Eva Dombrowski

Eva Dombrowski
Wien
Österreich
Interviewer: Tanja Eckstein
Datum des Interviews: Januar 2003

Frau Eva Dombrowski ist eine lebhafte, wenn sie lacht, mädchenhaft wirkende große und schlanke 74jährige Dame.

Eigentlich wollte sie mir kein Interview geben, denn die Erinnerungen an ihre Kindheit sind schön und zugleich sehr traurig.

Sie hatte eine wunderbare große Schwester, die sie sehr geliebt hat und die mit ihrer kleinen Tochter im Holocaust ermordet wurde. Je länger wir uns unterhalten, umso vertrauter wird die Atmosphäre.

Meine Familiengeschichte

Mein Name ist Eva Dombrowski. Ich wurde am 22. Mai 1928 in Wien geboren. Mein Großvater väterlicherseits hieß Farkas Mann. Die Großmutter Josefine war eine geborene Treuhaft. Sie lebten in dem kleinen ungarischen Dorf Boldogköujfalu, wo der Großvater eine Greisslerei besaß und, wie mein Vater erzählte, aus den fünf Büchern Mose, der Torah, unterrichtete.

Es war eine sehr arme Familie, aber die Großmutter las ihren Kindern immer viele Geschichten vor. Mein Vater ging später oft in die Bücherei und brachte immer braun eingepackte Bücher nach Hause. Im Jahre 1886 fuhr meine Großmutter zur Milleniumsausstellung nach Budapest. Das war natürlich ein großes Ereignis. Es wurde erzählt, als sie wieder zu Hause war, soll sie ihren Kindern den neuesten Schlager vorgesungen haben.

Die Großeltern hatten drei Söhne: Adolf, Hermann und meinen Vater, den jüngsten Sohn Jakob, den man aber in der Familie immer nur Jenö nannte. Er wurde am 8. August 1878 in Buldogköujfaly geboren.

Adolf Mann war Stationsvorsteher bei der ungarischen Eisenbahn. Er war verheiratet mit Sarah, Sari genannt, und sie hatte zwei Söhne, Laszlo und Josef. Adolf, später hat er sich Miklos genannt, wurde 1919 entlassen. Er überlebte den Holocaust mit seiner Familie in Ungarn.

Hermann wanderte im Alter von 17 Jahren nach Amerika aus und schrieb viele Briefe an seine Eltern und Geschwister. Er heiratete und hatte zwei Söhne.

Mein Großvater starb 1893, da war mein Vater gerade 15 Jahre alt war.

Die Großmutter verbrachte ihre letzten zwei Lebensjahre bei ihrem Sohn Adolf. Sie war schon alt und konnte schlecht gehen. Sie starb im Jahre 1914.

Die Großeltern mütterlicherseits stammten aus Frauenkirchen, das liegt im Burgenland. Der Großvater hieß Adolf, die Großmutter hieß Netti Topf. Netti war eine geborene Weiss. Ich weiß, dass meine Großmutter viele Geschwister hatte, die ich nicht kannte. Es gab aber eine Schwester, die hieß Sophie.

Irgendwann zogen meine Großeltern nach Wien, in die Taborstraße Nummer 28. Mein Großvater war Händler, aber ich weiß nicht, womit er handelte. Er war ein gläubiger Jude und in seiner Gemeinde sehr geachtet. Die Großeltern hatten sieben Kinder:

Theodor war nicht verheiratet und wurde im Holocaust ermordet.

Eduard war nicht verheiratet und wurde im Holocaust ermordet.

Risa wurde 1882 in Frauenkirchen geboren. Sie lebte bis zu ihrer Hochzeit mit Armin Donner in Wien. Dann zogen sie nach Ersekujvar [Nove Zamky, heute: Slowakei], wo ihr Mann einen Posten als Gutsverwalter hatte. Die Tochter Ilona wurde 1908 und der Sohn Jancsi wurde 1911 geboren.

Ilona lebte bei den Großeltern in Wien, besuchte die Mittelschule und arbeitete bis 1934 in einem Büro. Dann heiratete sie nach Budapest. Jancsi Donner starb 1939 an Tuberkulose. Armin Donner starb vor 1938, Risa Donner wurde deportiert.

Fanny Topf wurde 1884 in Frauenkirchen geboren und war nicht verheiratet. Sie hatte in Wien, in der Johannesgasse, einen Hutsalon. Da sie ihre alte Mutter während des Holocaust nicht allein lassen wollte, blieb sie in Wien und wurde 1942 deportiert und ermordet [Anmerkung: Topf Franziska geboren am 19.11.1883, wurde von Wien am 5.6.1942 nach Izbica deportiert und ermordet. Quelle: DÖW - Datenbank].

Arthur Topf wurde 1889 in Frauenkirchen geboren, war nicht verheiratet und arbeitete in Wien als Vertreter in der Lederbranche. Er lebte in der elterlichen Wohnung, emigrierte während des Holocaust nach Shanghai [China]. Er kam in den 1950er-Jahren nach Wien zurück. Das Klima in Shanghai und die Strapazen der Emigration hatten sein Herz geschädigt, er starb 1962 in Wien.

Gisela Topf wurde ungefähr 1890 in Frauenkirchen geboren. Sie heiratete Hermann Rosenzweig, die Ehe blieb aber kinderlos. Sie besaßen eine Seifenfabrik, die natürlich 1938 arisiert wurde. Auch Gisela und Hermann emigrierten nach Shanghai und kamen in den 1950er-Jahren nach Wien zurück. Sie erhielten nur eine geringe Wiedergutmachung und lebten in einer kleinen Gemeindewohnung. Sie starben Ende der 1950er-Jahre in Wien.

Meine Mutter, Lina Topf, wurde am 9.Januar 1894 in Wien geboren. Sie war die einzige der Geschwister, die in Wien geboren wurde.

Meine Großmutter Netti starb 1942 in Wien im jüdischen Altersheim.

Ich kann mich an meinen Großvater nicht erinnern, denn 1931, ich war drei Jahre alt, übersiedelten wir aus Wien nach Kosice [heute: Slowakei] und 1932, ein Jahr später, starb der Großvater in Wien.

Meine Mutter besuchte die Volksschule, Bürgerschule und eine Handelsschule. Als sie 16 Jahre alt war, arbeitete sie bereits in einem Büro, und mit 18 Jahren heiratete sie meinen Vater.

Mein Vater kam ungefähr im Alter von 20 Jahren nach Wien und war Untermieter in der Wohnung meiner Großeltern. Dadurch lernten sich meine Eltern kennen. Sie heirateten 1912 im 2. Bezirk im Großen Tempel in der Tempelgasse. Ich besitze noch die Hochzeitseinladung meiner Eltern, darauf steht:

Herr und Frau Adolf Topf erbitten sich die Ehre Ihrer Gegenwart zur Trauung Ihrer Tochter Lina mit Herrn Jakob Mann. Frau Josefine Mann erbittet sich die Ehre Ihrer Gegenwart zur Trauung ihres Sohnes Jakob mit Fräulein Lina Topf welche Sonntag den 8. September 1912 um 2 Uhr nachmittags im isr. Tempel, II. Tempelgasse stattfindet. Wien im Dezember 1912 Telegramm Adresse: Restauration Deuches, Wien II. Praterstraße 45

Bis zum I. Weltkrieg arbeitete mein Vater als Handelsvertreter für eine Textilfirma.

  • Meine Kindheit

Am 15. Februar 1914 wurde meine Schwester Lilly geboren. Als meine Schwester 2 ½ Jahre alt war, musste mein Vater in den I. Weltkrieg. Er war in Kaschau, slowakisch Kosice, im 34. Regiment der k.u.k. Armee 1, stationiert. Dort lernte er seinen späteren Geschäftspartner Herrn Heinrich Kreiss kennen; sie wurden Geschäftspartner und es verband sie seitdem eine lebenslange Freundschaft.

Nach Kriegsende beschlossen mein Vater und Herr Kreiss, eine Textilfirma in Kosice zu gründen. Wahrscheinlich waren die Bedingungen damals in Kosice gut. Meine Mutter blieb in Wien und mein Vater pendelte zwischen 1919 und 1931 zwischen Wien und Kosice. Ich wurde am 22. Mai 1928 in Wien geboren. 1931 übersiedelte dann die ganze Familie nach Kosice, wo wir bis zum Jahre 1942 lebten.

Mein Vater kam aus einer armen Familie, aber er und sein Freund, der Herr Kreis, arbeiteten sich hoch, und dann war er ein wohlhabender Mann in der Slowakei. Wir hatten eine schöne Wohnung, ein Kinderfräulein und eine Köchin.

Kosice war eine königliche Stadt. Es gab ein sehr schönes Theater und einen 700 Jahre alten, wunderschöner gotischer Dom. Das Kinderfräulein ging oft mit mir in den Dom. Mich hat alles fasziniert, der Geruch, die Statuen, die Orgel - alles. Seither habe ich eine sehr enge Beziehung zur Gotik.

Jeder hatte seinen Platz. Da war der Herr Apotheker, der Kaufmann und der Kinderarzt. Man ist Eislaufen gegangen und man ist am Nachmittag am Corso spazieren gegangen. Das war so in den kleinen Städten: Am Nachmittag, nach den Hausaufgaben, ging man auf dem Corso spazieren. Da sah man all die anderen und kaufte vielleicht ein Eis. Es war kein aufregendes, aber ein schönes, stabiles Leben.

Ich ging in Kosice vier Jahre in die jüdische Volksschule. Da war ein ganz normaler Volksschulunterricht, aber wir hatten in der Schule natürlich auch Religionsstunden, in denen wir die hebräischen Buchstaben lesen lernten.

Meine Schwester Lilly war 14 Jahre älter als ich. Sie war etwas Besonderes, sehr schön, charmant, intelligent - sie sprach perfekt englisch und französisch. Sie war sehr anziehend und dadurch überall der Mittelpunkt. Sie wurde bewundert und geliebt. Lilly arbeitete im Geschäft unseres Vaters, in der Textilhandlung en gros 'Kreiss und Mann'. 1935, im Alter von 21 Jahren, heiratete Lilly den Rechtsanwalt Dr. Alexander Grosswirth.

Ich war damals sechs Jahre alt. Die Hochzeit fand im Tempel statt, und ich war die Kranzdame. Ich trug ein rosa Taftkleid und war natürlich sehr stolz, denn ich war das einzige Kind der ersten Volksschulklasse, das einen Schwager hatte. Und was noch bedeutender war, ich war eine Schwägerin. Ich gab damit sehr an und sagte immer zu den Kindern: Mein Schwager war hier und mein Schwager war da.

Mein Schwager besaß in Kosice eine Kanzlei und meine Schwester und ihr Ehemann blieben nach der Hochzeit in Kosice. Aber meine Schwester hatte immer Sehnsucht nach Wien oder nach einer Großstadt, trotz der vielen Gesellschaften und des kulturellen Lebens in Kosice. Unser Bekanntenkreis bestand aus bürgerlichen jüdischen Familien.

Meine Eltern und ihre Freunde besuchten sich gegenseitig in den Wohnungen oder sie trafen sich am Abend im Kaffeehaus. Wir Kinder bekamen unsere Geburtstagsjausen, es ging uns gut. Das war eine Welt, die komplett vorbei ist.

An die Sederabende 2 kann ich mich noch gut erinnern. Ich sagte immer das 'Ma nishtana haleila haze' und ich weiß, dass zum Sederabend, wir immer noch irgendjemanden eingeladen hatten. Die Verwandten väterlicherseits lebten in Budapest, die Verwandten mütterlicherseits lebten in Wien. Sie kamen zu Besuch und wir besuchten sie, die Familie pflegte einen engen Kontakt miteinander. Aber zu den anderen hohen Feiertagen 3 wie Rosch Haschana 4 und Jom Kippur 5 war die Familie allein.

Nach vier Jahren Volksschule bestanden meine Eltern darauf, daß ich eine fünfte Volksschulklasse besuche, damit ich perfekt die ungarische Sprache lerne, bevor ich aufs Gymnasium gehe. Ich habe deshalb sehr geweint, aber sie ließen sich nicht umstimmen. Dadurch kam ich erst mit elf Jahren aufs Gymnasium.

Meine Schwester wurde schwanger und 1941 wurde ihre Tochter Julika geboren.

  • Während des Krieges

Im Jahre 1938, nach dem Einmarsch der Deutschen nach Österreich, sagte meine Schwester, die damals 24 Jahre alt war: 'Wir müssen weg aus Kosice, wir müssen weg aus Europa, das wird auch hierher kommen.' Wir lebten im Wohlstand in einem schönen Haus, hatten ein gutgehendes Geschäft und zuerst wurde über sie gelacht: 'Aber geh, aber geh...'

Dann kam Hitler immer näher, und meine Schwester wollte unbedingt weg und leitete alles in die Wege. Sie wollte nach England, aber der Krieg brach aus. Dann wollte sie nach Südamerika, aber ihr Mann konnte sich wegen seiner Mutter nicht so richtig entscheiden. Und als wir erkannten, was auf uns zukommt, war es zu spät.

1942 übersiedelten wir auf Betreiben meiner Schwester nach Budapest. Sie sagte, in einer Großstadt gibt es mehr Möglichkeiten unterzutauchen. Mein Vater hatte das Geschäft im Jahre 1941 schließen müssen, da gab es schon die Judengesetze 6, und mein Schwager war aus der Advokatenkammer entfernt worden.

In Budapest ging ich ins jüdische Gymnasium und integrierte mich schnell. Ich wurde ein Budapester Mädchen. Die Gefahr in Budapest bestand zu dieser Zeit darin, in ein Arbeitslager eingesperrt zu werden. Viele Juden kamen bei verschiedenen Aktionen ums Leben, aber die Deportationen blieben vorerst am Budapester Stadtrand stehen. Ich glaube Horty 7 hatte das bewirkt.

Wir besaßen in Kosice noch das Haus, und meine Schwester und ihr Mann blieben nach unserer Flucht nach Budapest dort gemeldet, weil Lilly dachte, das wäre eine gute Idee. Der Mitbewohner in unserem Haus wollte es aber in seinen Besitz bringen und zeigte sie und ihren Mann als Ghettoflüchtlinge an. Vier Stunden später kam ein Detektiv; meine Schwester und ihre Schwiegermutter wurden verhaftet. Mein Schwager wurde an diesem Tag zum Arbeitsdienst einberufen.

Mein Vater lief von Pontius zu Pilatus und konnte nichts erreichen. Sie wurde zusammen mit ihrem Töchterchen Julika und ihrer Schwiegermutter drei Tage später ins Kosicer Ghetto deportiert. Von dort wurden sie nach Auschwitz ins KZ deportiert und vergast. Meine Schwester war 30 Jahre alt. Mein Schwager überlebte den Krieg.

Meine Eltern und ich hatten Glück. Wir lebten in einem von Raoul Wallenberg 8 geschützten schwedischen Haus in Budapest und überstanden den Krieg. Es war eng, es war kalt, es war schmutzig, es gab wenig zu essen, aber wir haben überlebt.

Nach der Befreiung gingen wir in unsere Wohnung zurück. Meine Eltern sind nie über den Tod meiner Schwester und ihres Enkelkindes Julika hinweg gekommen.

  • Nach dem Krieg

Ich habe dann das Gymnasium fortgesetzt und im Jahre 1947 maturiert. 1949 zogen wir nach Wien. Meine Eltern waren in Wien Mitglieder in der jüdischen Kultusgemeinde. Ich wusste sofort, in Wien werde ich nicht bleiben.

Zuerst wollte ich eigentlich nach Israel, dann dachte ich aber, dass ich doch von der Welt noch nichts gesehen habe und schrieb an Verwandte in England, und sie schickten mir ein sogenanntes 'Domestic Permit'. Ich wurde de jure bei ihnen Hausangestellte, damit ich einreisen konnte.

Die ersten Monate war ich in Birmingham [England], wo eine liebe Cousine meiner Mutter mit ihrer Familie lebte, zu der ich bis heute eine sehr enge Beziehung habe. Aber ich wollte unbedingt nach London und begann in London mit einer Krankenschwesternausbildung, die ich mit dem Diplom abgeschlossen habe.

Danach absolvierte ich sechs Monate den ersten Teil der Hebammenausbildung, und dann war ich acht Monate im Operationssaal. Das alles fand in drei verschiedenen Krankenhäusern statt. Ich lebte sehr gern in London, wollte dann aber doch nach Israel, ich weiß selber nicht richtig warum.

Zuerst fuhr ich aber nach Wien, um dann weiter nach Israel zu fahren, aber mein Vater war sehr krank. Ich konnte deshalb nicht so einfach wegfahren. Zuerst wollte nach England zurück, aber ich blieb in Wien und arbeitete als Krankenschwester im Unfallkrankenhaus in der Webergasse und drei Monate im Hanusch Krankenhaus.

In der Zwischenzeit hatte ich meinen Mann kennen gelernt und blieb in Wien, was nicht meine Absicht war. Entweder wollte ich nach Israel oder zurück nach England. Aber bevor ich mich versehen hatte, war ich plötzlich verheiratet und blieb hier, und da picke ich bis heute.

Mein Mann Menasche wurde 1915 in Tarnow [Polen] geboren. Er hatte in Polen das Gymnasium besucht und eine Textilhochschule abgeschlossen. Das erste Jahr seiner Ausbildung als Textilingenieur verbrachte er in Brüssel, das zweite und dritte Jahr in Bielsko [Polen], wo er in einer großen Weberei, die Brühl hieß, Arbeit fand.

Einige Zeit arbeitete er auch auf russischem Gebiet in einer Textilfabrik. Er erzählte immer, sein Chef hätte ihn sehr geschätzt und oft gesagt, nach dem Krieg würde er ihn nach Moskau als Dozent mitnehmen wollen. Daraus wurde Gott sei Dank nichts. Die Familie meines Mannes hielt sehr stark zusammen. Seine Eltern, Lipka und Chaim Keller, der Bruder Henryk und die Schwester Ruth, die noch heute in Israel lebt, überlebten gemeinsam den Krieg in Polen.

Nach dem Krieg kamen sie nach Wien und waren die einzige aus Polen stammende Familie, die komplett überlebt hatte. Mein Schwiegervater war ein ganz besonderer Mensch - ein lieber alter Herr, meine Schwiegermutter war eine weise Frau. Sie kam aus einer polnischen Kleinstadt, war ohne große formale Bildung, aber sie war eine wirkliche Dame - und so sah sie auch aus.

Sie sprach nicht viel, aber sie sah und wusste alles - und sie hielt die Familie zusammen. Als der Krieg begann, war mein Mann 24 Jahre alt. Die Familie überlebte den Krieg mit falschen Papieren. Die falschen Papiere meines Mannes lauteten unter anderem auf die Namen Jan Bojan und Mieczyslaw Dobrowski.

Nachdem die Deutschen in Polen einmarschiert waren, lebte meine Schwiegermutter eine Zeitlang mit den Papieren einer polnischen Baronin, solche Papiere kann man nicht jedem verpassen. Das letzte Jahr vor Kriegsende verbrachten sie gemeinsam bei einer polnischen Bauernfamilie auf dem Dachboden. Zu dieser Familie haben wir bis heute Kontakt, und wir unterstützen sie finanziell. Wir haben sie in der Gedenkstätte Yad Vashem in Israel als Gerechte eintragen lassen; das waren wirklich Heilige. Sie hatten am Dachboden die ganze Familie und noch zwei Juden versteckt. Wenn sie verraten worden wären, wären sie auch alle ermordet worden.

In der Familie meines Mannes war die Religiosität noch wirklich vorhanden. Nicht, dass sie so viel taten, aber dort waren ein Sederabend und Rosch Haschana noch echt, das fühlte man einfach. Nach dem Tod der Schwiegereltern übernahmen mein Mann und ich, mein Mann war der älteste der Brüder, die Sederabende. Es war noch immer der Rahmen da, aber es waren doch eher die Äußerlichkeiten, es war nicht mehr so wie vorher.

Mein Mann kam 1945 nach Wien. Er behielt den Namen Mieczyslaw Dombrowski, wurde aber von allen, die ihn aus Polen kannten Janek genannt, aber Janek war auch ein falscher Name.

Im Oktober 1955 heirateten mein Mann und ich standesamtlich und im Seitenstetten Tempel [Anm.: Wiener Stadttempel in der Seitenstettengasse]. Ich trug ein weißes Kleid, es war eine schöne Hochzeit, und nach der Zeremonie gingen wir zum Dinner ins Palais Auersperg.

Meine Mutter und meine Schwiegereltern waren dabei, aber mein Vater erlebte es leider nicht mehr. Er starb am 27. Juli 1955 und wurde auf dem jüdischen Friedhof begraben. Das Vermögen war verloren gegangen, Geld war überhaupt nicht mehr da.

Meine Tochter Lilian wurde am 30. August 1957, mein Sohn Thomas am 29. Juni 1960 in Wien geboren.

Irgendwie verspürte ich immer den Drang in mir, noch irgendetwas zu studieren. Aber durch meine Kinder bin ich doch zu Hause geblieben, das hat mich aber nie wirklich gefreut. Ich arbeitete sogar einmal drei Monate bei IBM als Telefonistin, als ich es zu Hause nicht aushielt. Später arbeitete ich sieben Jahre lang im Büro meines Mannes, wir besaßen eine Weberei und Spinnerei.

Zu uns kamen eigentlich immer sehr viele Gäste aus Budapest, Polen, Israel, Amerika und England - es war immer viel los. Unsere Freunde waren jüdisch und nicht jüdisch. Wenn wir schon so ein zerstreutes Volk sind, sollten wir diese verwandtschaftlichen und freundschaftlichen Beziehungen pflegen.

Meine Kinder gingen in den jüdischen Religionsunterricht und interessierten sich immer für das Judentum. Sie interessierten sich auch für die Geschichte ihres Vaters, und er erzählte sie ihnen immer wieder. Sie wußten schon seit frühester Jugend über den Holocaust und auch über die Geschichte meiner Schwester Bescheid.

Da Ruth, die Schwester meines Mannes, im Jahre 1948 nach Israel ging, waren wir öfter in Israel auf Besuch und die Verwandtschaft aus Israel kam zu uns. Unser jüdisches Bewußtsein und der Staat Israel waren immer in uns.

Meine Tochter besuchte das Akademische Gymnasium in Wien und beendete die Wirtschaftsuniversität mit dem Magister. Nachdem sie das Studium beendet hatte, arbeitete sie kurze Zeit in Paris und ging dann nach Israel. Zuerst arbeitete sie in einer Bank, danach arbeitete sie im Büro einer pharmazeutischen Fabrik.

Dort lernte sie ihren zukünftigen Mann, einen Sabre [Anm.: in Israel Geborenen], kennen, und im Februar 1988 heirateten sie. Ich habe meinen Schwiegersohn sehr gern. Er ist Kinderarzt mit der Fachrichtung Kinderleukämie und Krebs, hat noch eine weitere Facharztausbildung und ist auch in der Grundlagenforschung tätig.

Sie haben zwei Kinder: Maya wurde 1990 und Jonathan wurde 1993 geboren. Von 1993 bis 2000 lebten meine Tochter und ihre Familie in Amerika. In Amerika arbeitete ihr Mann im National Institute of Health, jetzt arbeitet er in Israel in Tel Haschomer. Meine Tochter sagt immer, in Israel wird nie ein ruhiges Leben möglich sein, und sie wäre eigentlich gern in Amerika geblieben. Es ging ihnen dort sehr gut. Es waren verschiedene Gründe, warum sie beschlossen, wieder nach Israel zu gehen. Im August 2000 kamen sie zurück, kurz danach begann die zweite Intifada [Anm.: Aufstand der Palästinenser gegen Israel], ich glaube, sie hatten den letzten Koffer noch nicht ausgepackt. Weiß Gott wie sie sich entschieden hätten, wenn das ein Jahr früher geschehen wäre. Aber so ist es. Sie leben jetzt in Raanana, haben ein hübsches Haus, und die Kinder gehen in die Schule. Sie leben ihr alltägliches Leben und hoffen, dass es besser wird.

Mein Sohn Thomas besuchte auch das Akademische Gymnasium und studierte in Wien Musikwissenschaft und Judaistik. Er ist Doktor der Philosophie. Nach dem Studium arbeitete er einige Zeit als Musikkritiker beim Kurier, und seit 1989 ist er in der Computerbranche tätig.

Sowohl mein Sohn als auch meine Tochter waren die einzigen Juden in ihrer Klasse. Sie hatten einen ausschließlich christlichen Freundeskreis. Die guten Freundinnen meiner Tochter, die sie sofort trifft, wenn sie nach Wien kommt, sie sind in brieflichem und telephonischen Kontakt, auch mit mir. Mein Sohn hat zwei Freundeskreise, einen sehr großen jüdischen, aber er kommt auch regelmäßig mit seinen alten Schulkollegen zusammen.

Mein Sohn heiratete Eva Suschny, eine Jüdin. Sie ist Ärztin in Wien. Er hat drei Kinder, die in einem jüdischen Haushalt aufwachsen. Die beiden großen Mädchen gehen in den Haschomer Hatzair 9. Ich feiere mit der Familie bei mir den Sederabend und Rosch Haschana, auch die Schwiegereltern meines Sohnes sind dabei. Die Familie ist zusammen und den Kindern gefällt es.

Am 2. August 1988 starb meine Mutter in Wien. Sie wurde auf dem jüdischen Friedhof beerdigt.

Mein Mann starb im März 1989. Das war besonders tragisch, weil er zwei Monate vor der Geburt des ersten Enkelkindes gestorben ist. Das ist etwas, daß ich nicht überwinden kann. So manches andere auch nicht, aber das war dermaßen ungerecht!

Er wußte, daß unsere Enkeltochter im Kommen ist, die fünf Enkelkinder sind nacheinander gekommen. Mein Mann war ein ganz besonders guter Sohn, er hat sehr viel Gutes im Leben geleistet, denn er hat unter anderem auch sehr vielen Leuten so geholfen, dass niemand davon wusste.

Er hat das immer ganz diskret gemacht. Vieles habe auch ich erst durch Kondolenzbriefe erfahren. Auch während des Krieges hat er sehr vielen Leuten geholfen und kein Aufhebens darum gemacht. Er hätte wirklich diese Enkelkinder verdient.

Ich habe in Österreich keine antisemitischen Erfahrungen, aber ich weiß, dass der Antisemitismus unterschwellig da ist. Aber die wenigsten sind so eingestellt, dass sie einen wirklich umbringen wollen, und darum glaube ich nicht, dass mir als Jüdin in Österreich ernsthaft etwas passieren wird.

Mit einer Sache habe ich mich wirklich in meinem Leben abgefunden, das ist für mich a fact of life: Man hat uns Juden nirgends gern, hier nicht und woanders auch nicht. Das akzeptiere ich so, wie ich Tag und Nacht akzeptiere.

Ich persönlich empfinde eine Wurzellosigkeit. Ohne richtige Identität zu sein ist schwer, aber so ist es. Ich bin mit der ungarischen Sprache und Literatur sehr verwachsen; Lyrik bedeutet für mich bis heute ein ungarisches Gedicht. Ich fahre oft nach Budapest. Ich bin in der weitläufigen Habsburger Monarchie aufgewachsen, und ich lebe jetzt seit vielen Jahren in Wien - das prägt mich.

Aber ich bin keine Österreicherin, und ich bin keine Ungarin. Ich liebe England, ich habe fünf Jahre lang dort gelebt, und bin immer gern nach England gefahren - aber ich bin keine Engländerin. Ich weiß nicht, ob meine Kinder eine Heimat haben.

Ich kann mir vorstellen, wenn ich nach Amerika oder nach Kanada gegangen wäre und dort Kinder bekommen hätte, american girls and boys, canadian girls and boys, wäre das wahrscheinlich anders gewesen. Dann hätte es geheißen: Papa und Mama kommen aus Europa, aber das wäre sehr weit weg gewesen.

Zu Rosch Haschana gehe ich in den Tempel und höre mir den Shofar an. Das sind die Melodien meiner Kindheit, das 'Dazugehören' zum alten Klub.

  • Glossar:

1 k. u. k.: steht für ,kaiserlich und königlich' und ist die allgemein übliche Bezeichnung für staatliche Einrichtungen der österreichisch- ungarischen Monarchie, z.B.: k.u.k. Armee; k.u.k. Zoll; k.u.k. Hoflieferant....

2 Seder [hebr.: Ordnung]: wird als Kurzbezeichnung für den Sederabend verwendet. Der Sederabend ist der Auftakt des Pessach-Festes. An ihm wird im Kreis der Familie (oder der Gemeinde) des Auszugs aus Ägypten gedacht.

3 [Die] Hohen Feiertage: Rosch Haschana [Neujahrsfest] und Jom Kippur [Versöhnungstag]

4 Rosch Haschana [heb.: Kopf des Jahres]: das jüdische Neujahrsfest. Rosch Haschana fällt nach dem jüdischen Kalender auf den 1. Tischri, der nach dem gregorianischen Kalender auf Ende September oder in die erste Hälfte des Oktobers fällt.

5 Jom Kippur: der jüdische Versöhnungstag, der wichtigste Festtag im Judentum. Im Mittelpunkt stehen Reue und Versöhnung. Essen, Trinken, Baden, Körperpflege, das Tragen von Leder und sexuelle Beziehungen sind an diesem Tag verboten.

6 Judengesetze: Bezeichnung für Gesetze, deren Ziel die Benachteiligung von Juden ist. Herausragende Bedeutung nehmen dabei die im Dritten Reich erlassenen Nürnberger Gesetze ein.

7 Horthy, Miklós [1868-1957] ungarischer Politiker und Admiral. Beseitigte 1919 die ungarische Räterepublik, 1920-44 Reichsverweser von Ungarn. Wurde nach Bemühungen um einen Sonderfrieden 1944 von den Deutschen gestürzt und inhaftiert, nach dem Krieg Exil in Portugal

8 Wallenberg, Raoul [1912-?]: 1944 schickte die schwedische Regierung Wallenberg nach Budapest, um Maßnahmen zur Rettung der dortigen Juden anzustreben. Wallenberg verteilte Schutzpässe und organisierte über 30 Schutzhäuser. Diese bildeten zusammen mit denen Spaniens u.a. ein internationales Ghetto, in dem sich etwa 30.000 Menschen befanden.

Zusammen mit anderen Diplomaten gelang es Wallenberg, diese Juden vor dem sicheren Tod zu bewahren. Wallenberg wurde 1945 von den Sowjets gefangengenommen und nach Moskau verschleppt. Laut Angaben der Sowjetunion ist Wallenberg 1947 in einem Moskauer Gefängnis gestorben

9 Haschomer Hatzair [hebr.: 'Der junge Wächter']: Erste Zionistische Jugendorganisation, entstand 1916 in Wien durch den Zusammenschluss von zwei jüdischen Jugendverbänden. Hauptziel war die Auswanderung nach Palästina und die Gründung von Kibbutzim. Aus den in Palästina aktiven Gruppen entstand 1936 die Sozialistische Liga, die sich 1948 mit der Achdut Haawoda zur Mapam [Vereinigte Arbeiterpartei] Zusammenschloss.