alter Ofen, den schulterte ich, ging hinaus, stellte den Ofen hin und ging zu meiner Tante und meinem Onkel. Drei Tage später wurden alle Juden aus dem Kloster abgeholt.

Sie wurden zur Donau geführt, ins Wasser getrieben und erschossen. Ich erfuhr das einen Monat nach der Befreiung. In der Zeitung stand eine Annonce: die Eltern eines Jungen, der in diesem Kloster versteckt war suchten Verbindung mit jemandem, der ihnen etwas erzählen könnte. Sie haben mir dann erzählt, dass kein jüdisches Kind, außer mir, überlebt hat.

Mein Onkel stahl in der japanischen Botschaft, seiner Arbeitsstelle, Briefpapier und konnte dadurch Papiere fälschen. Er brachte mich in ein Schwedenhaus, in dem ich meinen Vater wiedertraf. Mein Vater und ich waren dann die letzten zwei Monate des Krieges in einem von Wallenbergs 12 geschützten Schwedenhäusern. Da hungerten wir und hatten nichts mehr zum Anziehen. Einige Male sah ich Wallenberg. Immer trug er einen Anzug und Stiefel, daran erinnere ich mich. Über meine Mutter wussten wir zu dem Zeitpunkt nichts.

In unserem Haus gab es eine Art Widerstandsbewegung. Die gingen auf die Strasse, versuchten Lebensmittel zu besorgen und schauten nach den Russen. Ein einziges Mal kamen zwei Deutsche in unser Haus. Die kamen herein, aber gingen nicht mehr hinaus. Die Mitglieder der Widerstandsbewegung brachten sie um. Es wurde sehr viel bombardiert und geschossen.

Dann, auf einmal flog die Tür auf und die Russen waren da. Wir begrüßten sie natürlich sehr freudig. Sie waren nicht besonders freundlich zu uns, aber für uns waren sie der liebe Gott. Leider habe ich dann den gelben Stern zerrissen, den hätte ich mir aufheben können.

Mein Vater, Tante Ilona und ich wohnten danach bei Tante Magda und Onkel Oszkar. Der Onkel Oszkar hat cirka dreißig Verwandten, auch weitläufigen, das Leben gerettet. Wir haben bei Yad Vashem 13 eingereicht, dass in der Straße der Gerechten 14 für ihn ein Baum gepflanzt wird. Tante Magda starb 1984 in Budapest.

Es hingen Listen vom Roten Kreuz mit Überlebenden in der Stadt, da ging ich jeden Tag hin und entdeckte eines Tages den Namen meiner Mutter. Auf der Liste stand: Irene Bischitz, Überlebende KZ Dachau. Meine Mutter war in einem amerikanischen Spital in Deutschland, sie wog nur noch 35 Kilo. Von dort hatte sie schon nach Ober Waltersdorf geschrieben, weil wir mit ihr besprochen hatten, entweder treffen wir uns bei der Tante in Budapest oder in Ober Waltersdorf.

Mein Vater und ich waren in der Zwischenzeit mit russischen Soldaten - zu dieser Zeit gab es keine Grenze und man brauchte keine Dokumente - nach Wien gekommen, um meine Mutter zu suchen. Von Wien gingen wir zu Fuß nach Ober Waltersdorf aufs Gemeindeamt und die sagten: ,Ja, die Frau Bischitz hat geschrieben, wir wissen wo sie ist, wir werden sie offiziell verständigen, dass der Herr Bischitz und sein Sohn überlebt haben.' So hat meine Mutter erfahren, dass wir leben. Wir trafen uns dann in Budapest und gingen gemeinsam nach Wien.

Meine Eltern dachten keine Sekunde daran, nach Ober Waltersdorf zurück zu gehen. In Wien bekam mein Vater für uns eine zerbombte Wohnung, weil er versprach, sie wieder in Ordnung zu bringen. Er eröffnete ein Textilgeschäft im selben Haus.

Ich ging ins Gymnasium in der Zirkusgasse im 2. Bezirk. Ich musste mich auf die deutsche Sprache umstellen, aber in diesem Alter dauert das einen Monat, oder zwei, das war kein Problem. Ein Problem waren die Schulbücher, die noch aus der Nazizeit waren. Die Texte waren in gotischer Schrift, die konnte ich nicht lesen, das musste ich lernen.

Ich nehme an, dass die meisten Lehrer Nazis waren - natürlich gaben sie es nicht zu - trotzdem hatte ich nie ein Problem. Ich sagte sofort jedem, dass ich Jude bin. Ich war ziemlich groß und ziemlich kräftig und sehr stolz darauf. . Ich wurde Mitglied der Hakoah 15, war Schwimmer und Wasserballer. Manchmal stand ich sogar in der Zeitung.

In der Schule war ich hundert Prozent integriert, Freunde hatte ich aber nur innerhalb der Hakoah; ich hatte nie einen christlichen Freund. Wahrscheinlich hat es sich nicht ergeben oder unbewusst wollte ich nicht.

  • Nach dem Krieg

Wir lebten bis 1951 im 2. Wiener Gemeindebezirk. Der 2. Bezirk gehörte zur russischen Zone, denn Wien war nach dem Krieg von den Alliierten in vier Zonen aufgeteilt worden. Dann brach der Koreakrieg 16 aus. Meine Eltern glaubten, jetzt käme der nächste Weltkrieg, und ich würde ich zum Militär müssen.

Sie wollten weg und zwar in ein Land, wo es keinen Militärdienst gab: also nicht nach Amerika, nicht nach Kanada, nicht nach Australien. Und so kamen sie auf Argentinien. In Argentinien gab es nur einen Militärdienst für in Argentinien Geborene. Ein Teil der Familie Glaser hatte dort überlebt, und sie schickten uns ein Affidavit.

Ich ging nicht gern aus Wien weg. Ich war 19 Jahre alt, hatte in Wien meine Freunde und den Sport. Aber dass ich rebelliert hätte oder dass ich allein dageblieben wäre, das wäre mir nicht eingefallen. Gut, die Aussicht, ein russischer Soldat zu werden, gefiel mir auch nicht.

Aber ich wäre lieber nach Amerika gefahren, die Amerikaner waren mir immer sympathisch. In der Schule hatte ich Englisch gelernt und mir im Kino amerikanische Filme angesehen - aber meine Eltern wollten nicht nach Amerika. Einige Monate vor unserer erneuten Flucht nahm ich Spanisch-Unterricht.

Zuerst fuhren wir mit dem Zug nach Genua und von Genua mit dem Schiff nach Argentinien. Es war eine schöne Reise, und es war ein Abenteuer für mich. Ich hatte nie Tagebücher geschrieben, aber von dieser Reise besitze ich ein Tagebuch. Unsere Verwandten holten uns vom Hafen in Buenos Aires ab. Sie hatten für uns fürs erste ein Zimmer in einer Pension gemietet.

Wir kamen nicht als Reiche nach Argentinien, aber wir waren auch nicht arm. Zuerst waren wir zu dritt, Tante Ilona kam erst ein paar Monate später, weil ihre Papiere nicht rechtzeitig fertig geworden waren. Meine Eltern hatten große Angst vor dem Koreakrieg. Das war keine Flucht von heute auf morgen, aber als unsere Papiere fertig waren, kauften sie sofort die Schiffskarten.

Am nächsten Tag erkundigte ich mich, ob es einen jüdischen Sportklub gäbe und trat diesem sofort bei. Ich spielte weiter Wasserball, schwamm und die Mitglieder des Sportklubs wurden meine Bekannten; Argentinier, einige Söhne von Emigranten und einige, die vor dem Holocaust eingewandert waren.

Ich habe begonnen zu arbeiten, denn an Schule war nicht zu denken. Ich hätte alles nostrifizieren müssen. In Wien hatte ich die Matura an der Handelsakademie gemacht, aber ich hätte in Argentinien wahrscheinlich monatelang lernen und Prüfungen ablegen müssen; das wollte ich nicht. Mein Vater beteiligte sich dann an einer Textildruckerei, da arbeitete ich mit.

Mein Vater hatte zwei Kompagnons, und nach einem Jahr hatte er keinen Kompagnon und auch fast kein Geld mehr. Das geht in Argentinien schnell. Dann eröffneten meine Eltern eine Strickerei, die sich gut entwickelte. Wir arbeiteten alle in der Strickerei, auch meine Frau, nachdem wir geheiratet hatten.

In das Haus, in dem wir gewohnt haben, kamen neue Emigranten: Tschechen, Österreicher und eine ungarische Familie mit einer Tochter. Die Tochter ging mit meiner zukünftigen Frau zusammen in die Schule. So haben wir uns kennen gelernt. Wir waren ein Jahr verlobt und dann hatten wir eine jüdische Hochzeit in der großen Synagoge in Buenos Aires.

Der Mädchenname meiner Frau ist Ida Lubowicz. Sie wurde am 27. Juli 1937 in Luzk [heute Ukraine], damals war das Polen, geboren. Bis Kriegsende lebte sie mit ihren Eltern versteckt in Polen. Dann emigrierten sie nach Italien, und 1951 wanderten sie nach Argentinien aus.

Die Muttersprache meiner Frau ist Jiddisch. Meine Frau kann kein Wort Polnisch, sie sprachen nur Jiddisch zu Hause. Die ersten Jahre ging sie in Italien in die Schule. Sie maturierte in Argentinien, dann arbeitete sie mit mir und meinen Eltern in der Strickerei.

Meine Frau hat zwei Brüder: ein Bruder ist älter als sie, der andere ist nach dem Krieg geboren. Meine Schwiegereltern und ihre Kinder waren die einzigen Überlebenden einer ehemals riesengroßen Familie. Meine Frau fuhr einmal nach dem Krieg mit ihrer Mutter nach Polen, sie wollten nach Verwandten suchen. Sie fanden niemanden; alle waren ermordet worden, aber sie wurde, ein damals 16 jähriges Mädchen, auf der Straße als Saujüdin beschimpft.

Wir bekamen zwei Kinder. Unser Sohn Roberto Bischitz wurde am 5. November 1959 in Buenos Aires geboren, und unsere Tochter Deborah Weicman, geborene Bischitz, am 19. April 1965. Unsere Kinder wurden selbstverständlich jüdisch erzogen.

Beide maturierten in Buenos Aires in der Pestalozzi Schule. Das war eine zweisprachige Privatschule für Deutsch und Spanisch - da lernten sicher 50 bis 60 Prozent jüdische Kinder. Unsere Kinder gingen in Jugendgruppen, die sich einmal in der Woche in der Synagoge trafen und zu den Feiertagen gingen wir immer gemeinsam in die Synagoge. Mein Sohn bekam mit dreizehn Jahren natürlich die Bar Mitzwa 17.

Mein Schwiegervater und ich haben uns sehr gut verstanden. Ich habe ihn 15 Jahre vor seinem Tod als kräftigen und sehr gescheiten Geschäftsmann kennen gelernt. Ich liebte meine Schwiegereltern und sie liebten mich - wir hatten ein schönes Familienleben. Meine Schwiegermutter zündete jeden Freitag Kerzen an und ging in die Synagoge.

Innerhalb von zwei Jahren starben meine Eltern und meine Schwiegereltern. Mein Vater starb 1971, meine Mutter 1973. Mein Schwiegervater hatte einen Schlaganfall und war sieben Jahre gelähmt, bevor er starb, meine Schwiegermutter starb an Krebs.

Die wirtschaftliche Lage in Argentinien wurde immer schlimmer. 1984 übersiedelten wir nach Wien. Ich hatte Argentinien nie gern, ich gewöhnte mich nie an die südamerikanische Mentalität: an Unpünktlichkeit, an die Zahlungsmoral der Leute, an das Klima; ich dachte immer anders als die Argentinier.

Wahrscheinlich blieb ich immer ein Europäer. Meine Frau war zu dieser Zeit eine begeisterte Argentinierin. Sie hatte ihre zwei Brüder und deren Familien in Buenos Aires. Heute kann man in Argentinien überhaupt nicht mehr leben, es ist furchtbar: Arbeitslosigkeit, Armut und alle drei Stunden passiert ein Mord.

Wir gingen also nach Wien und wohnten zuerst im 7. Bezirk. In Wien habe ich als Handelsvertreter gearbeitet, ich hatte Textilvertretungen aus Portugal.

Mein Sohn war 25 Jahre alt und hatte in Argentinien eine argentinische Christin geheiratet. Auch die Schwiegertochter kam mit nach Wien. Sie arbeitete und mein Sohn besuchte ein paar Jahre die Technische Universität. Er wollte Ingenieur werden, unterbrach aber dann das Studium. Er ist selbständig und unterrichtet im Fach Rhetorik.

Wir haben eine Enkeltochter, Nastassia, das ist die Tochter meines Sohnes. Sie lebt mit ihrer Mutter in Buenos Aires. Die Ehe ging auseinander, und meine Schwiegertochter ging mit dem Kind nach Argentinien zurück. Mein Sohn blieb in Wien und fliegt so oft er kann nach Argentinien. Jetzt, wo Nastassia größer ist, kommt sie einmal im Jahr nach Wien und bleibt ein, zwei Monate hier.

Meiner Tochter gefiel es in Österreich nicht. Sie arbeitete einige Zeit als Verkäuferin beim Schöps [Textilkette] am Stephansplatz. Aber sie ist ein richtiges Holocaust-Opfer der zweiten Generation; sie will mit Deutschen und mit Österreichern nichts zu tun haben. Sie hat uns gesagt: Ich bin Argentinierin und habe in Österreich nichts verloren. Dann fuhr sie zurück. Sie arbeitete in Buenos Aires als dreisprachige Sekretärin, aber im Moment ist sie leider arbeitslos.

Sie ist eine ganz besonders gute Jüdin, aber sie ist nicht religiös. Genauso wie für mich, wäre es für sie nie in Frage gekommen, keinen Juden zu heiraten. Sie hat natürlich in der Synagoge geheiratet, das war für sie selbstverständlich. Mein Sohn ist diesbezüglich anders.

Wir waren einige Male in Israel. Ich bin kein Zionist, ich war nie Zionist, aber es gefiel mir. Ich bin uneingeschränkt pro-israelisch, aber meine Frau und ich haben nie daran gedacht, in Israel zu leben. Es hat uns gut gefallen, aber wir waren Touristen, und wir haben gewusst, dass wir Touristen sind.

Ich war sehr oft geschäftlich in Ungarn, jahrelang war ich einmal die Woche in Budapest. Wenn ich die alten Ungarn sehe, dann sehe ich sie vor mir in der Pfeilkreuzler Uniform. Ich habe die Ungarn nicht gern, Budapest ist eine schöne Stadt, aber Gott behüte dort leben zu müssen!

Bis zu Haider 18 hatte ich die Vergangenheit verdrängt, das ist mir gelungen, bewusst oder unbewusst. Ich schau mir keine KZ Filme an, ich lese keine Bücher über KZs. Meine Frau schaut sich immer solche Filme an. Nach dem Haider hat sich dann doch irgendwie die Vergangenheit aufgetan.

Ich habe an den Österreich-Anschluss und an die Verfolgung in Österreich keine Erinnerung. Ich hasse nur die Ungarn, für mich sind die Nazis die Ungarn. Ich bin gern Österreicher, man kann fast sagen ich liebe Wien. Ich bin gern hier, ich habe nicht das Problem, das die meisten Leute, auch meine Frau, haben, wenn sie alte Menschen sehen.

Wenn die zum Beispiel schöne Juwelen tragen, fragt sie sich immer: Von welchem toten Juden stammen die? Das würde mir in Ungarn so gehen. Ich habe in der Schule immer nur in Ungarn gerauft, weil sie mich Saujud nannten; das war nicht in Wien. Ein einziges Mal habe ich mich gerächt. Am ersten Tag nach der Befreiung habe ich den Burschen verprügelt, der mich in der Schule immer gequält hatte. Ich habe ihn gesucht, gefunden, und verprügelt.

Ich hatte später in meinem Geschäftsleben in Wien ein paar jüdische Kunden. Alle anderen Kunden wussten, dass ich Jude bin, aber ich hatte nie ein Problem. Ich habe nie ein Geheimnis daraus gemacht. Außerdem schaue ich ja wahrscheinlich jüdisch aus und die Österreicher - ich kenne meine Landsleute - die riechen irgendwie den Juden.

Ich weiß, dass sie Antisemiten sind. Ich habe es nur nie an meiner Person gespürt. Ich weiß, dass sie gemordet haben, ich weiß, dass verhältnismäßig viel mehr Österreicher in der SS waren, als Deutsche. Ich weiß alles genau. Ich weiß auch ganz genau, dass die Ungarn ärgere Antisemiten sind und die Polen und die Ukrainer noch ärgere. Sicher ist mir das bewusst, dass sie es sind: unbewusst und versteckt und heutzutage nicht mehr so versteckt, das weiß ich auch.

Ich habe mich nach meiner Rückkehr nach Wien wirklich gut gefühlt, zu Hause gefühlt. Über den Waldheim 19 hatte ich mich aber nicht sehr aufgeregt. Ich meine: Wenn dieser Mann zweimal hintereinander Generalsekretär der UNO war, dann hatten sie ihn ja wirklich auf Herz und Nieren geprüft. Ich bin auch heute noch überzeugt davon, dass er eigentlich kein Nazi war, er ist nur ein Lügner und ein Opportunist. Der hat die Vergangenheit auf seine Art bewältigt, in dem er sie verdrängt hat.

Mit dem Haider habe ich meine Probleme. Ich bin überzeugt davon, dass er nie Bundeskanzler wird, nur war ich auch überzeugt davon, dass seine Partei, die FPÖ nie mehr als zehn Prozent der Wählerstimmen kriegen würde und dann bekam sie 25 Prozent! Aber jetzt glaube ich, es ist mit Haider vorbei.

Den Antisemitismus gab es immer und wird es immer geben. Ich weiß nicht, wer das gesagt hat: Antisemitismus ist kein Problem der Juden, es ist ein Problem der Antisemiten. Nur müssen wir damit leben.

Wir wohnen in einem Haus der Jüdischen Gemeinde. Seitdem wir hier wohnen, ist unser jüdisches Leben aktiver. Wir bekommen die Gemeindezeitung und gehen zu Veranstaltungen. Wir gehen auch einmal im Monat zum Treffen der alten Hakoaner im Café Schottenring. Ich sage immer:

Wer in Wien mit diesen wenigen Juden ein jüdisches Leben leben will, der kann jeden Tag irgendeine Veranstaltung haben - das ist kein Problem. Wir leben kein religiöses jüdisches Leben, sondern ein gesellschaftlich jüdisches Leben. Zu den hohen Feiertagen gehen wir aber selbstverständlich in die Synagoge.

Meine Frau hat sich eigentlich nie richtig in Wien eingelebt. Wir haben unser Enkelkind in Argentinien, und sie ist sehr eng verbunden mit ihrem jüngeren Bruder in Argentinien. Es tut ihr natürlich weh, dass sie die Familie in Argentinien so selten sieht.

Aber seitdem wir hier in dem Haus sozusagen unser eigenes 'Ghetto' gegründet haben, geht es ihr besser. Es hat aber vielleicht auch damit zu tun, dass sie sich in Argentinien nicht mehr zu Hause fühlen kann. Und aus Wien weggehen, dafür sind wir schon zu alt.

  • Glossar:

1 ESRA: 1994 gegründet, bemüht sich das psychosoziale Zentrum ESRA um die medizinische, therapeutische und sozialarbeiterische Versorgung von Opfern der Shoah und deren Angehörigen sowie um die Beratung und Betreuung von in Wien lebenden Juden; weiters bietet ESRA Integrationshilfen für jüdische Zuwanderer.

2 k.u.k. steht für 'kaiserlich und königlich' und ist die allgemein übliche Bezeichnung für staatliche Einrichtungen der österreichisch- ungarischen Monarchie, z.B.: k.u.k. Armee; k.u.k. Zoll; k.u.k. Hoflieferant...

3 Theresienstadt [Terezin] : Ende des 18. Jahrhunderts gegründete Garnisonsstadt in der heutigen Tschechischen Republik, die während der Zeit des Nationalsozialismus zum Ghetto umfunktioniert wurde. In Theresienstadt waren 140.000 Juden interniert, die meisten aus dem Protektorat Böhmen und Mähren, aber auch aus Mittel- und Westeuropa. Nur etwa 19,000 der Menschen, die in Theresienstadt waren, überlebten.

4 Jom Kippur: der jüdische Versöhnungstag, der wichtigste Festtag im Judentum. Im Mittelpunkt stehen Reue und Versöhnung. Essen, Trinken, Baden, Körperpflege, das Tragen von Leder und sexuelle Beziehungen sind an diesem Tag verboten.

5 Koscher [hebr.: rein, tauglich]: den jüdischen Speisegesetzen entsprechend.

6 Schabbat [hebr.: Ruhepause]: der siebente Wochentag, der von Gott geheiligt ist, erinnert an das Ruhen Gottes am siebenten Tag der Schöpfungswoche. Am Schabbat ist jegliche Arbeit verboten. Er soll dem Gottesfürchtigen dazu dienen, Zeit mit Gott zu verbringen. Der Schabbat beginnt am Freitagabend und endet am Samstagabend.

7 Seder [hebr.: Ordnung]: wird als Kurzbezeichnung für den Sederabend verwendet. Der Sederabend ist der Auftakt des Pessach-Festes. An ihm wird im Kreis der Familie (oder der Gemeinde) des Auszugs aus Ägypten gedacht.

8 Hagadah od.Haggadah od. Haggada [hebr: 'Verkündung/Erzählung']:Büchlein, das am Sederabend beim Festmahl mit der Familie gemeinsam gelesen und gesungen wird. Das Buch beschreibt das Exil in Ägypten und den Auszug in die Freiheit.

9 Anschluss: Der Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich. Nach dem Rücktritt von Bundeskanzler Schuschnigg am 11. März 1938 besetzten in ganz Österreich binnen kurzem Nationalsozialisten alle wichtigen Ämter. Am 12. März marschierten deutsche Truppen in Österreich ein. Mit dem am 13. März 1938 verlautbarten 'Verfassungsgesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich' war der 'Anschluss' de facto vollzogen.

10 Judengesetze: Bezeichnung für Gesetze, deren Ziel die Benachteiligung von Juden ist. Herausragende Bedeutung nehmen dabei die im Dritten Reich erlassenen Nürnberger Gesetze ein.

11 Pfeilkreuzler: 1937 aus der von Ferenc Szalási gegründeten 'Partei des nationalen Willens' hervorgegangene faschistische Bewegung. Nach dem Versuch der Regierung unter Miklós Horthy, einen Separatfrieden mit den Alliierten zu schließen, übernahmen die Pfeilkreuzler im Oktober 1944 die Macht in Ungarn.

Mit ihrer Hilfe wurde von den Deutschen im November 1944 die zweite Deportationswelle durchgeführt. In Terroraktionen ermordeten Pfeilkreuzler bis zur Befreiung durch die sowjetische Armee im Januar 1945 noch mehrere tausend Budapester Juden.

12 Wallenberg, Raoul [1912-?]: 1944 schickte die schwedische Regierung Wallenberg nach Budapest, um Maßnahmen zur Rettung der dortigen Juden anzustreben. Wallenberg verteilte Schutzpässe und organisierte die Unterbringung seiner Schützlinge in über 30 Schutzhäusern.

Die schwedischen Schutzhäuser bildeten zusammen u. a. mit denen Spaniens ein internationales Ghetto, in dem sich etwa 30.000 Menschen befanden. Zusammen mit anderen Diplomaten gelang es Wallenberg, diese Juden vor dem sicheren Tod zu bewahren. Wallenberg wurde 1945 von den Sowjets gefangengenommen und nach Moskau verschleppt. Dort verliert sich seine Spur. Laut Angaben der Sowjetunion ist Wallenberg 1947 in einem Moskauer Gefängnis gestorben.

13 Yad Vashem: Nationale Gedenkstätte in Jerusalem zur Erinnerung an die Verfolgung und Ermordung von Juden durch Nationalsozialisten.

14 Allee der Gerechten: Allee in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem, an der Bäume gepflanzt wurden, die an jene nicht-jüdischen Menschen erinnern soll, die Juden während des Naziregimes beigestanden haben.

15 Hakoah [hebr.: Kraft]: 1909 in Wien gegründeter jüdischer Sportverein. Bekannt wurde vor allem die Fußballmannschaft [1925 österreichischer Meister]; der Verein brachte auch Ringer, Schwimmer und Wasserballer hervor, die internationale und olympische Titel errangen. Nach dem Anschluss Österreichs 1938 an das Deutsche Reich wurden die Spielstätten beschlagnahmt und der Verein 1941 verboten.

16 Koreakrieg: Koreakrieg [1950 - 1953]: Krieg zwischen Demokratischen Volksrepublik Korea [Nordkorea] und ihren chinesischen Verbündeten auf der einen Seite und der Republik Korea [Südkorea], die von UNO-Truppen [vor allem US-amerikanischen] unterstützt wurde, auf der anderen Seite.

Er brach am 25. Juni aus, und beide Parteien eroberten wechselseitig beinahe die gesamte koreanische Halbinsel. Letzten Endes führte er wieder zu der Ausgangsposition zurück und zementierte die Teilung Koreas ein. Er endete am 27. Juli 1953 mit der Unterzeichnung eines Waffenstillstandsabkommens, das bis heute in Kraft ist.

17 Bar Mitzwa: [od. Bar Mizwa; aramäisch: Sohn des Gebots], ist die Bezeichnung einerseits für den religionsmündigen jüdischen Jugendlichen, andererseits für den Tag, an dem er diese Religionsmündigkeit erwirbt, und die oft damit verbundene Feier. Bei diesem Ritus wird der Junge in die Gemeinde aufgenommen.

18 Haider, Jörg [geb.1950]: österreichischer Politiker der BZÖ, einer Abspaltung der rechtsextremen FPÖ. Ab 1979 war er Abgeordneter der FPÖ im Nationalrat. 1986 Parteivorsitzender. 1989 - 1991 sowie 2004 bis heute Landeshauptmann von Kärnten.

Haider hat wiederholt fremdenfeindliche, rassistische, antisemitische und das NS-Regime verharmlosende Aussagen getätigt. Im Jahr 2000 war Haider an der Bildung einer Koalitionsregierung zwischen ÖVP und FPÖ maßgeblich beteiligt, was international zu Protesten bis hin zu diplomatischen Sanktionen durch die EU führte.

19 Waldheim, Kurt [geb. 1918]: österreichischer christlich-demokratischer Politiker. 1968 - 1970 Außenminister; 1964 - 1968 und 1970 - 1971 war er Botschafter Österreichs bei den Vereinten Nationen. Als Waldheim-Affäre wird die Aufdeckung der NS-Vergangenheit Waldheims im Zuge des Präsidentschaftswahlkampfes 1986 bezeichnet.

Waldheim konnte die Mitgliedschaft in der SA sowie im NS-Studentenbund nachgewiesen werden. Des Weiteren hat er über seinen Dienst in der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg gelogen. Andere Unterstellungen [Beteiligung an Kriegsverbrechen] erwiesen sich jedoch als haltlos.